„Die EU verpasst Chancen“

SDGs
Die Europäische Union tut zu wenig, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung umzusetzen, kritisiert Adolf Kloke-Lesch.

Wie wichtig nimmt die EU die Ziele für nachhaltige Entwicklung?
Sie tut zu wenig. Ein Grund liegt darin, dass die SDGs es lange nicht auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs geschafft haben. Erst beim EU-Gipfel im Oktober 2018 haben sie das Thema behandelt und die Kommission aufgefordert, sich stärker zu engagieren. Allerdings haben sie nicht deutlich gemacht, was genau sie in Bezug auf die einzelnen Ziele von der Kommission erwarten. Das Ende Januar 2019 vorgestellte Reflexionspapier soll ja erst den Weg für Aktionen zur Umsetzung der Ziele ebnen. Das Hauptproblem ist, dass Brüssel sich noch keine eigenen Ziele gesetzt hat und die in dem Reflexionspapier skizzierten Szenarien zum Teil zu wenig ambitioniert sind.

Aber die 17 Nachhaltigkeitsziele und ihre 169 Unterziele stehen doch fest?
Ja, aber die müssen für die EU heruntergebrochen und konkreti siert werden. Mit Ausnahmen wie der Klimapolitik hat die Kommission das bisher nicht getan. Bei vielen SDG-Themen hat die EU keine quantifizierten zeitgebundenen Ziele. Und dort, wo sie welche hat, unterscheiden sie sich oft von den SDGs und haben zudem als Frist das Jahr 2020, weil sie auf die Strategie „Europa 2020“ zurückgehen. Zum Beispiel verfolgt die EU darin das Ziel, 20 Millionen Menschen bis 2020 vom Leben an der Armutsgrenze zu holen. Das entspricht nicht dem Nachhaltigkeitsziel 1.2., wonach die Zahl der Menschen in Armut bis 2030 halbiert werden soll. Nähme man dieses Ziel ernst, dann müssten in der EU eher bis zu 60 Millionen Menschen vom Armutsrisiko befreit werden.

Kann die EU nicht ohne spezifische Ziele zur Erreichung der SDGs beitragen? Die Hauptsache ist doch, dass Europa überhaupt eine nachhaltige Politik verfolgt.
Nein, denn nur wenn man quantifizierte Ziele mit zeitlichen Fristen verfolgt, kann man praktische Schritte verbindlich festlegen und besser nachverfolgen. Viel zu oft setzt sich die Politik eher allgemeine Ziele wie die Abschaffung des Hungers. Dann kommen einzelne Akteure und machen Projekte, niemand sagt aber, welche Beiträge insgesamt für das Gesamtziel zu leisten wären. Später wundert man sich dann, dass die Zahl der Hungernden so hoch geblieben ist. Mit spezifischen Zielen kann man dagegen besser ermitteln, was wo konkret zu tun ist.

Drei Szenarien für ein nachhaltiges Europa

Die EU-Kommission hat Ende Januar ein Reflexionspapier zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele veröffentlicht. Laut Kommission haben die EU-Staaten bereits auf vielen Feldern  „ ...

Zu welchen Zielen sollte die EU besonders beitragen?
Sie muss überall dort viel tun, wo ihr Handeln global betrachtet großes Gewicht hat. Das gilt etwa für die Verringerung des Ausstoßes von Klimagasen oder für den Ressourcenverbrauch. Wichtig sind auch Aktivitäten, die mit oder in anderen Ländern stattfinden, wie etwa an Nachhaltigkeit ausgerichtete Investitionen, Handel und  öffentliche Entwicklungshilfe. Die EU ist noch weit davon entfernt, SDG 17 zu erreichen, 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für öffentliche Entwicklungshilfe bereitzustellen. Hier sollte sich die EU nicht zuletzt im eigenen Interesse deutlich stärker engagieren, gerade auch deshalb, weil andere Länder wie derzeit die USA sich zurückziehen.

Wieso sind die SDGs in der EU-Politik noch nicht stärker durchgedrungen?
In der EU-Kommission oder auch in nationalen Ministerien herrschen unterschiedliche Interessen und manche wollen beispielsweise nicht, dass die Agrarpolitik durch die SDGs verändert wird. Ein grundsätzliches Problem liegt da­rin, dass die Nachhaltigkeitsziele immer noch vor allem als Teil der Entwicklungs- oder der Umweltpolitik wahrgenommen werden. Dadurch werden Chancen verpasst, sowohl in der Nord-Süd- als auch in der Nord-Nord-Zusammenarbeit. Die Regierungschefs und die Spitze der Kommission müssen diesen Kurs korrigieren. Die Tatsache, dass die Kommission es laut dem im Januar vorgelegten Reflexionspapier immer noch für eine von drei Optionen hält, die SDGs primär in der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern zur Richtschnur zu nehmen, spricht für erhebliche Widerstände in der Spitze der Kommission, die Ziele als Chance für einen Neuaufbruch in Europa engagiert aufzugreifen.

Wie müsste die Nord-Nord-Kooperation im Sinne der SDGs aussehen?
Wenn sich zum Beispiel Verkehrsminister aus Industrieländern treffen, dann reden sie möglicherweise über schnelle Züge oder über autonomes Fahren. Sie müssten aber zum Beispiel viel mehr über alternative, klimafreundliche Antriebe reden. Sie müssten umfassende Initiativen zum Umbau der international verflochtenen Automobilindustrie anstoßen. Es braucht also eine auf die SDGs bezogene ganzheitliche Herangehensweise. Beispielhaft für die Nord-Nord-Zusammenarbeit könnte werden, dass Frankreich und Deutschland nun im Vertrag von Aachen vereinbart haben, gemeinsame Ansätze und politische Strategien zur Agenda 2030 zu erarbeiten.

Wie lässt sich in Europa das Bewusstsein für die SDGs stärken?
Ich hoffe, dass die Parteien die SDGs in ihren Programmen für die Europawahl prominent verankern. Diese sollten nicht nur in Kapiteln über Entwicklungs- oder Klimapolitik vorkommen, sondern als übergreifendes Thema beispielsweise in der Präambel verankert werden. Das Reflexionspapier der Kommission macht dankenswerterweise zumindest deutlich, dass mehrere Millionen neue Jobs entstehen könnten, wenn die Ziele auch innerhalb der EU beherzt verfolgt würden.

Sind die SDGs nicht zu „unsexy“ für den Wahlkampf?
Nein. Die Politik mutet den Bürgern in vielen anderen Bereichen viel komplexere Themen zu, etwa bei Steuern oder künstlicher Intelligenz. Teilweise bieten die SDGs sehr einfach zu kommunizierende Botschaften. Zum Beispiel sauberes und erschwingliches Trinkwasser in SDG 6: Die Menschen wissen, dass die Wasserqualität durch Ni­trateinleitungen bedroht ist und dass die Wasserpreise irgendwann stark steigen, wenn wir die Landwirtschaft nicht verändern.

Das Gespräch führte Phillipp Saure.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2019: Rassismus
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