Als Clara Chepkirui Mitte 2013 an der Egerton Universität in Njoro ihr Chemiestudium abschließt, bestimmt die örtliche Landwirtschaft die Themen. Die Bauern dort, nordwestlich der kenianischen Hauptstadt Nairobi, haben große Probleme, die Maisernte einzulagern: Die Körner werden in der Regenzeit schnell feucht und verderben. Für ihre Masterarbeit untersucht die Kenianerin deshalb ätherische Öle der örtlichen Beerenpflanze Monanthotaxis littoralis. Chepkirui bestimmt ihre Inhaltsstoffe und testet, welche von ihnen gegen die Schimmelpilze wirken, die sie aus verdorbenen Maiskörnern isoliert hat.
Dass sich die Forschung an Kenias Universitäten eng an den Problemen der Landwirtschaft orientiert, ist typisch für das ostafrikanische Land, berichtet die 31-jährige Chemikerin. Doch es geht auch um Medizin: Der Betreuer ihrer Masterarbeit, Josphat C. Matasyoh, baute damals Kapazitäten zur Erforschung heimischer Pilze auf – in einem gemeinsamen Projekt mit Marc Stadler vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Alexander von Humboldt-Stiftung, dem Thailand Research Fund (TRF) sowie der EU, leistet das HZI wichtige Vorarbeiten zur Entwicklung neuer Antibiotika: Es sucht gemeinsam mit Partnern im Süden weltweit nach neuen Wirkstoffen.
In Kenia, sagt Stadler, arbeiten zwar viele Forscher an Wirkstoffen aus Heilpflanzen. Aber unter ihnen sind keine erfahrenen Mykologen und Biotechnologen, die mit Pilzorganismen umgehen können. „Deshalb sind kenianische Pilze bislang kaum untersucht“, berichtet Stadler. Dabei steckt viel Potential in ihnen, wie Chepkiruis Arbeiten zeigen. Die Wirkstoffe, die die Chemikerin entdeckt hat, stammen fast alle aus neuen, bislang unbeschriebenen Arten.
Antibiotika: nicht lukrativ für Pharmafirmen
Als Marc Stadler das Talent und die Begeisterung der jungen Wissenschaftlerin für diese Forschung bemerkte, unterstützte er 2014 ihre Bewerbung beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) um ein Promotionsstipendium. Unter anderem erklärte sich der Biologe bereit, sie in Deutschland als Doktorandin zu betreuen. Die Kenianerin bekam das Stipendium und wechselte im April 2015 an das naturstoffchemische Labor der von Marc Stadler geleiteten Abteilung mikrobielle Wirkstoffe des HZI Braunschweig.
Für ihre Dissertation, die sie im Oktober 2018 mit summa cum laude abgeschlossen hat, hat sie über 50 Stoffwechselprodukte aus kenianischen Pilzen isoliert. Einige kommen als Wirkstoffe für Medikamente in Frage. „Dabei waren mir die hochwertigen, modernen Laborgeräte in Braunschweig eine große Hilfe“, berichtet sie. Ihre Arbeit wurde von der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie (DECHEMA) als beste Dissertation 2018 im Bereich der Naturstoff-Forschung in Deutschland ausgezeichnet.
„Die Vielfalt afrikanischer Pilze wurde bislang kaum dafür genutzt, bioaktive Substanzen für die Pharmaforschung zu bergen“, erklärt Stadler. Sein Augenmerk liegt seit einigen Jahren auf der Entwicklung neuer Antibiotika, die angesichts der weltweiten Probleme mit Resistenzen gegen die gängigen Mittel in Politik und Wissenschaft hoch erwünscht ist, von der Pharmaindustrie aber nur dürftig betrieben wird. Denn das Geschäft mit Antibiotika war in den vergangenen Jahrzehnten für Pharmakonzerne nicht unbedingt lukrativ. Anders als Diabetes-, Blutdruck- oder Krebsmedikamente werden Antibiotika nur über einen kurzen Zeitraum verabreicht, und wegen der Gefahr von Resistenzen dürfen sie nicht unbegrenzt vermarktet werden. Dazu kommt, dass sie vor allem in armen Ländern gebraucht werden, wo Infektionskrankheiten wesentlich häufiger sind als in der reichen Welt.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO befürchtet, dass im Jahr 2050 bis zu zehn Millionen Menschen jährlich an Infektionen mit multiresistenten Erregern sterben, die gegen gängige Antibiotika unempfindlich sind. Ein Bestandteil des Aktionsplans, den die WHO zu diesem Problem im Mai 2015 beschlossen hat, ist die Forderung nach einem staatlich finanzierten globalen Fonds zur Erforschung neuartiger Antibiotika.
Viele neue Wirkstoffe aus Pilzen sind nicht brauchbar
Die Chancen, neue antibiotische Wirkstoffe zu finden, sind in Regionen mit vielen unerforschten Arten gar nicht so schlecht, meint Marc Stadler. Das beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass Clara Chepkirui bereits über 60 neue Stoffe aus kenianischen Pilzen beschrieben hat. Die meisten davon lassen sich allerdings nicht als pharmazeutische Wirkstoffe weiterentwickeln, weil sie entweder giftig oder instabil sind, d.h. sehr schnell zerfallen.
