Ohne Beistand hinter Gittern

Zum Thema
Sonja Gerth

Das Gefängnis Santa Martha Acatitla in Mexiko-Stadt genießt die Aufmerksamkeit von Menschenrechtsorganisationen.

Mexiko
Für Drogenschmuggel und kleinere Vergehen sitzen Frauen in Mexiko hohe Strafen ab. Oft werden sie erniedrigt und ­misshandelt – doch nicht im Gefängnis Santa Martha.

Angefangen hat alles mit einer „toxischen Beziehung“, wie Diana heute sagt. Vor dreieinhalb Jahren arbeitete sie noch im Kundenservice einer Telefongesellschaft in ihrer Heimatstadt Pereira in Kolumbien. Ihr Freund war drogenabhängig, machte immer mehr Schulden. So viele, dass sie schließlich keinen anderen Ausweg sah, als sich als Drogenkurierin zu verdingen. Umgerechnet 3000 Euro sollte sie erhalten, wenn sie ein Päckchen in einem Hotel in Mexiko-Stadt abgab. Doch dazu kam es nicht. Am Flughafen wurde ihr Gepäck durchsucht, und bevor Diana sich versah, saß sie in einer Arrestzelle. „Dort war ich drei Tage, sie haben mir all meine Sachen weggenommen und mich dann ins Gefängnis von Tepic im Bundesstaat Nayarit gebracht“, erzählt die 32-Jährige. Beim Verhör sei weder ein Vertreter der kolumbianischen Botschaft noch ein Anwalt dabei gewesen.

Dianas Geschichte ist exemplarisch für viele Frauen, die in Mexiko im Gefängnis sitzen. Isabel Erreguerena von der nichtstaatlichen Organisation „Equis Justicia para las Mujeres“, die sich für einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz einsetzt, hat in vielen Gesprächen ein Muster festgestellt. Die meisten Frauen geben an, aus Armut ins Drogengeschäft eingestiegen zu sein. Andere wurden von ihrem Partner oder Bekannten hineingezogen. Und schließlich gibt es die, die gerne ein wenig über ihren Verhältnissen leben würden. Allen gemeinsam ist, dass sie sich keinen guten Rechtsbeistand leisten konnten und zu langen Strafen verurteilt wurden. Diana, die das erste Mal straffällig geworden ist, hat zehn Jahre bekommen, die Mindeststrafe für Drogenschmuggel nach Mexiko. Seit März 2015 verbüßt sie ihre Strafe, zunächst in zwei verschiedenen Bundesgefängnissen, inzwischen im Frauengefängnis von Santa Martha Acatitla in Mexiko- Stadt.

Ihre Mitgefangene Matilda aus Honduras wurde noch härter bestraft. Von ihren 17 Jahren und sechs Monaten hat sie bereits 14 Jahre und sieben Monate abgesessen. Die 44-Jährige sitzt  aufrecht an dem grün gestrichenen Gruppentisch aus Beton im Innenhof des Gefängnisses, die Haare hochgesteckt, mit goldenen Kreolen im Ohr. Ihre Stimme ist dunkel und streng. „Damals war ich naiv und selbstsüchtig“, sagt sie. „Ich wollte die Welt sehen, und mein Bekannter hat sich um alles gekümmert.“ Sie ließ fünf Töchter zwischen einem und 13 Jahren in Honduras zurück. Die Achtjährige nahm sie mit, durch die Kinder sollte die achtköpfige Gruppe von Drogenschmugglern „weniger auffallen“, so ihr Bekannter, der sie dazu überredet und ebenfalls zwei Kinder mitgenommen hatte.

