Das tödliche Tabu

Odile Jolys

Ramatoulaye ist Vizepräsidentin des Mädchenclubs von Faraba. Er bespricht auch intime Themen –
Beschneidung aber nicht.

Genitalverstümmelungen
Noch immer werden im Senegal viele Frauen an ihren Genitalien verstümmelt. Wieso wirken Verbote und Aufklärung nur begrenzt?

Nennen wir sie Aicha. Sie ist 20 Jahre alt und hat ihr Dorf in der Region um Kolda im Süden des Senegals vor zwei Jahren verlassen, um an der Universität in der Hauptstadt Dakar zu studieren. Aicha ist Fulbe, eine der großen Bevölkerungsgruppen, in denen Genitalverstümmelungen bei Mädchen üblich sind. Nach vielen Zusicherungen, ihren Namen und den ihres Dorfes nicht preiszugeben, zeigt sich Aicha bereit, über ihre Erfahrung zu sprechen. Einen Tag vor dem Treffen sagt sie jedoch ab: „Ich habe zu viel Angst, dass jemand aus meinem Dorf erfährt, dass ich mit einer Ausländerin über das Thema gesprochen habe.“ Ganz anders Aissatou Baldé. Die 22-Jährige stammt aus Kolda und studiert ebenfalls in Dakar. Auch sie ist beschnitten, doch sie ist bereit, darüber zu sprechen. Ihre jüngere Schwester ist diesem Schicksal entgangen. Der Vater, ein Lehrer, hat seine Meinung geändert.

Genitalverstümmelungen bei Frauen sind im Senegal seit 1999 gesetzlich verboten und können mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Die Praxis ist laut Statistikamt zurückgegangen, aber nicht verschwunden. Fast jede vierte Frau zwischen 15 und 49 gab im vergangenen Jahr an, beschnitten worden zu sein, meist vor dem fünften Geburtstag.

Nicht alle Bevölkerungsgruppen vollziehen die Beschneidung. Die Wolof, denen rund ein Viertel der Bevölkerung angehört, praktizieren sie nicht, dafür aber die meisten  Mandingo, Fulbe, Diolas und Soninke. Die regionalen Unterschiede sind groß: In der Region Kédougou im Südosten des Senegals sind 91 Prozent der Frauen beschnitten, in der Region Kolda sind es rund zwei Drittel.
Aissatou Baldé erinnert sich nicht genau, wann sie beschnitten wurde. Es war im Dorf ihrer Großmutter und sie war zwischen drei und fünf Jahre alt. „Ich habe keine Ahnung, was genau mit meinem Körper gemacht wurde“, sagt sie. „Meine Mutter spricht nie darüber.“ Um etwas über die Beschneidung und ihre gesundheitlichen Folgen zu erfahren, hat sie ihren drei Jahre älteren Bruder gefragt und erfahren, dass es zu Problemen beim Urinieren, bei Schwangerschaften und der Fruchtbarkeit kommen kann. In der Schule wurde das Thema nicht behandelt.

Viele haben keine anatomischen Kenntnisse

Unter Genitalverstümmelung versteht man die teilweise oder vollständige Entfernung beziehungsweise Beschädigung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane. Die radikalste Variante ist die Infibulation. Dabei wird das gesamte äußere Geschlecht entfernt und die Schamlippen werden über der Scheide und dem Harnröhrenausgang zugenäht. Neben psychologischen Traumata durch die starken Schmerzen und die erlittene Gewalt können Frauen starke Blutungen und verschiedene Infektionen bis hin zur Blutvergiftung mit tödlichem Ausgang erleiden. Als Langzeitfolge treten häufiger Probleme bei der Geburt, Infektionen, die zu einem Verlust der Fruchtbarkeit führen können, und eine Verringerung der sexuellen Lust auf.

Aissatou Baldé ist keine Ausnahme. Viele betroffene Frauen haben keine anatomischen Kenntnisse. Sie können den Eingriff nicht beschreiben und wissen nichts über die Funktion ihrer Genitalien. „Meine Großmutter hat uns erklärt, eine nicht beschnittene Frau sei unrein und werde nie heiraten können“, sagt Aissatou Baldé.