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Sollte ein Wirkstoff aus den tropischen Pilzen die Hürden nehmen und ein Pharmaunternehmen Interesse zeigen, ihn zum Arzneimittel zu entwickeln, dann gelten Kooperationsverträge, die das HZI mit den Instituten aus den Herkunftsländern abgeschlossen hat. Grundlage dafür sind die Prinzipien der UN-Übereinkunft über biologische Vielfalt und deren Mechanismus zu Zugang und Vorteilsverteilung (Access and Benefit Sharing) sowie das von Deutschland und der EU ratifizierte Nagoya-Protokolls gegen Biopiraterie. Beide sollen sicherstellen, dass die Ursprungsländer an Gewinnen, die sich aus der wissenschaftlichen Nutzung ihrer Naturstoffe ergeben, fair beteiligt werden. „Dabei gilt auch schon die Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Herkunftsländern im Sinne des Protokolls als ein wichtiges Element“, erläutert Stadler. „Bei uns sind die internationalen Forscherinnen und Forscher Koautoren bei allen aus der Kooperation resultierenden Veröffentlichungen und Patentanmeldungen – das heißt, sie gelten auch als Miterfinder, wenn tatsächlich ein Patent erteilt wird.“ Die Rechte an diesem Patent gehören in der Regel nicht den Erfindern persönlich, sondern anteilig den Institutionen, für die sie arbeiten – allerdings erhalten die Erfinder eine Vergütung. Der Prozess von der Anmeldung bis zur Erteilung eines Patents dauert meist Jahre und kostet mehrere 10.000 Euro, berichtet Stadler.
Die Abteilung mikrobielle Wirkstoffe des HZI arbeitet nicht nur mit Clara Chepkirui aus Kenia zusammen, sondern mit rund 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Forschungsinstituten in Argentinien, Kolumbien, Kamerun, Algerien, dem Iran, den Philippinen, Indonesien und Thailand. Von dort, nämlich von der Mae Fah Luang Universität in Chiang Rai, kommt Chepkiruis Kollegin Benjarong Thongbai. Als Trägerin eines Hochbegabtenstipendiums der thailändischen Regierung hat die Mykologin die Inhaltsstoffe verschiedener Regenwaldpilze erforscht.
Pilzkulturen per Post nach Deutschland gesandt
„Pilze sind eine schier unerschöpfliche Quelle für neue Wirkstoffe“, schwärmt sie. Sie lieferten die Grundlage für einen Großteil der heute zugelassenen Antibiotika. „Trotzdem wurden die allermeisten Pilzarten noch nie in Laboren daraufhin untersucht.“ Eben das hat Benjarong Thongbai im Rahmen ihrer Doktorarbeit getan, für die sie von 2012 bis 2017 mit dem HZI zusammenarbeitete. Zusammen mit Marc Stadler isolierte sie in Thailand Pilzkulturen aus gemeinsam gesammeltem Material und sandte die Reinkulturen per Post nach Deutschland. Dort half sie später beim Aufbau des mykologischen Labors mit, das sie heute als Postdoc-Stipendiatin am HZI leitet.
Wie Clara Chepkirui genießt auch Benjarong Thongbai die internationale Zusammenarbeit. „Wir sind hier eine globale Forschungsgemeinde. Die technische Ausstattung der Labore macht viele Untersuchungen und Analysen möglich, die an unseren Heimatuniversitäten nicht möglich wären.“ Das Institut versteht sich auch als Sprungbrett für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus aller Welt, betont Marc Stadler. „Wer hier gut ist, hat weltweit beste Chancen, an Universitäten zu forschen, ob in den USA, in China oder wo auch immer.“
Clara Chepkirui und Benjarong Thongbai haben bereits verschiedene Angebote für die Zeit nach ihren Forschungsaufenthalten am HZI in Aussicht. Beide möchten im Prinzip irgendwann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren – aber noch nicht so bald. Denn die Crux ist: Ihre Forscherinnenkarriere wäre dann mehr oder weniger zu Ende. „Wenn ich jetzt nach Bangkok zurückkehren würde, würde ich dort vor allem lehren und kaum noch forschen“, sagt Thongbai.
Chepkirui sieht ihre Situation ähnlich. Zwar sehen beide auch in der Lehre eine wichtige Aufgabe, nicht zuletzt damit der Forschungsnachwuchs in ihren Heimatländern gestärkt wird und sich, begünstigt von internationalen Forschungskontakten, mit der Zeit auch die Arbeitsbedingungen an den Universitäten des globalen Südens verbessern. Für die beiden jungen Wissenschaftlerinnen ist das aber noch Zukunftsmusik. Sie möchten zuerst weitere Erfahrungen sammeln und mehr veröffentlichen, damit sie schließlich in ihren Heimatländern gute Positionen als Wissenschaftlerinnen erreichen, die lehren und auch forschen.
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