Die Frage nach den Anfängen des Rassismus ist in der Forschung umstritten. Unterdrückungsmechanismen, die wir heute als rassistisch bezeichnen würden, gab es schon in Eroberungsgesellschaften des Altertums und bei der transatlantischen Sklaverei ab dem 16. Jahrhundert, ohne dass damals bereits von „Rassen“ die Rede gewesen wäre. Die Geburt der Rassenkonzepte lag erst im 18. Jahrhundert, als die entstehenden Naturwissenschaften das Wissen über die Welt zu systematisieren versuchten und begannen, nicht nur Pflanzen, Tiere und Mineralien, sondern auch menschliche „Rassen“ zu klassifizieren. Dabei schlug die beschreibende Klassifizierung rasch in hierarchisierende Wertung – höher oder niedriger stehend – um.
Die Rassenkonzepte der Aufklärungszeit gewannen im 19. Jahrhundert enorm an Wirkung. Körperliche, intellektuelle und moralische Eigenschaften von menschlichen Individuen und Kollektiven erschienen nun als naturgegeben. Vertreter dieses biologistischen Denkens führten die Dominanz der Europäer über die Nichteuropäer wie auch die ungleiche Geschlechterordnung auf physische Unterschiede zurück, etwa die Größe des Gehirns. Ähnlich wurde die gesellschaftliche Schichtung erklärt und gerechtfertigt. Auch galten eine große Zahl physischer und psychischer Krankheiten sowie die Neigung zu Kriminalität, Alkoholismus oder Prostitution als erblich.
Bemühungen, das Wissen über Menschen und ihren Körper zu erweitern, führten zur Entwicklung immer neuer Maßgrößen. Einen wichtigen Zweig bildete etwa die Schädelvermessung: Damit wollte man aus dessen Form und Größe Erkenntnisse über Intelligenz und „rassische“ Eigenschaften gewinnen. Großangelegte Vermessungsaktionen ab dem frühen 19. Jahrhundert ergaben allerdings zwiespältige Ergebnisse: Die „reinen Rassen“ rückten in immer weitere Ferne, je ausgeklügelter die Methoden wurden, sie zu finden und zu erfassen – was allerdings kaum zur Infragestellung des Rassenkonzepts anregte.
Ariertheorien und Sozialdarwinismus
Auch die Sprachwissenschaft trug zur Entwicklung rassistischer Denkmuster bei. Die Entdeckung, dass das altindische Sanskrit mit vielen europäischen Sprachen verwandt ist, führte in einem interdisziplinären Fehlschluss zur Vorstellung, die Sanskritsprecher namens Arier hätten in einer von Indien ausgehenden politischen und „rassischen“ Kolonisationsbewegung nach Europa die Kultur der Alten Welt geschaffen. Ariertheorien gingen in Vorstellungen über „Rassenkämpfe“ zwischen Völkern ein, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Joseph Arthur Comte de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain oder den Esoterikern Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels verbreitet wurden; sie sollten auch Adolf Hitler stark beeinflussen.
Autor
Christian Koller
ist Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich.Das biologistische und sozialdarwinistische Denken förderte eine enge Verbindung des Rassismus mit dem im Europa des 19. Jahrhunderts immer dominanter werdenden Nationalismus. Die Begriffe „Rasse“, „Volk“ und „Nation“ vermischten sich mehr und mehr. Die Differenzen zum Anderen und Fremden wurden zunehmend als biologisch begründet gesehen. So betrachteten die gesellschaftlichen Eliten teilweise die eigenen Unterschichten als genetisch minderwertig und sahen hinter den Großmachtkonflikten der Zeit biologisch-kulturelle Gegensätze zwischen „Germanen“, „Romanen“ und „Slawen“.
