Streit um Patente: Fortsetzung folgt

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Generika in Entwicklungsländern
Überteuerte Medikamente belasten die Gesundheitssysteme vieler Entwicklungsländer. Kolumbien hat den Kampf mit der Pharmalobby aufgenommen und erste Erfolge erzielt.

Yeisson Ramírez ist 23 und Verwaltungsangstellter, der 18-jährige Jhonny Vásquez ist Nachwuchsfußballer, die 45-jährige Noralba Moncada ist alleinerziehende Mutter. Allen drei Kolumbianern ist gemeinsam, dass sie Leukämie haben und im Zentrum eines Kampfes stehen, in dem es um Ethik und Profit, staatliche Gesundheitssysteme und private Gewinne geht und um die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist. Kontrahenten sind der Staat Kolumbien und der Schweizer Pharmakonzern Novartis. Setzt sich der Staat Kolumbien durch, könnte das international Signalwirkung haben und eine Reform der Gesundheitssysteme Lateinamerikas anstoßen.

Die Auseinandersetzung begann im Jahr 2014, als  eine Gruppe nichtstaatlicher Organisationen um die gemeinnützige Stiftung Ifarma, die sich für Qualität und Zugang zu Medikamenten einsetzt, und die Nationale Universität von Kolumbien beim Gesundheitsministerium  beantragte, Generika zur Behandlung von Leukämie zuzulassen. Denn auf das von Novartis vertriebene Medikament Glivec mit dem patentierten Wirkstoff Imatinib gab es in Kolumbien ein Monopol, so dass die Kosten dafür die überwiegend staatlich finanzierten Krankenkassen schwer belasteten. Die Behandlung damit schlug laut den Antragstellern pro Patient jährlich mit 13.000 Euro zu Buche, dem Doppelten des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens. Die Herstellungskosten für eine jährliche Dosis betragen laut Expertenschätzungen 159 US-Dollar. Rund 3200 Leukämie-Patienten sind in Kolumbien registriert.

Versuche, die Laufzeit der Patente zu verlängern

Insgesamt sind 94 Prozent der Kolumbianer krankenversichert. Verwaltet wird das Versicherungsssystem von privaten Krankenkassen, die sich zu einer knappen Hälfte aus Abgaben von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zur anderen Hälfte aus einem staatlichen Zuschuss finanzieren. „Das System deckt fast alle Krankheiten ab“, sagt Tatiana Andia, Soziologin und Gesundheitsexpertin der Universität der Anden. „Aber es ist chronisch unterfinanziert, weil der Staat nur sechs Prozent seines Bruttosozialprodukts in Gesundheit steckt.“ Ein großer Batzen der Ausgaben seien hochpreisige Medikamente für chronische Krankheiten. „Als wir die Preise international verglichen, stellten wir fest, dass Kolumbien für einige Medikamente zwei- bis sechsmal so viel bezahlte wie andere Länder“, stellte der bis 2018 amtierende Gesundheitsminister Alejandro Gaviria fest. Solche Preispolitik ist im Pharmasektor üblich.

Eines der überteuerten Medikamente war Glivec. Dessen Wirkstoff Imatinib wurde in den 1990er Jahren entdeckt und patentiert. Wie im Pharmasektor üblich, versuchte Novartis, über geringfügige Veränderungen des Wirkstoffs – in diesem Falle die Kristallisierung eines Moleküls – die Laufzeit des Patents künstlich über die vorgesehenen 20 Jahre hinaus zu verlängern. Diesen Antrag lehnten die kolumbianischen Behörden 2003 ab, da es sich um keine „wesentliche Innovation“ handele. 2012 setzte sich der Konzern jedoch mittels kräftigem Lobbying am Obersten Verwaltungsgericht (dem Staatsrat) durch. Das Patent wurde verlängert, sämtliche Generika mussten wieder vom Markt genommen werden, und Novartis konnte seinen Marktanteil von 40 auf 100 Prozent steigern.

Die Krankenkassen begannen daraufhin, Patienten wie Jhonny, Yeisson und Noralba das Medikament zu verweigern. „Als die Ärzte die Krankheit feststellten, verschrieben sie Yeisson sofort Imatinib“, erzählte seine Mutter Dolly Gómez der Zeitung El Espectador. „Die ersten 30 Tabletten genehmigte die Krankenkasse, dann nicht mehr, und es kam zum Streit.“ Einen Monat blieb Yeisson unbehandelt, obwohl seine Ärzte gewarnt hatten, er dürfe auf keinen Fall aufhören, das Mittel zu nehmen. Er zog vor Gericht und berief sich auf die Verfassung, die das Recht auf Gesundheit festschreibt. Andere Patienten zogen nach. Die Gerichte fällten Urteile zugunsten der Patienten. Jährlich erstritten chronisch Kranke so Medikamente im Wert von 300 Millionen US-Dollar, was ein tiefes Loch ins staat­liche Gesundheitssystem riss.

