Die Einstellungen deutscher Entwicklungspolitiker zur Arbeit multilateraler Organisationen gleichen einer Achterbahnfahrt: Die einen preisen die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen, die Europäische Union oder die regionalen Entwicklungsbanken als unverzichtbar zur Lösung globaler Aufgaben. Die anderen betrachten sie argwöhnisch als bürokratische Monster und wollen deutsches Steuergeld lieber für Entwicklungshilfe „Made in Germany“ reservieren statt für das UN-Entwicklungsprogramm oder die EU-Kommission.
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) etwa hat sich immer für eine gut ausgestattete multilaterale Entwicklungszusammenarbeit stark gemacht. Aber ausgerechnet während ihrer Amtszeit als Ministerin beschloss der Bundestag im Jahr 2006, den Anteil für multilaterale Organisationen an der gesamten deutschen Entwicklungsfinanzierung (ODA) bei 30 Prozent zu deckeln. Das Parlament wollte sicherstellen, dass das meiste Geld weiterhin in die direkte – bilaterale – Zusammenarbeit mit den Ländern des Südens fließt.
Wieczorek-Zeuls Nachfolger Dirk Niebel kam das nur gelegen. Der FDP-Mann hat während seiner Zeit an der Spitze des Entwicklungsministeriums (BMZ) von 2009 bis 2013 stets die bilaterale Zusammenarbeit bevorzugt: Das erhöhe die Sichtbarkeit deutscher Hilfe und nutze zudem der deutschen Wirtschaft, lautete sein Argument. Niebel hat sich seinerzeit sogar dafür eingesetzt, dass aus Deutschland finanzierte Getreidesäcke, die das UN-Welternährungsprogramm als Nothilfe verteilt, mit der deutschen Fahne bedruckt werden.
Hin und Her gegenüber der multilateralen Zusammenarbeit
Mit Antritt der schwarz-roten Koalition im Jahr 2013 wurde der 30-Prozent-Beschluss des Bundestages wieder aufgehoben, doch als echter Fan multilateraler Zusammenarbeit hat sich der amtierende BMZ-Chef, Gerd Müller (CSU), bisher nicht hervorgetan. Jetzt macht sich ausgerechnet ein Parteikollege von Dirk Niebel für die Vereinten Nationen und die Entwicklungsbanken stark: Die multilaterale Zusammenarbeit müsse „Vorrang bekommen vor dem Klein-Klein bilateraler Programme“, sagte der FDP-Entwicklungspolitiker Christoph Hoffmann vor einem Jahr im Interview mit „welt-sichten“. In diesem Punkt ist sich der Liberale sogar mit einem Grünen einig, denn auch deren Fraktionssprecher für Entwicklungspolitik, Uwe Kekeritz, findet: „Globale Probleme wie die Klimakrise und zunehmende Ungleichheit lösen wir am besten international koordiniert, also multilateral.“
Das Hin und Her gegenüber der multilateralen Zusammenarbeit ist keine deutsche Spezialität, in vielen anderen Geberländern ist es ähnlich. Und es ist so alt wie die Entwicklungszusammenarbeit selbst. Vor diesem Hintergrund ist die Finanzierung des multilateralen Entwicklungssystems insgesamt und langfristig betrachtet bemerkenswert stabil: In den vergangenen zwanzig Jahren haben die Geberländer der OECD zusammen immer rund ein Drittel ihrer Entwicklungshilfe an multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Entwicklungsbanken einschließlich der Weltbank oder an jüngere Institutionen wie den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) gegeben; allerdings entfällt davon seit gut zehn Jahren ein wachsender Anteil auf zweckgebundene Beiträge außerhalb des Kernbudgets der Organisationen (siehe Grafik).
Vor allem kleinere oder noch junge Geber wie Österreich oder die Slowakei, deren eigene Entwicklungsagenturen nicht so stark sind wie etwa die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die KfW Entwicklungsbank, reichen einen großen Teil ihrer Hilfe an multilaterale Organisationen weiter: In Österreich und in der Schweiz waren es im Jahr 2016 knapp 50 Prozent, in der Slowakei sogar mehr als 80 Prozent.