Als Gegenbewegung zur Gleichberechtigung der Juden in vielen europäischen Ländern entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Rassenantisemitismus. Jüdinnen und Juden wurden nicht mehr primär als Anhänger einer fremden Religion, sondern als fremde, den „Ariern“ feindliche Rasse betrachtet. Mit der Selbstbezeichnung „Antisemiten“ wollten die Judenhasser zum Ausdruck bringen, dass sie nicht „mittelalterliche“ religiöse Vorurteile weitertrugen, sondern sich auf der Höhe der natur- und sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse bewegten. Daneben und teilweise vermischt damit lebte indessen auch der religiöse Antijudaismus weiter.
Antiziganismus und Kolonialimperialismus
Auch der Antiziganismus, der sich gegen Menschen mit nicht sesshafter Lebensweise richtete, argumentierte zunehmend biologistisch: Die „Zigeuner“, die bisher als Ausgeburt des Teufels verfemt worden waren, erschienen nun als ein fremdes Volk, das sich mit genetisch minderwertigen Elementen der eigenen Unterschichten vermischt habe und mit administrativen Mitteln und solchen der Eugenik zu bekämpfen sei.
Schließlich spielte der Rassismus, vermischt mit sozialdarwinistischen Denkmustern und der Ideologie der Zivilisierungsmission, auch eine zentrale Rolle für die Begründung des Kolonialimperialismus. Nachdem um 1800 die meisten europäischen Kolonien in Amerika unabhängig geworden waren, folgte nun die koloniale Durchdringung Afrikas und Asiens. Sie beschleunigte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts rasant und verschärfte die nationalistischen Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten. Diese teilten aber miteinander die Vorstellung, die globale Herrschaft der „weißen Rasse“ sei die Triebkraft des Fortschritts der gesamten Menschheit. Dies legitimierte scheinbar auch die weitgehende Ausrottung indigener Bevölkerungsgruppen – sei es infolge von Massakern, Krankheiten und Entzug der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen wie in den angelsächsischen Siedlerkolonien Nordamerikas und Australiens, sei es durch genozidale Herrschaftsdurchsetzung wie in Deutsch-Südwestafrika von 1904 bis 1908.
Nach der Wende zum 20. Jahrhundert steigerte sich die Wirkungsmächtigkeit des Rassismus und der mit ihm verwandten biologistischen Vorstellungen in verhängnisvoller Weise weiter. Die Eugenik etablierte sich in verschiedenen Ländern. In den USA wurden bis in die 1970er Jahre etwa 70.000 Menschen zwangssterilisiert, darunter viele afroamerikanische Häftlinge, und die US-Einwanderungspolitik erhielt eine rassistische Prägung, die den Zuzug weitgehend auf Nord- und Westeuropäer zu beschränken suchte. In den 1920er und 1930er Jahren erließen mehrere europäische Länder Zwangssterilisationsgesetze, so schon 1929 Dänemark und der Schweizer Kanton Waadt. 1934 trat im Deutschen Reich das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, auf dessen Grundlage bis zum Ende der Naziherrschaft etwa 400.000 Zwangssterilisationen vorgenommen wurden, an denen 5000 Menschen starben.
Der Rassenantisemitismus verbreitete sich ebenfalls. Nach der russischen Revolution von 1917 entstand die Vorstellung, der Kommunismus sei eine jüdische Strategie zur Unterwerfung der Welt. Dazu passten die zuerst 1903 in St. Petersburg erschienenen „Protokolle der Weisen von Zion“ über eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Sie wurden zwar bereits in den frühen 1920er Jahren als Fälschung entlarvt, spielten dann aber eine wichtige Rolle in der Propaganda der Nationalsozialisten.
Institutionalisierte Rassentrennung
Der Kolonialrassismus wirkte auch nach der Phase gewaltsamer europäischer Herrschaftsetablierung weiter. Indigene wurden in einigen Siedlerkolonien zwangsweise assimiliert, zum Beispiel indem ihnen wie in Australien zwischen 1910 und 1970 die Kinder weggenommen wurden. Die institutionalisierte Rassentrennung, die Mischehen verbot und auf eine räumliche Trennung der Wohngebiete abzielte, wurde zunächst in britischen Kolonien eingeführt; daran orientierten sich bald auch andere Kolonialmächte. Die Apartheid in Südafrika zwischen 1948 und 1994 systematisierte diese koloniale Diskriminierungspraxis und führte sie weiter.