Doch die Reise endet traumatisch. Die Zollbeamten in Mexiko-Stadt  entdecken vier Kilogramm Kokain in Matildas Koffer. Mutter und Tochter werden sofort getrennt, die Kleine kommt in die Obhut der Botschaft und wird nach Honduras abgeschoben. „Seit diesem Augenblick habe ich sie nicht wieder gesehen, und demnächst wird sie schon 23“, erzählt Matilda und senkt den Blick. „Ich war eine schlechte Mutter damals.“ Ihr Pflichtverteidiger habe sie nicht gut vertreten. Er habe noch nicht einmal die Mindeststrafe gefordert, dabei sei sie zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.

Eine gerechte Behandlung vor Gericht sei der wichtigste Schritt im Strafverfahren, erklärt Isabel Erreguerena. Die werde den Frauen häufig verwehrt. Hier macht sich die Diskriminierung bemerkbar, die sie schon vorher als Frauen, Angehörige der indigenen Minderheiten oder Migrantinnen erlebt haben. Laut dem mexikanischen Statistikamt Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI) haben rund drei Viertel aller weiblichen Gefangenen höchstens die sechste Klasse absolviert, die meisten, weil sie früh geheiratet und Kinder bekommen haben. „Es ist ein strukturelles Problem“, meint Erreguerena. „Der Staat kann den Menschen nicht ihr Grundrecht auf Ernährung oder Gesundheit garantieren. Sie sehen dann die Kriminalität als einzige Chance, an Geld zu kommen.“

Laut INEGI saßen im Oktober 2016 in Mexiko rund 211.000 Menschen hinter Gittern, rund fünf Prozent der Häftlinge waren weiblich. Knapp die Hälfte der rund 340 Gefängnisse nehmen Frauen auf, Bundesgefängnisse für Frauen, die gegen Bundesgesetze verstoßen haben, gibt es lediglich zwei.

Düsteres Bild: Die Rechte von Tatverdächtigne und Inhaftierten werden missachtet

Auch während der Gerichtsverfahren werden die Rechte der Tatverdächtigen missachtet. Laut einer Umfrage von INEGI haben rund 58 Prozent der Strafgefangenen während ihrer Festnahme physische Gewalt erlebt, fast die Hälfte wurde mit der Waffe bedroht, fünf Prozent der Frauen wurden vergewaltigt. 41 Prozent gaben an, die Polizisten hätten damit gedroht, gefälschte Beweise gegen sie vorzulegen. Ein Drittel sagte, die Polizisten hätten ihre Familie schikaniert. Vor dem Haftrichter wurden nur zwei Drittel über ihre Rechte informiert, nur ein Fünftel konnte ihren Anwalt oder ihre Anwältin kontaktieren. Fast die Hälfte aller Strafgefangenen gab an, von der Polizei oder anderen Behörden zu Teilen ihres Geständnisses gezwungen worden zu sein.

Autorin

Sonja Gerth

ist Journalistin und arbeitet als Fachkraft von Brot für die Welt in der feministischen Nachrichtenagentur Cimac Noticias in Mexiko-Stadt.
Das düstere Bild setzt sich im Strafvollzug fort. Santa Martha ist eine Ausnahme, weil das Gefängnis im Hauptstadtdistrikt liegt und die Aufmerksamkeit von Menschenrechtsorganisationen genießt. In anderen Haftanstalten ist die Lage schlimmer, das hat die Kolumbianerin Diana am eigenen Leib erlebt: „Im Bundesgefängnis durftest du noch nicht einmal das Haar offen tragen, musstest immer mit dem Blick nach unten gehen. Wir waren zu siebt in einer Zelle mit drei Betten. Den ganzen Tag waren wir eingeschlossen, es gab nur eine Stunde Hofgang“, sagt die junge Frau, die ihre Strafe seit 2015 verbüßt. „Sie haben uns geschlagen, auch Elektroschockpistolen benutzt. Einige Frauen haben sexuelle Gewalt erlebt. Das ist mir zum Glück erspart geblieben.“