Autorin

Odile Jolys

ist freie Journalistin in Dakar, Senegal, und berichtet aus Westafrika, unter anderem für den Evangelischen Pressedienst und „Neues Deutschland“.
Mit der Beschneidung erfüllen die Menschen eine kollektive Erwartung – eine soziale Norm. „Wir sprechen ungern von Genitalverstümmelung“, erläutert Molly Melching von der nichtstaatlichen Organisation Tos­tan. „Wir benutzen lieber den Begriff Beschneidung, denn er enthält keine böse Absicht.“ Die Beschneiderinnen seien der Ansicht, sie täten etwas Gutes. Wird ein Mädchen krank oder stirbt, werde das nicht als Folge des Eingriffs gesehen, sondern als eine Art „Verhexung“. Melching lebt seit 45 Jahren im Senegal und hatte drei Jahre in einem Dorf verbracht, bevor sie 1991 die Organisation Tostan gründete.

Zunächst sei ihr mulmig zumute gewesen, als die Frauen von ihr, einer weißen Amerikanerin, mehr über die weibliche Gesundheit und insbesondere über die Beschneidung wissen wollten, sagt sie. „Damals war es verpönt, darüber zu reden. Die Leute glaubten, es könne Unheil bringen.“ Doch langsam hätten die Frauen ihren Körper entdeckt. „Und sie haben gemerkt, welche Verantwortung sie für ihre Töchter tragen“, sagt Melching. Wenn die Menschen mehr über die Gefahren und die schädlichen Folgen der Beschneidung wüssten, könnten sie informierter entscheiden und seien eher bereit, die Tradition aufzugeben. In Malicounda war es am 31. Juli 1997 so weit. Doch die Folgen waren verheerend: Die Frauen des Dorfes wurden von ihrer Gemeinschaft beschimpft und verfemt.

Die Abschaffung öffentlich erklären

Eine soziale Norm kann nicht von einem einzelnen Dorf aus der Welt geschafft werden, hat Melching erkannt. Inzwischen sorgt Tostan dafür, dass die Entscheidung, die Praxis der Genitalverstümmelung aufzugeben, von einer breiten Basis in einer Gemeinschaft getragen wird: Erst dann wird eine öffentliche Erklärung abgegeben. Dazu versammeln sich Vertreter des Staates, der Religionsgemeinschaften, der Medien und die Autoritäten der Dörfer. Ärzte informieren über die gesundheitlichen Folgen der Beschneidung. Mit den öffentlichen Erklärungen soll deutlich gemacht werden: Die Menschen in den Städten oder in der Diaspora sehen, dass ihre Gemeinschaft die Beschneidung aufgegeben hat und dass ihr Marabout, ihr muslimischer Führer, sie nicht mehr empfiehlt.

In der Region Kolda ist der Anteil der beschnittenen Frauen von 94 Prozent im Jahr 2005 auf gegenwärtig zwei Drittel zurückgegangen. Doch trotz dieser Erfolge ist der Widerstand groß, wie der örtliche Imam Abdoulaye Zoubeirou berichtet. Er klärt andere religiöse Führer darüber auf, dass Beschneidung keine religiöse Pflicht ist, der Koran enthält keine Vorschriften dazu. „Wir sind also frei, darüber zu entscheiden. Und ich betone, dass die Töchter des Propheten nicht beschnitten waren“, erklärt Imam Zoubeirou. Im Bezirk Velingara folgten viele Menschen jedoch einem sehr konservativen Marabout, berichtet er. „Sie wollen nicht über das Thema reden, sie wappnen sich mit mystischen Handlungen dagegen.“ Er wirbt trotzdem dafür, die Praxis aufzugeben. „Das ist gefährlich, aber ich weiß mich zu schützen“, sagt er zufrieden, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.

Noch immer glaubt fast die Hälfte der Angehörigen muslimischer Ethnien, die Beschneidung praktizieren, dass ihre Religion die Genitalverstümmelung vorschreibt. Zwar ist das Thema inzwischen weniger tabuisiert, doch es bleibt heikel, aufgeladen mit vielen Gefühlen. Ihre Großmutter habe darauf bestanden, dass die Traditionen bewahrt werden müssten, sagt Aissatou Baldé. „Bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr hat sich mein Vater nicht getraut, ihr zu sagen, dass er meine jüngere Schwester nicht beschneiden lässt. Es war für ihn unmöglich, ihren Wunsch eindeutig zu verweigern.“

Molly Melching von Tostan weiß, dass sich auch nach einer öffentlichen Erklärung, eine Gemeinschaft werde die Genitalverstümmelung aufgeben, nicht alle daran halten. Laut Schätzungen würden 70 Prozent der Teilnehmenden der Praxis den Rücken kehren. Es zeige sich jedoch, dass Beschneidungen nun eher im Verborgenen vorgenommen werden. Laut Gesetz wird sie bestraft: Im September wurden in Dakar laut Medienberichten eine Beschneiderin und die Eltern eines Mädchens festgenommen, nachdem die Nachbarn der Familie, alarmiert durch die Schreie des Kindes, die Polizei gerufen hatten. „Das Problem ist, dass es Wolof waren, die Fulbe denunziert haben“, bringt Molly Melching ihre Skepsis über die Aussagekraft des Vorfalls zum Ausdruck. Sie denkt aber, dass das Gesetz nun nach 20 Jahren ein Werkzeug für die Sensibilisierungsarbeit sein kann.

