Ob das den Krieg beendet, ist fraglich, denn viele Kräfte im Land profitieren von der Gewalt.
Nachmittags sitzt Laila Haidari, die Eigentümerin des Restaurants Taj Begum in der Hauptstadt Kabul, oft mit Zigarette und Handy am Tisch gleich neben dem Eingang. Sie scrollt durch ihren Twitteraccount, um sich über die aktuellen Ereignisse im Land zu informieren, während sie das überwiegend männliche Personal des Restaurants managt. Daneben besitzt und leitet sie noch ein Schuhgeschäft. Haidari fährt ein billiges Auto, das sie für die Verwaltung des Mother Camps für Frauen und Männer braucht; hier erhalten drogenabhängige Frauen und Männer eine Behandlung.
Da sie fürchtete, ihren Lebensstil nicht aufrechterhalten zu können, hat die Unternehmerin und Frauenrechtsaktivistin einen weiteren Ehrenamtsposten angenommen: nämlich den der Frauenkoordinatorin bei der Loya Jirga, Afghanistans traditioneller Großer Ratsversammlung. Die afghanische Regierung hatte die Versammlung Ende April einberufen, um mit den Teilnehmenden über einen möglichen Deal mit den Taliban zu beraten. „Das ist kein Friedensprozess“, sagt Haidari, eine alleinerziehende Mutter. „Hier werden Frauen ausgeschaltet. Es ist ein Krieg gegen Frauen.“
Angestoßen wurde der Friedensprozess bei den ersten direkten Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban im Juli 2018. Darauf folgten intensive Gespräche zwischen dem amerikanischen Sonderbeauftragten für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, und dem Vertreter der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai. Die Gespräche weckten Hoffnung auf einen Friedensschluss mit den Taliban, doch den Krieg in Afghanistan werden die langwierigen Friedensgespräche wohl nicht so schnell beenden.
Keine Sieger, viel Blutvergießen
Rund 17.000 NATO-Soldaten sind derzeit in Afghanistan, um afghanische Sicherheitskräfte auszubilden und zu unterstützen. Die USA haben noch etwa 14.000 Mann im Land stationiert, hauptsächlich zur Bekämpfung des Islamischen Staates. Die US-Soldaten greifen die Taliban nicht mehr am Boden an, sondern nur noch in ihren Hochburgen aus der Luft.
„Gewinnen können den Krieg weder die Taliban noch die afghanische Regierung; Verhandlungen sind der bestmögliche Weg, das Blutvergießen zu beenden“, sagt der pensionierte General Atiqullah Amarkhail.
Zwei amerikanische Befehlshaber haben unabhängig voneinander eingeräumt, der Krieg in Afghanistan sei festgefahren. Nachdem US-Präsident Donald Trump zunächst eine Strategie für Südasien präsentiert hatte, in deren Fokus erneut die Vernichtung der Taliban durch Luftangriffe stand, wies er im Juli 2018 amerikanische Diplomaten an, das direkte Gespräch mit den Taliban zu suchen.
USA und Taliban verhandeln über Truppenabzug
„Die Amerikaner haben den Friedensprozess angestoßen, um sich als Sieger zurückzuziehen“, sagt Daoud Naji, ein politischer Analyst aus Kabul. „Außerdem will Präsident Trump die Kosten reduzieren und US-Truppen nach Hause holen“, wie er es den amerikanischen Wählern versprochen hat.
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Die 6. Verhandlungsrunde habe mit Fortschritten bei dem Entwurf eines Abkommens geendet, twitterte Muhammad Suhail Shaheen, der Sprecher des Talibanbüros in Doha. „Insgesamt war diese Verhandlungsrunde positiv und konstruktiv. Beide Seiten haben einander aufmerksam und geduldig zugehört“, ergänzte er.
Frühlingsoffensive gegen afghanische Soldaten
Die Taliban bestehen auf dem kompletten Abzug aller ausländischen Truppen aus dem Land; die USA verlangen von den Islamisten, dafür zu sorgen, dass Terrororganisationen einschließlich IS und Al Qaida nicht mehr von Afghanistan aus operieren.