Ähnlichkeiten damit hatte die Segregation in den Südstaaten der USA. Nach dem Verbot der Sklaverei von 1865 versuchten die Südstaaten, die Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung zu verhindern, und erließen dazu die sogenannten Jim-Crow-Gesetze, die auf eine umfassende Rassentrennung im öffentlichen Leben abzielten. Die Diskriminierung beschränkte sich indessen nicht auf die Südstaaten: Bis nach 1945 waren in 30 US-Bundesstaaten Heirat und Geschlechtsverkehr zwischen „Schwarzen“ und „Weißen“ verboten. Noch im Zweiten Weltkrieg gab es in der US-Army separate Blutkonserven für afroamerikanische GIs. Erst in den 1950er und 1960er Jahren wurde die gesetzliche Segregation schrittweise abgeschafft. Die gesellschaftlichen Folgen der jahrhundertelangen rassistischen Diskriminierung halten bis heute an.
Die Weltanschauung des Nationalsozialismus verschmolz verschiedene rassistische Elemente mit einem extremen Nationalismus. Schon 1933 begann die rechtliche Diskriminierung der Juden und anderer Minderheiten. Mit den Nürnberger Gesetzen von 1935, die unter anderem Ehen zwischen Juden und Nichtjuden verboten und Juden einen Teil der staatsbürgerlichen Rechte entzogen, erhielt die improvisierte rassistische Gesetzgebung dann einen umfassenden Rahmen. Verschiedene Bestimmungen der Nürnberger Gesetze wurden auch auf Sinti und Roma sowie Afrodeutsche übertragen. Der NS-Antisemitismus verfolgte eine Doppelstrategie aus rechtlicher Diskriminierung und physischen Verfolgungen. Während des Zweiten Weltkriegs eskalierte das in einem großangelegten Völkermord. Genozidale Züge trugen auch die Verfolgungen anderer Minderheiten sowie der slawischsprachigen Bevölkerungen in den eroberten Gebieten, ebenso die auch eigenständig betriebenen Verfolgungen von Juden und anderen Minderheiten in Kroatien, Rumänien und Ungarn.
Die NS-Verbrechen diskreditierten den biologistischen Rassismus auf der politischen Ebene nachhaltig. Das „Statement on Race“ der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) von 1950/1951 wandte sich unmissverständlich gegen Rassenvorurteile. Die Dekolonisation und die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung drängten den politischen Rassismus in den 1950er und 1960er Jahren weiter in die Defensive. Und in der Wissenschaft stellte die moderne Genetik die Existenz menschlicher „Rassen“ infrage. Der biologistische Rassismus wurde nach und nach isoliert in häufig gewaltbereiten rechtsextremen Subkulturen.
„Rassismus ohne Rassen"
Doch im späten 20. Jahrhundert entstanden neue Formen der Differenzkonstruktion, die in der Forschung als „kultureller Neorassismus“ oder „Rassismus ohne Rassen“ bezeichnet werden. Forderungen nach Trennung verschiedener Menschengruppen werden nicht mehr biologisch, sondern kulturell begründet, ansonsten aber viele Argumentationsmuster des klassischen Rassismus übernommen. „Kulturen“ erscheinen als fixe Größen, die sich nicht oder nur sehr langsam wandeln und zu denen Individuen entweder vollständig oder aber gar nicht gehören. Damit ignoriert diese Vorstellung nicht nur den rasanten kulturellen Wandel in der modernen Welt, sondern blendet auch aus, dass sich verschiedene Traditionen verbinden und vermischen – Phänomene, die in den Kulturwissenschaften als Hybridität oder Transkulturalität bezeichnet werden.