„Wir mussten eine für alle verträgliche Lösung finden“, so der damalige Gesundheitsminister Gaviria, der damals selbst wegen Krebs behandelt wurde. Er wusste, dass er den Kampf mit Novartis nicht allein gewinnen konnte, und schmiedete ein Bündnis mit Universitäten und Menschenrechtsorganisationen. Gemeinsam publizierten sie die Ergebnisse ihrer Forschungen über Preise und Patente und starteten eine Kampagne in Medien und sozialen Netzwerken. „So gelang es uns, öffentlichen Druck aufzubauen“, erzählt Andia, die damals Beraterin von Gaviria war. Mit diesem Rückenwind stufte das Gesundheitsministerium das Medikament als „von öffentlichem Interesse“ ein und öffnete in der Hoffnung auf mehr Wettbewerb und sinkende Preise die Tür für Generika.

Nervenkrieg mit Pharmaunternehmen

Das war ein Pyrrhussieg, wie sich bald herausstellte. Denn Novartis und andere Pharmakonzerne sponserten in großem Ausmaß Ärzte und Patientenschutzorganisationen, die den Patienten Angst vor möglichen Nebenwirkungen der Generika machten, so dass diese nach wie vor das Originalmedikament verlangten. Auch innerhalb der Regierung formierten sich Gegner der Freigabe. „Wir bekamen Druck von allen Seiten, vor allem aus dem Wirtschaftsministerium, es war ein Nervenkrieg“, erzählt Andia. Doch ihr Team ließ sich nicht unterkriegen. Gaviria forderte Novartis auf, den Preis für Glivec zu halbieren. Sollte es zu keiner Verhandlungslösung kommen, drohte er mit einer Zwangslizenz.

Zwist um Zwangslizenzen

Patente auf Medikamente sollen dafür sorgen, dass Unternehmen, die viel Geld in die Erforschung neuer Arzneimittel investieren, ihre Entwicklungskosten über den Verkauf patentierter Produkte wieder hereinholen ...

Zwangslizenzen sind eine Möglichkeit, legal Patente zu unterlaufen, wenn Gründe der öffentlichen Gesundheit oder eine Epidemie dafür sprechen; das Abkommen über handelsbezogene Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO sieht diese Möglichkeit vor. Bislang hat nur eine Handvoll Staaten davon Gebrauch gemacht, darunter Schwellenländer wie Indien und Brasilien. Der Druck der Pharmakonzerne auf die Regierungen ließ bisher die meisten Entwicklungsländer vor einem Konflikt zurückschrecken.

In der Basler Konzernzentrale von Novartis schrillten nun die Alarmglocken. Die Firma erklärte, die Zwangslizenz sei nicht gerechtfertigt, da kein akuter Notfall bestehe. In Kolumbien gebe es drei Generika, und der Preis für das Medikament sei im internationalen Durchschnitt günstig und schon zweimal nach unten korrigiert worden. Nicht die Einbußen in Kolumbien waren aber das größte Problem für Novartis, sondern die Gefahr eines Präzedenzfalls. Denn weltweit spült das in rund 40 Ländern registrierte Medikament einer Recherche der Agentur Bloomberg zufolge dem Unternehmen jährlich Einnahmen von bis zu 4,7 Milliarden US-Dollar in die Kassen.

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Bisher hatte es Zwangslizenzen vor allem für im globalen Süden eingesetzte Medikamente gegeben, gegen Aids oder Hepatitis beispielsweise. Eine Lizenz für ein Krebsmedikament hingegen würde die besonders hohe Gewinnspanne für solche Arzneien in den Industrieländern gefährden, erklärt der Anthropologe Stefan Ecks von der Universität Edinburgh: Auch dort könnten Kassen und Patienten anfangen, Preise zu vergleichen und Nachlässe zu fordern. Diese Sorge hatte Novartis laut Ecks in einem ähnlichen Streitfall in Indien bewogen, Glivec letztlich kostenlos an von dem Konzern geschaffene oder geförderte Patientenschutzorganisationen abzugeben. Diese Strategie nennt der Forscher „globale korporative Zivilgesellschaft“: Novartis habe sich damit als Freund der Armen profiliert und vom eigentlich lukrativen Markt abgelenkt. „Es wurden einige Arme belohnt, um bei den Reichen weiter abzusahnen.“