Für Stephan Klingebiel vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik geht es deshalb nicht um die Frage, ob multilaterale Entwicklungszusammenarbeit besser oder schlechter ist als bilaterale. Für Klingebiel ist entscheidend, dass beide ein sinnvolles und möglichst effektives Ganzes ergeben. Genau daran hapert es, und die Ursache dafür liegt in drei Baustellen.
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Für eigene Zwecke genutzt
Die Vielzahl neuer Organisationen ist nicht vom Himmel gefallen. Die Geber haben sie bewusst geschaffen und sie ist deshalb Ausdruck eines zweiten Trends: Die Geberländer nutzen multilaterale Organisationen seit einigen Jahren verstärkt für ihre eigenen Zwecke. Das tun sie zum einen über diese maßgeschneiderten Fonds, zum anderen indem sie multilaterale Organisationen zunehmend mit zweckgebundenen Mitteln unterstützen. Dieses Geld steht der Organisation dann nicht zur freien Verfügung, sondern muss etwa in einem bestimmten Land oder gar für ein bestimmtes Projekt ausgegeben werden.
Diese sogenannte non-core-Finanzierung – also Finanzierung außerhalb des Kernbudgets – hatte in den vergangenen Jahren den größten Anteil am Wachstum der Beiträge für multilaterale Entwicklungsorganisationen. Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen einzelnen Geberländern: Frankreich vergibt weniger als fünf Prozent seiner multilateralen Mittel zweckgebunden, in Norwegen und Großbritannien hingegen sind es seit vielen Jahren rund 20 Prozent. In Deutschland ist der Anteil während der Amtszeit von Minister Gerd Müller (CSU) laut der OECD von 5 auf 12 Prozent (Stand 2016) gestiegen. Der Anstieg geht vor allem auf die Mittel für die Flüchtlingshilfe zurück, die Berlin zum großen Teil von UN-Organisationen abwickeln lässt. Das BMZ betont aber auf Anfrage, man habe in den vergangenen zwei Jahren die Beiträge zu den Kernbudgets einiger UN-Organisationen deutlich erhöht.
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Die Fachleute sind sich einig: Sowohl die Fragmentierung als auch die zunehmend zweckgebundene Finanzierung schwächen das multilaterale Entwicklungssystem. Deutlich wird das etwa am Werdegang der altehrwürdigen Weltgesundheitsorganisation (WHO), die mehr und mehr von spezialisierten Fonds wie dem GFATM oder der Globalen Impfallianz (GAVI) an den Rand gedrängt wird. Die GAVI-Mittel für Gesundheitsprogramme in Entwicklungsländern haben sich zwischen 2009 und 2016 vervierfacht, die des Globalen Fonds sind um zwei Drittel gestiegen – während die der WHO im selben Zeitraum gleich geblieben sind.
An GAVI und dem Globalen Fonds schätzen die Geber, dass sie eng umrissene Aufgaben angehen, etwa eine Impfkampagne, und vergleichsweise schnell messbare Ergebnisse liefern. Langfristige Vorhaben im Bereich gesundheitlicher Aufklärung und Normbildung bleiben dabei allerdings auf der Strecke. Genau dafür aber sind multilaterale Organisationen prädestiniert, wie etwa die jahrzehntelange Aufklärungsarbeit der WHO zur Schädlichkeit des Tabakkonsums gezeigt hat.
Unkoordinierte Zahlungen
Die dritte Baustelle, die mehr Effektivität in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit verhindert, liegt in den Geberregierungen selbst. In vielen Ländern leisten mehrere Ministerien gleichzeitig Beiträge an multilaterale Organisationen – und sprechen sich dabei nur selten untereinander ab. Spanien und Deutschland zählen nach einem Bericht der OECD zu den beiden Ländern mit den meisten Ministerien, die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit fördern. Demnach leisten 12 Ressorts der Bundesregierung Beiträge an Kernbudgets multilateraler Organisationen, 14 geben zweckgebundene Beiträge.
Einer nicht offiziellen Zählung zufolge hat allein das BMZ in den Jahren 2015 bis 2017 mehr als 500 Zahlungen an multilaterale Organisationen überwiesen, die meisten zweckgebunden. Für die gesamte Bundesregierung dürften also im selben Zeitraum mehrere Tausend Einzelbeiträge an das multilaterale Entwicklungssystem zusammenkommen – und Deutschland ist nur einer von 30 Gebern in der OECD.