Die beiden anderen bislang noch ungelösten Probleme sind direkte Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung sowie ein umfassender Waffenstillstand im ganzen Land. Im Dezember 2018 lehnten die Taliban es ab, sich mit Vertretern der afghanischen Regierung zu treffen, die nebenan in einem Hotel in der katarischen Hauptstadt Doha warteten. Inzwischen hat die Islamistengruppe eine Frühlingsoffensive gegen afghanische Soldaten gestartet. Am 5. Mai stürmten mindestens sieben Talibankämpfer in Polizeiuniform das Hauptquartier der Sicherheitskräfte in Pol-e Chomri, der Hauptstadt der Provinz Baghlan. Bei dem Angriff wurden 13 afghanische Polizisten getötet und rund 50 Menschen verletzt, 30 davon Zivilisten.
Taliban kontrollieren die Hälfte des Staatsgebietes
„Der Friedensprozess ist ein Erfolg für die Taliban, nicht für die Regierung“, sagt Javid Faisal, ein unabhängiger politischer Aktivist aus der ehemaligen Talibanhochburg Kandahar. Nach Ansicht Faisals haben die Gespräche zwischen Amerika und den Taliban die Islamistengruppe legitimiert und ihr eine internationale Bühne geboten.
Rund die Hälfte des Staatsgebiets wird von aufständischen Taliban kontrolliert oder ist umkämpft. Während die Islamisten im Februar mit den USA verhandelten, verübten sie einen Anschlag auf einen Stützpunkt des afghanischen Geheimdienstes in der Provinz Wardak nahe der Hauptstadt Kabul, bei dem fast 150 Sicherheitskräfte getötet wurden. In Westafghanistan vernichtete die Gruppe eine ganze Kompanie, indem sie rund 150 afghanische Soldaten tötete oder gefangen nahm. In weiten Teilen des Landes verüben die Taliban Anschläge in großem Maßstab.
Kein Frieden ohne regionalen Konsens
„Auf dem Schlachtfeld sind die Taliban im Vorteil“, sagt der Militärexperte General Javid Kohistani. „Ihre Macht ist in der Gesellschaft verwurzelt und sie genießen Unterstützung aus dem Ausland, vor allem aus Pakistan.“ Kohistani erklärt, der Krieg in Afghanistan sei im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg, in dem verschiedene Fraktionen im Land für die Interessen von Pakistan, Iran, Indien, Russland und China kämpften. Der Politikexperte Daoud Naji sieht es ähnlich: „Die USA müssen sich mit Belangen der Russen, Chinesen, Iraner, Inder, der Saudis und der Pakistani befassen. Ohne regionalen Konsens über einen Frieden in Afghanistan wird es schwer sein, das Land zu befrieden.“
Khalilzad besuchte die Regionalmächte zu Gesprächen über den afghanischen Friedensprozess und nahm im April 2019 in Moskau an einem Treffen zwischen den USA, Russland und China teil. Das Dreiertreffen endete mit einer Vereinbarung über acht Grundsätze, darunter ein „verantwortungsvoller“ Abzug von US-Truppen aus dem Land.
Zu Khalilzads Reisen gehörten auch Treffen mit hochrangigen Beamten aus Indien, Pakistan, China und den Golfstaaten, bei denen es immer um Frieden in Afghanistan ging. Ein Nachbarstaat blieb jedoch außen vor: Iran. Die jüngste Verschlechterung des amerikanisch-iranischen Verhältnisses dürfte sich nachteilig auf die Friedensaussichten auswirken, denn der Iran ließ öffentlich verlauten, das Land habe „diplomatische Beziehungen zu den Taliban“ aufgenommen.
Afghanische Politiker streiten über Umgang mit Taliban
Fehlender regionaler Konsens über einen Frieden in Afghanistan ist nicht das einzige Hindernis; auch afghanische Politiker in Kabul sind sich nicht einig, ob sie mit den Taliban Frieden schließen sollen. Mit Blick auf die für September 2019 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen nehmen die Friedensverhandlungen Fahrt auf, und Politiker nutzen die Friedensgespräche für den Wahlkampf.