Der Neorassismus erlangte um die Jahrtausendwende in den westlichen Ländern erheblichen Einfluss in Politik und Gesellschaft. In subtiler Form wird er von sogenannten rechtspopulistischen Kräften vertreten, die sich im späten 20. Jahrhundert in vielen westlichen Demokratien dauerhaft etabliert haben. Sie verbinden Fremdenfeindlichkeit mit aggressiver Propaganda, Kritik am politischen Establishment und den „Mainstream-Medien“ mit Parolen von Recht und Ordnung sowie kulturellem Konservativismus. Den Vorwurf, sie seien rassistisch, pflegen sie in einer zweideutigen Art zurückzuweisen, die weder die nationalkonservativen und unterbürgerlichen Schichten noch die rechtsradikalen Segmente ihrer Wählerschaft verprellen soll.
Seit den 1990er Jahren haben solche Parteien in verschiedenen Staaten Europas in der Regierung mitgewirkt. Ihr Aufstieg hat auch die Programme konkurrierender politischer Kräfte beeinflusst: Obwohl sie sich offiziell von Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus distanzieren, fließen etwa in der Einwanderungs- und Asylpolitik bürgerlich oder sozialdemokratisch dominierter Regierungen zunehmend Punkte ein, die ursprünglich von Anti-Einwanderungsbewegungen und Rechtspopulisten gefordert worden waren. Kritiker sehen darin den Tatbeweis, dass der in intellektuellen Zirkeln der „Neuen Rechten“ angedachte „Rassismus ohne Rassen“ inzwischen in breiten Bevölkerungskreisen wie auch bei einer Mehrheit der politischen Eliten salonfähig geworden ist.
Der Identitätsbegriff hat eine zentrale Rolle – in linken wie in rechten Kreisen
Der Wandel vom biologistischen zum kulturalistischen Rassismus hat ein Konzept in den Vordergrund gerückt, das sowohl für als auch wider den Neorassismus ins Feld geführt wird: Identität. Auf antirassistischer Seite wurde der Begriff seit den 1960er Jahren zunehmend wichtig: Hier wurde das universelle Gleichbehandlungsgebot ergänzt und teilweise abgelöst von „identity politics“, das heißt von der Betonung der besonderen Identität diskriminierter Gruppen und vom Bestehen auf Differenz als Waffe im Kampf gegen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung.
Aber auch in kulturrassistischen Kreisen erlangte der Identitätsbegriff eine zentrale Rolle. Dort wurde etwa ab der Wende zum 21. Jahrhundert die Selbstbezeichnung als „Identitäre“ gebräuchlich, die darauf besteht, dass Identität und Kultur untrennbar verknüpft seien und „Fremde“ deshalb ausgeschlossen gehören. Im Wesentlichen unterscheiden sich die Identitätspolitik in rechten und linken Kreisen in zwei Punkten: Die ersteren erklären die Differenz zur Pflicht – etwa im Rahmen des beschönigend so genannten Ethnopluralismus – und propagieren die Erhaltung bestehender oder gar die Wiederherstellung vergangener Hierarchien zwischen den einzelnen Gruppen. Von links wird dagegen das Recht auf Differenz betont und in emanzipatorischer Absicht auf die Beseitigung diskriminierender Strukturen und Praktiken hingewirkt.
Diesen fundamentalen Unterschieden steht eine Gemeinsamkeit gegenüber: ein monolithisches Identitätsverständnis, das indes von der einschlägigen Forschung weitgehend aufgegeben worden ist. Beide richten den Fokus auf eine vermeintliche Kollektividentität, hinter der das Individuum mit seinen vielfältigen Prägungen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen zurücktritt. An die Stelle der Rechte der Individuen werden die Rechte imaginierter Kollektive gesetzt. Die Gefahr, dass die Grenzen zwischen linker und rechter Identitätspolitik verschwimmen, wird dadurch real.
Die Kritik an dieser Tendenz ist ernst zu nehmen, sofern es sich nicht lediglich um populistische Schaumschlägerei handelt, mit der emanzipatorische Bewegungen pauschal diskreditiert werden sollen. Was der Antirassismus braucht, ist nicht ein Abstieg in die Niederungen von Kämpfen zwischen widerstreitenden Partikularismen. Nötig ist ein durch die Errungenschaften der sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte von impliziten Ethnozentrismen und Sexismen geläuterter Universalismus.
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