Drohung mit wirtschaftlichen Repressalien

Aber in Kolumbien fuhr der Konzern schwere Druckmittel auf. Wie Dokumente der Schweizer Organisation Public Eye enthüllt haben, wurde sowohl die Schweizer Botschaft eingespannt als auch Lobbyisten im US-Kongress. US-Abgeordnete sollen gebrieft worden sein, sie sollten damit drohen, das finanzielle Engagement im kolumbianischen Friedensprozess zurückzufahren und den Beitritt Kolumbiens zur Organisation der Wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu verhindern. Das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) kündigte wirtschaftliche Repressalien gegen Kolumbien an. „Sie drohten uns mit einem Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen des Investitionsschutzes nach von Kolumbien ratifizierten Freihandelsabkommen“, erzählt Andia. „Das ist der Horror jedes Schwellenlandes, denn das sind irre teure Prozesse, die Staaten praktisch nie gewinnen.“

Für den Spagat zwischen Profit, individueller Gesundheit und öffentlichen Haushalten hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2016 Richtlinien entworfen. Die WHO entkräftet in dem Dokument das von Firmen gerne angeführte Argument, Forschung sei teuer und Patente dienten dazu, diese zu finanzieren: „Es ist schwierig, die Entwicklungskosten des Privatsektors zu beziffern, da diesen oftmals öffentlich geförderte Forschungen zugrunde liegen“, heißt es dort. Mit Patenten abgesicherte Monopole, so das WHO-Dokument, trieben die Gesundheitsausgaben für Entwicklungsländer in die Höhe. Zwangslizenzen werden allerdings nur am Rande als „in extremis-Lösung“ genannt. Die WHO empfiehlt weniger kontroverse Strategien, um Wettbewerb zu fördern und die Preise zu senken, beispielsweise Einkaufspools der Krankenkassen und öffentliche Ausschreibungen für teure Medikamente. „Auch die unbürokratische und rasche Zulassung von Generika wie in den USA zeitigt gute Ergebnisse. In Lateinamerika hingegen machen Generika nur 7,8 Prozent der Medikamentenverkäufe aus“, so die WHO.

In Kolumbien ist der Preis für Glivec, dessen Patent 2018 sowieso ausgelaufen wäre, seit 2016 um 44 Prozent gesunken. War es das wert? „Ja“, sagt Andia, „denn Glivec war die Speerspitze für eine Neustrukturierung des staatlichen Medikamentenankaufs.“

Vernetzung sorgt für mehr Transparenz

Unter Gaviria wurde 2017 ein System beschlossen, das im Januar 2019 in Kraft trat und sowohl einen zentralen Einkauf von Medikamenten einführte als auch Festpreise für bestimmte Medikamente, die auf einem internationalen Preisvergleich beruhen. „Wir holen von 16 repräsentativen Märkten Preise ein und orientieren uns am drittbilligsten Angebot“, sagt Andia. Es war ein Kompromiss mit den Pharmakonzernen, der dem Staat jährlich immerhin mehrere Millionen US-Dollar spart.

Der zweite Kompromiss war der Aufschub dieser Reform auf Januar 2019. „Die Konzerne hofften, nach den Wahlen im Mai 2018 die neue Regierung in die Knie zu zwingen und das Inkrafttreten zu verhindern“, sagt Andia. Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen – dank der aggressiven Informationsstrategie der scheidenden Regierung. Die Reform abzublasen wäre zutiefst unpopulär gewesen, denn unter den 902 neu regulierten Medikamenten sind auch viele, die im freien Handel erhältlich sind, etwa empfängnisverhütende und blutdrucksenkende Mittel. Die Ersparnis ist für die Bürger direkt im eigenen Geldbeutel spürbar.

El Salvador hat sich inzwischen von dem Beispiel inspirieren lassen. Ein erfreulicher Effekt des Glivec-Streites ist, dass sich die lateinamerikanischen Gesundheitsexperten untereinander vernetzt haben. Nun tauschen sie Informationen aus und sorgen so für mehr Transparenz auf einem traditionell intransparenten Markt.

Aber der Kampf ist noch längst nicht gewonnen. Laut Ecks haben die Pharmakonzerne bereits neue Strategien entwickelt, um den Markt mit selbst produzierten Generika zu beherrschen.

ZUM WEITERLESEN
Stefan Ecks: Global Pharmaceutical Markets and Coprorate Citizenship: The Case of Novartis Anti-cancer Drug Glivec
BioSocieties, LSE London, 2008

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erschienen in Ausgabe 6 / 2019: Arznei und Geschäft
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