Kühe müssen runter, Lamas dürfen bleiben

Florian Kopp

Wasserreservoir in 3500 Metern Höhe: In den Hochmooren Ecuadors entspringen viele der Flüsse, die das Amazonasbecken speisen.

Hochmoore in Ecuador
Hochmoore sind in Ecuador die wichtigsten Wasserquellen. Der Tagebergbau und die Landwirtschaft bedrohen die sensiblen Ökosysteme. Deshalb haben Umweltschützer, Unternehmen und Behörden eine ungewöhnliche Allianz zu ihrem Schutz geschmiedet.

Es ist eisig kalt. Der Wind pfeift. Vom Himmel fällt ein sanfter Nieselregen, und der Boden gibt bei jedem Schritt nach wie ein Schwamm. Von diesem unwirtlichen und zugleich faszinierenden Ort bezieht Ecuadors Hauptstadt Quito ihr Wasser. Auf 3500 Metern Höhe, in den Hochmooren der Anden, liegt der Ursprung der meisten Flüsse des Landes: sowohl derjenigen, die im Pazifik münden, als auch derjenigen, die das Amazonastiefland wässern und schließlich in den Atlantik fließen.

Man muss genau hinschauen, um die Feinheiten eines Ökosystems der Extreme zu erkennen. Die Schönheit der bunten Moose, deren Töne von rostrot bis hellgrün reichen, des Papierbaums Polylepis mit der runzligen Rinde oder des Grases – Calamagrostis intermedia –, das aussieht wie ein riesiger, beigefarbener Igel. „Dieses Ökosystem ist extrem sensibel. Es funktioniert wie ein riesiger Schwamm. Moose und Gräser haben alle eine wichtige Funktion. Sie müssen das Wasser aufsaugen und im Boden speichern“, erklärt die Biologin Carla Pérez. Diese Vorratskammern geben es dann dosiert und langsam wieder ab. In kleinen Pfützen, die zu lauschigen Bächlein werden, zu Flüssen anschwellen und schließlich als breite, träge Ströme im Tiefland ankommen. Anders als die Gletscher, die im Sommer oder unter klimabedingter Erwärmung schlagartig enorme Wassermassen freisetzen und mit ihren reißenden Gewässern zu einer lebensbedrohlichen Gefahr für Anrainer werden können. Deshalb sind Hochmoore, sogenannte Páramos, eine strategische Ressource für Andenländer wie Ecuador.

Rund 12.000 Quadratkilometer Ecuadors sind von Páramos bedeckt. Allein im Großraum Quito hängen rund fünf Millionen Menschen vom Wasser ab, das die Natur in den Páramos und zu einem geringeren Teil in den Gletschern der umliegenden Berge ohne menschliches Zutun sammelt. Die natürlichen Wasserspeicher sind allerdings gefährdet. Zum einen durch den Klimawandel, der dazu führt, dass Schädlinge und auch Nutzpflanzen aufgrund steigender Temperaturen immer weiter die Berge hochklettern. Kartoffeln beispielsweise werden heute schon bis 3700 Meter angebaut.

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Eine andere Gefahr ist die Einwirkung des Menschen. Viehweiden sind ein großes Problem, denn die Hufe der Tiere verdichten den Boden und verringern damit seine Speicherkapazität. Außerdem kontaminieren sie mit ihren Ausscheidungen das Wasser schon an der Quelle. Auch Brandrodung vernichtet die sensiblen Moose und Flechten, die jahrelang brauchen, um sich davon wieder zu erholen. Straßen und Stromtrassen greifen ebenfalls ins Ökosystem ein. Die größte Bedrohung aber ist der Tagebergbau. In den Höhenzügen der Anden liegen wertvolle Mineralien, von Kupfer über Silber und Lithium bis Gold. Bergbaukonzerne drängen in die Páramos:  Zum einen wegen der dort vermuteten Bodenschätze, zum anderen, weil der Tagebergbau viel Wasser benötigt, das die Unternehmen gern gratis den Páramos entziehen würden, statt kostspielig Meerwasser zu entsalzen und in die Höhe zu pumpen.