Anfang Februar dieses Jahres nahmen 40 Politiker, darunter auch Präsidentschaftskandidaten und der frühere Präsident Hamid Karzai, an einem Treffen mit den Taliban in Moskau teil. Die afghanische Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani Ahmadzai kritisierte das. „Viele der Politiker haben ideologische Schnittmengen mit den Taliban“, sagt Javid Faisal. „Viele andere tun alles, was in ihrer Macht steht, um Präsident Ashraf Ghani Ahmadzai zu stürzen.“
Frauen bleiben bei den Verhandlungen außen vor
Bei der traditionellen Loya Jirga Ende April sollte eine Einigung über die Rahmenbedingungen eines möglichen Friedensabkommens mit den Taliban erzielt werden. Präsidentschaftskandidaten und wichtige Oppositionspolitiker boykottierten jedoch die Versammlung, die sie als „Präsidentschaftswahlkampf von Ashraf Ghani unter Verwendung von Steuergeldern“ betrachteten. „Zurzeit scheint es eher um die Verteilung der Macht als um Frieden zu gehen“, sagt Orzala Ashraf Nemat, Leiterin der Afghanistan Research and Evaluation Unit, eines Thinktanks mit Sitz in Kabul. Sie fordert Regierung und Politiker auf, sich zusammenzusetzen und eine Einigung über Grundsätzliches zu erzielen. Dazu gehört für sie auch die Rolle der Frau, die für ihr Empfinden bisher nur symbolisch war. „Politiker laden Frauen nie zu Gesprächen mit den Taliban oder zu Treffen zwischen afghanischen Politikern in Kabul ein. Die Verhandlungen werden durchweg von Männern geführt“, sagt sie. Viele Frauen einschließlich Laila Haidari, die Frauenkoordinatorin bei der Loya Jirga, fürchten, Politiker könnten einen Deal mit den Taliban aushandeln, ohne sich um ihre Belange zu kümmern. Die Islamistengruppe hat erklärt, sie werde die Rechte der Frauen gemäß der islamischen Scharia achten.
Während ihrer Herrschaft über Afghanistan von 1996 bis 2001 hatten die Taliban strenge Scharia-Regeln eingeführt, die Frauen von Bildung und Erwerbsarbeit außer Haus ausschlossen. Ohne einen männlichen Verwandten durften sie sich nicht außerhalb ihrer vier Wände aufhalten. Ein aktueller Bericht aus von den Taliban kontrollierten Gebieten legt nahe, dass dort nach wie vor die Scharia gilt. Einen tödlichen Anschlag Anfang Mai auf den Hauptsitz der von den USA finanzierten Hilfsorganisation Counterpart International in Kabul etwa begründeten die Islamisten mit der „Vermischung“ der dort beschäftigten Frauen und Männer.
Frauenrechte wurden gestärkt
Nach dem Sturz der Taliban durch die US-geführte Koalition im Jahr 2001 gelang es afghanischen Frauen, wesentliche Rechte geltend zu machen, darunter die auf Bildung und Erwerbstätigkeit außer Haus. Zudem drängten sie das Parlament, ein Gesetz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen zu verabschieden. Inzwischen gehen in Afghanistan sehr viele Mädchen zur Schule und zur Universität. Frauen arbeiten außer Haus und verdienen den Lebensunterhalt für ihre Familien.
Orzala Ashraf Nemat von der Afghanistan Research and Evaluation Unit, die während der Taliban-Herrschaft in Kabul heimlich Alphabetisierungskurse für Frauen gab, betont, dass Frauenrechte in der Verfassung verankert sind und von der afghanischen Gesellschaft 18 Jahre lang geachtet wurden. Sie sagt, Frauen seien zwar für ein Friedensabkommen mit den Taliban, wollten aber gleichzeitig ihre Rechte behalten. Allerdings erkennen die Islamisten die Verfassung nicht an, so dass Veränderungen daran nach einem Friedensschluss unausweichlich erscheinen.