Der Staat sei fest entschlossen, der Beschneidung ein Ende zu setzen, betont Cyprien Antoine Mballo, stellvertretender Gouvereur der Region Kolda. „Sie ist eine Verletzung der Menschenrechte, und sie behindert unsere Entwicklung zum Schwellenland.“ Doch der Umgang damit sei heikel – trotz des gesetzlichen Verbotes. „Es bleibt immer problematisch, Eltern oder Beschneiderinen, also alte Frauen, ins Gefängnis zu stecken.“ Außerdem werde nur sehr selten jemand angezeigt. „Unser Hauptproblem sind einige religiöse Führer“, meint der Vizegouverneur, der selbst katholisch ist.

Furcht vor der Freizügigkeit

Fatou Faye, die im Verein der Juristinnen Senegals aktiv ist, ist der Ansicht, dass man weniger Rücksicht auf die religiösen Führer nehmen sollte. „Sonst verstärkt man ihren Einfluss auf die Gesellschaft.“ Sie findet, junge Frauen sollten in der Schule mehr über ihren Körper und ihre Sexualität erfahren. Doch da ist der Staat vorsichtig: Über Gesundheit dürfen die Lehrerinnen und Lehrer sprechen, über Sexualkunde nicht.

Seit einigen Jahren nehmen junge Frauen ihr Schicksal selbst in die Hand. Medien berichten häufig über Mädchengruppen, die selbstbewusst in ihren Gemeinschaften über Familienplanung, Frühschwangerschaften, Kinderehen und Beschneidung sprechen. Molly Melching von Tostan ist aber skeptisch: „Der Ansatz entspricht nicht der kulturellen Realität. Welches Gewicht hat das Wort eines Mädchens für einen älteren Mann im Dorf?“ Sie fürchtet, solche Initiativen könnten noch mehr Widerstand hervorrufen – so wie Pop- oder Filmstars, die mit kurzen Röcken in den Dörfern erscheinen, um die Botschaft zu vermitteln. „Dann sagen sich die Dorfbewohner, genau diese Art der Freizügigkeit fürchten wir, wenn wir unsere Traditionen aufgeben.“

Im Dorf Faraba im Bezirk Djoulacolon von Kolda wurde vor drei Jahren ein Mädchenclub gegründet. Die Initiative geht auf das Jugendzentrum von Kolda zurück, das Unterstützung vom UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) erhält. Die Vizepräsidentin Ramatoulaye ist 18 Jahre alt: „Wir gehen in die umliegenden Dörfer und organisieren Gesprächsrunden mit Eltern oder den Jugendlichen, darunter auch Jungs“, berichtet sie. Ihre erfolgreichsten Gesprächsrunden befassten sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Für Ramatoulaye haben sie das Eis gebrochen, jetzt schäme man sich nicht mehr, intime Themen auch mit den Eltern zu besprechen.

Wie alle Mädchen in der Gruppe ist Ramotoulaye beschnitten. Sprechen sie untereinander über die Folgen des Eingriffs und die damit verbundenen Ängste? Ramatoulaye ist verunsichert. „Nein, so genau nicht“, sagt sie mit gesenktem Kopf und leiser Stimme. „Ich weiß gar nicht, was ich für Ängste habe, vielleicht vor der ersten Geburt.“ Ihre Stimme ist dabei kaum mehr hörbar.

Die Studentin Aissatou Baldé hatte das Gespräch zugesagt, weil sie gern mehr über die Folgen der Beschneidung erfahren wollte. Sie habe Ängste, manchmal weine sie deshalb, traut sie sich zu sagen. Sie mache sich Sorgen über die erste Schwangerschaft, aber auch darüber, unfruchtbar zu sein. Einen Arzt, der sie aufklären könnte, wie sie beschnitten ist, hat sie nie aufgesucht – und hat auch nie darüber nachgedacht. Doch eins ist für sie sicher: Ihre Töchter werde sie nie beschneiden lassen – „wenn ihr Gott helfe“.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2018: Mehr als Reis und Weizen
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