In der Bundesregierung habe niemand einen guten Überblick, wer welche Organisation wie stark unterstützt, sagt Silke Weinlich vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik: „Das wird nicht zentral erfasst und es mangelt an Abstimmung.“ Ein BMZ-Sprecher widerspricht dem auf Anfrage: Die Bundesregierung stehe „in einem ständigen Austausch bezüglich ihres multilateralen Engagements“ und stimme sich „zwischen den verschiedenen Ressorts ab“.
Das Entwicklungsministerium arbeitet derzeit an einer Strategie für die multilaterale Zusammenarbeit. Andere Ministerien sind daran allerdings nicht beteiligt, doch genau das wäre nach Ansicht von Weinlich nötig: eine Strategie für die gesamte Regierung, nicht nur des BMZ.
Fans der Vereinten Nationen verweisen darauf, dass die Weltorganisation nur so stark sein kann, wie es ihre Mitglieder zulassen. Dasselbe gilt für das multilaterale Entwicklungssystem generell. In einem Bericht, in dem das BMZ einige multilaterale Organisationen kritisch unter die Lupe nimmt, heißt es mit Blick auf die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG), die meisten Organisationen seien „noch nicht geeignet, bei der Implementierung der SDG zu helfen“. Das ist eine wohlfeile Kritik angesichts der konzeptlosen multilateralen Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung.
Prüfeberichte politisch missbraucht
Prüfberichte wie dieser des BMZ sind bei den Gebern irgendwann in Mode gekommen. Sie bewerten die Arbeit von multilateralen Organisationen und sollen bei der Entscheidung helfen, mit welcher Organisation die Zusammenarbeit am meisten Erfolg verspricht. Aus diesem Antrieb heraus haben einige Länder im Jahr 2002 das Netzwerk zur Beurteilung multilateraler Organisationen gegründet, kurz MOPAN, dem heute 18 Geber angehören, darunter Deutschland, Kanada, die USA, Großbritannien und Frankreich. MOPAN erstellt selbst Prüfberichte, die den Gebern helfen sollen, die Finanzierung von multilateralen Organisationen auf eine rationale Grundlage zu stellen.
Andrew Rogerson vom britischen ODI und Owen Barder vom Center for Global Development bezweifeln allerdings, dass die Prüfungen dazu taugen. Die Berichte seien „weniger aussagekräftig als erhofft“; es sei schwierig, so unterschiedliche Organisationen mit derart unterschiedlichen Mandaten nach einheitlichen Standards darauf zu prüfen, wie entwicklungswirksam sie seien, schreiben sie in einer gemeinsamen Studie.
Die Wissenschaftler schlagen einen anderen Weg vor, wie die Finanzierung des multilateralen Entwicklungssystems vernünftiger gestaltet werden könnte: Zum einen sollten die multilateralen Organisationen – etwa im Gesundheitsbereich – transparenter machen, wer wo was leisten kann. Auf dieser Informationsgrundlage sollten sich dann die Geber abstimmen, wer wo was finanziert. Ziel müsse sein, das Gesamtsystem zu stärken und nicht bloß einige wenige Organisationen auf Kosten anderer.
Dass dieser Vorschlag Wirklichkeit wird, ist aber unwahrscheinlich. Die Geber entscheiden sich Barder und Rogerson zufolge für oder gegen bestimmte Organisationen nicht zuletzt auch aus politischen Gründen – und die scheinbar objektiven Prüfberichte werden von ihnen dann vor allem dazu genutzt, diese politischen Entscheidungen zu rechtfertigen.
Bleibt als Fazit: Solange internationale Krisen infolge von Kriegen, Klimawandel und anderen Umweltveränderungen anhalten und dafür schnelles Geld gebraucht wird, solange außerdem die Geber die Entwicklungshilfe für politische Zwecke wie die Abwehr von Migranten instrumentalisieren und solange sie möglichst schnelle und messbare Ergebnisse der Entwicklungsfinanzierung sehen wollen – solange werden die Geber wohl fortfahren, das multilaterale Entwicklungssystem für ihre kurzfristigen Politikziele zu missbrauchen, und weiter zu seiner Fragmentierung beitragen. Und solange werden die multilateralen Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen, es schwer haben, ihren Auftrag zu erfüllen: für globale öffentliche Güter wie Frieden, Entwicklung und eine intakte Umwelt und die Umsetzung der Agenda 2030 zu arbeiten.
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