Eine starke Front gegen Bergbaukonzerne

Im Nachbarland Kolumbien hat das Verfassungsgericht deshalb 2016 die Páramos unter Naturschutz gestellt und die Regierung gezwungen, Bohr- und Bergbaulizenzen zu stornieren. Bergdörfer halten nun Volksabstimmungen ab, in denen dem Bergbau regelmäßig eine Absage erteilt wird. Doch die neoliberal ausgerichtete Regierung sträubt sich, dies anzuerkennen. Das führt zu Konflikten, zu Rechtsstreit und zur Militarisierung betroffener Regionen.

Ecuador geht einen anderen Weg, der Kräfte bündelt statt zu spalten. Auch in Ecuador stehen die Páramos unter Naturschutz. Doch hier haben sie dank eines ausgeklügelten Verwaltungsmodells, dem Wasserfonds Fonag, eine Menge Fürsprecher, die alle an einem Strang ziehen – von Unternehmen über Bauern bis zu staatlichen Institutionen. Denn sie alle wissen um die Bedeutung der Hochmoore und ziehen aus ihrem Schutz einen direkten Nutzen. Gemeinsam bilden sie eine starke Front gegen Bergbaukonzerne.

Früher hatte Oswaldo Ayaje wenig Verständnis für die Wirkung der Hochmoore. Er lebt in Oyacachi, einem kleinen Dorf am Fuße des Nationalparks Cayambe-Coca. „So hoch oben wuchs nichts, nicht mal Kartoffeln, deshalb hatte der Páramo keinen besonderen Wert für uns“, erzählt der Bauer. Nur für die Kühe gab es etwas Futter so weit oben. Heute treibt Ayaje seine Kühe aber nicht mehr auf die Bergweiden, sondern züchtet Forellen und patrouilliert als einer von 20 Parkwächtern das Hochmoor. Für seine Kühe baut er in tieferen Lagen nährstoffreiche Kraftfuttermischungen an.  Und das alles hat mit dem Fonag zu tun, dem Wasserfonds der Stadt Quito, für den auch die Biologin Pérez arbeitet.

Als Ende der 1990er Jahre in Quito wegen einer anhaltenden Dürre plötzlich das Wasser knapp wurde, schmiedeten Umweltschützer, Unternehmer und weitsichtige Politiker eine Allianz und richteten im Jahr 2000 den ersten Wasserfonds des Landes ein. „Das ist ein Sparschwein, in das jeder Geld wirft“, umschreibt Pablo Lloret, Umweltdirektor der Wasserwerke von Quito (Epmaps), die Grundidee des Fonds. „Daran beteiligen sich der Staat, die Privatwirtschaft und Umweltschützer. Dadurch bekommt der Wasserfonds einen inklusiven und kooperativen Charakter“, sagt Lloret, der in zwei Amtszeiten Direktor des Fonag war. Die Anteilseigner bringen ihr jeweiliges Fachwissen ein und kontrollieren sich gegenseitig, was der Transparenz und Effizienz zuträglich ist. Partnerschaften mit Schulen und Universitäten sorgen für die wissenschaftliche Grundlage und die Umwelterziehung. Viele Hochschulen haben Wetterstationen in den Páramos eingerichtet und sammeln Klimadaten für die Forschung. „Auch uns nützen diese Daten. Wenn zum Beispiel durch viel Niederschlag die Flüsse anschwellen, können wir die flussabwärts gelegenen Anrainer rechtzeitig warnen und Evakuierungen ansetzen“, sagt Pérez.

Sechs Gründungsmitglieder legten im Jahr 2000 den Grundstein für den Fonds: die Wasserwerke von Quito, die Umweltorganisation The Nature Conservancy, die Bierfirma Cerveceria Andina, der städtische Stromversorger, die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und der ecuadorianische Getränkehersteller Tesalia. 21.000 US-Dollar zahlte jeder ein. Aus den Zinsen und zwei Prozent der Wassergebühren der Stadt Quito bestreitet der Fonds seine Ausgaben und bildet seine Rücklagen.

Aufgabe des Fonag ist ausschließlich der Schutz der Páramos. „Der Fonag gibt der Natur eine Stimme“, sagt Lloret – und vor allem Geld. Der Fonag hat aus Sicht Llorets mehrere Vorteile: „Er hat ein langfristiges Ziel, ist finanziell und politisch unabhängig und sachorientiert.“ Von den in Lateinamerika üblichen politischen Turbulenzen und Wirtschaftskrisen abgeschirmt, können hier Experten walten.