„Wir haben es mit einer Ideologie zu tun, zu deren Grundsätzen die Beseitigung von Frauen gehört und die sich nicht ändern wird“, sagt Haidari unter Verweis auf die Einstellungen der Taliban. „Sie kämpfen und sprengen sich selbst in die Luft. Und wenn sie sich um ihrer Ideologie willen umbringen, dann töten sie ohne weiteres auch Frauen.“
Viele zivile Opfer
Auch zivile Opfer des Krieges bleiben bei den Friedensverhandlungen ungehört. „Man kann keinen Frieden herbeiführen, ohne die Wunden der Opfer zu heilen“, sagt Hadi Marifat, Leiter des Afghanischen Zentrums für Erinnerung und Dialog. „Die Ansprüche der Opfer müssen im Mittelpunkt jeglicher Friedensverhandlungen stehen.“
Nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wies das Jahr 2018 mit 3804 getöteten und 7189 verletzten Personen die höchsten Verluste innerhalb der Zivilbevölkerung in den vergangenen neun Jahren auf. Von diesen zivilen Opfern schrieb UNAMA 63 Prozent aufständischen Gruppen zu, darunter Taliban und IS, und 24 Prozent afghanischen und amerikanischen Streitkräften. Im ersten Viertel des Jahres 2019 dokumentierte UNAMA 581 tote und 1192 verletzte Zivilisten; in dieser Zeit verursachten regierungsfreundliche Truppen unter anderem durch Luftangriffe mehr zivile Opfer als die Aufständischen.
Beste Bedingungen für Drogenhändler
Interessenvertretungen, darunter auch die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, fordern dafür eine öffentliche Entschuldigung. Außerdem verlangen sie Entschädigungszahlungen an die Familien und die Verfolgung der für die Opfer Verantwortlichen. „Wenn man die Ansprüche einer großen Bevölkerungsgruppe ignoriert, ist Frieden sinnlos“, sagt Hadi Marifat. „Im Machtbereich der Taliban, wie auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, wünschen die allermeisten Menschen sich Frieden“, sagt der Militärexperte und frühere Mitarbeiter des afghanischen Geheimdienstes Kohistani. „Innerhalb der Regierung wie auch der Taliban gibt es aber Leute, die glauben, dass Frieden und Sicherheit ihren eigenen Interessen zuwiderlaufen.“
Drogenhändlern bietet die chronische Gewalt in Afghanistan beste Bedingungen für ihr Geschäft mit Opium. Die Händler sind nicht gewillt, auf diesen einträglichen Handel mit einem Volumen von 200 Millionen US-Dollar im Jahr zu verzichten. Sowohl die Taliban als auch die Regierung haben Verbindungen zu den Drogenhändlern.
Talibankämpfer schließen sich dem Islamischen Staat an
Eine weitere wohlorganisierte und aktive Gruppe, die keinen Frieden im Sinn hat, ist der Islamische Staat. Seit dem Jahr 2014 sind die Terroristen im Land und kontrollieren vor allem Gebiete im Osten Afghanistans. Während die Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban Fahrt aufnehmen, deuten Berichte darauf hin, dass die ersten Talibankämpfer sich bereits dem IS in der Provinz Kunar anschließen.
Am 20. April verübte der IS einen großen Anschlag auf das Telekommunikationsministerium im Zentrum von Kabul. Vier IS-Kämpfer lieferten sich fünf Stunden lang Feuergefechte mit afghanischen Sicherheitskräften und legten für einen halben Tag die Hauptstadt lahm. Der Angriff forderte 18 Menschenleben.
Die Gespräche zwischen den USA und den Taliban und die Aussicht auf ein Friedensabkommen haben die Hoffnung geweckt, dass die Gewalt im Land zumindest abnehmen könnte. Unzählige afghanische Familien wurden durch das chronische Elend von 40 Jahren Krieg zerrüttet – vor allem während der vergangenen 18 Jahre.
Vor drei Jahren musste Wajibullah, der von Geburt an mit Schießereien zwischen Taliban und Regierung gelebt hatte, seine Heimat in der Provinz Laghman im Osten Afghanistans verlassen. „Wir konnten Menschen nicht ins Krankenhaus bringen“, erinnert sich der 18-Jährige, denn in seinem Dorf hatte eine nächtliche Ausgangssperre geherrscht. Er schaffte es, ein Lehmhaus in Kabul zu bauen, wo er nun mit seinen 14 Familienmitgliedern lebt und jeden Monat 15 US-Dollar Pacht bezahlt. Voller Ungeduld erwartet der junge Mann den Frieden: „Ich bin zuversichtlich, dass wir nach Laghman zurückkehren werden.“
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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