Ankauf angrenzender privater Flächen

Der größte Getränkehersteller Ecuadors, Tesalia, hat sein Engagement nicht bereut: „Für uns ist der Fonag ein strategischer Partner mit Expertenwissen und gleichzeitig lokaler Verankerung“, sagt die PR-Direktorin von Tesalia, Maria Isabel Parra. „Bei ihm finden wir Fachleute, die Schutzprogramme gemeinsam mit den betroffenen Gemeinden und Bürgern langfristig umsetzen können. So bekommen wir als Unternehmen Planungssicherheit und können davon ausgehen, dass unsere Quellen auch in zehn Jahren noch sprudeln. Das alles könnten wir niemals allein bewerkstelligen.“ Rund  20.000 US-Dollar gibt der Konzern jährlich zusätzlich dem Fonag speziell für Wiederaufforstung und Umwelterziehung.

Der Fonds verwaltet und beschützt die Naturschutzgebiete der Páramos und vergrößert sie durch den Ankauf angrenzender privater Flächen. Er verschafft außerdem den umliegenden Gemeinden, die oft sehr arm sind, neue Einkommensmöglichkeiten. Einer der rund 4000 direkt Begünstigten ist Ayaje. Der Bauer ist nun Parkwächter bei Fonag und achtet darauf, dass keiner der Dorfbewohner mehr den Páramo abfackelt, um dort Felder anzulegen, oder seine Kühe hoch oben weiden lässt, denn das verwandele das empfindliche Ökosystem in eine Sandwüste, erklärt er. Und das würde den Familien von Oyacachi nun direkt schaden. „Viele von uns haben dank der Beratung und Unterstützung des Fonag jetzt eine Forellenzucht statt Kühe, um sich mit Protein zu versorgen.  Dafür brauchen wir frisches Wasser, und das kommt direkt aus dem Páramo“, erzählt Ayaje.

Der Fonag investiert zudem in den Tourismus als ökonomische Alternative. „Quito ist eine Stunde entfernt“, erzählt Pérez. „Das ist ideal für Schul- und Wochenendausflüge, um die Städter mit geführten Touren für die Hochmoore zu sensibilisieren.“ In den Naturparks rund um Quito gibt es inzwischen zahlreiche ausgeschilderte Wanderwege. Wo ein Angebot ist, entsteht auch eine Nachfrage: Die Hauptstadtbewohner entdecken zunehmend die Natur als Entspannungsprogramm. Wochenendtourismus und das Kunsthandwerk sind so für Oyacachi zu einer wichtigen neuen Einnahmequelle geworden. Damit die Touristen nicht die Nase rümpfen, baut die 700 Einwohner zählende Gemeinde zusammen mit dem Fonag ein Kanalisationssystem – nicht selbstverständlich in so abgelegenen Bergdörfern. „Der Fonag hat uns einen riesigen Entwicklungssprung gebracht“, sagt Bürgermeister Mauricio Parión anerkennend.

Naturschutz macht sich so bezahlt für die Einwohner von Oyacachi. Das ist wichtig, denn dauerhafter Erfolg wäre ohne die Unterstützung der Dorfgemeinschaft nicht möglich. Und je früher man die Natur schätzen lernt,  umso besser, wissen die Mitarbeiter von Fonag. Für die Schüler im Umland von Quito haben sie deshalb ein pädagogisches Programm und Lehrmaterial ausgearbeitet, das informativ ist und den Kindern viel Spaß macht.

So wie an der Grundschule von Machachi. Dort zeigt die Lehrerin den Fünftklässlern ein Video über den Páramo. Danach muss sich jeder Schüler aus einer Schuhschachtel mit getrockneten Pflanzen, Fotos und Gummitierchen ein Objekt herausnehmen. Dann versammelt sich die Klasse vor einem Pappmodell eines Páramo und jeder begründet, ob sein Objekt auf das Hochmoor gehört oder nicht. Die Kühe werden aussortiert, Autos, Bergbaufirmen und Häuser auch; Lamas, Gräser und Raubvögel hingegen dürfen drauf, finden die Fünftklässler. „Wir sind die Hüter des Páramo“, rufen sie gemeinsam. Die elfjährige Juana ergänzt: „Ohne ihn würden unsere Felder vertrocknen und wir und unsere Tiere verdursten.“

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erschienen in Ausgabe 6 / 2019: Arznei und Geschäft
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