Die Erniedrigung spürt Diana noch heute. „Dein Selbstbewusstsein ist am Boden, wenn du kein Shampoo und keine Seife hast, um dich zu waschen.“ Mehrere Tage hätten sie dieselben Unterhosen tragen müssen. „Wenn du deine Tage hattest, war es sehr schwierig.“ Auch die medizinische Versorgung war schlecht. „Wir waren ja in der Zelle eingesperrt. Hier in Santa Martha kann man einfach zum Arztzimmer laufen, dort mussten wir die Wachen davon überzeugen, dass es uns wirklich schlecht ging.“ Eine Frau aus ihrem Schlafsaal sei an einem Herzinfarkt gestorben. „Sie hat den Wachen gesagt, sie fühle sich krank, aber die haben sie nicht zum Arzt gebracht.“

Frauen leiden anders unter dem Freiheitsentzug als Männer

Noch größere Mängel sehen die Aktivistinnen von Equis Justicia in der psychologischen Betreuung: Auf die zwischenzeitlich fast 2000 Gefangenen in Santa Martha komme nur eine Handvoll Psychologinnen. Eine individuelle Unterstützung ist da nicht möglich – und wäre doch nötig. „Frauen leiden anders unter dem Freiheitsentzug als Männer“, sagt Isabel Erreguerena. „Sie fühlen mehr Verantwortung für ihre Familie und ihre Kinder.“ Knapp 90 Prozent der Insassinnen in Mexiko sind Mütter. Doch im Gefängnis ist es schwierig, den Kontakt zu den Kindern aufrecht zu erhalten. „Im Bundesgefängnis durfte man nur einmal die Woche zu einer bestimmten Zeit telefonieren. Wenn dann zu Hause niemand abgenommen hat, war die Chance vorbei“, berichtet Diana. Ausländerinnen wie sie erhalten praktisch nie Besuch. Und auch für die Familien von Mexikanerinnen, die in Frauengefängnissen weit weg von ihren Wohnorten inhaftiert sind, ist die Reise schwierig. „Wir stellen fest, dass Frauen deutlich weniger Besuch erhalten als Männer“, meint Isabel Erreguerena.

Matilda aus Honduras hat in der Haft eine siebte Tochter bekommen, die mittlerweile neun Jahre alt ist. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr durfte sie bei der Mutter bleiben und die gefängniseigene Kita besuchen, in der zeitweilig hundert Kinder betreut wurden. Matilda weiß, dass der Aufenthalt von Kindern hinter Gittern international umstritten ist. „Aber für mich war es ein großes Geschenk. Und es hat ihr an nichts gefehlt, darum hat sich auch die Gefängnisleitung gekümmert.“ Sie bedauert, dass sie ihre Töchter aus dem Gefängnis heraus nicht unterstützen kann. Ihre Arbeit in der Schneiderei wird mit umgerechnet 3,20 Euro am Tag entlohnt, das Geld reicht gerade, um ihre eigenen Bedürfnisse zu decken.

Ihre Gefängniskleidung, Steppjacke, Leggings und Turnschuhe, hat Matilda selbst gekauft. Keine Insassin in Santa Martha Acatitla hat eine Uniform an. Jede ist anders gekleidet – die Verurteilten in dunkelblau, die Untersuchungsgefangenen in beige. Wenn sie Glück haben, bringen die Verwandten bei Besuchen Kleidung oder Hygieneartikel mit. Denn auch Toilettenpapier, Binden, Shampoo oder Seife müssen gekauft werden – ein klarer Verstoß gegen die Leitlinien zur Behandlung und zur Stärkung der Rechte von Strafgefangenen, die die Vereinten Nationen mit den so genannten „Nelson Mandela Rules“ und den „Bangkok Rules“ für den Schutz der Rechte von weiblichen Straffälligen und Kindern in Haft verabschiedet haben.

Nähen, Kosmetik, Nägel machen 

Darin geht es auch um Wiedereingliederungshilfen nach der Entlassung – mit denen Isabel Erreguerena nicht ganz zufrieden ist. „Bei den Fortbildungen im Gefängnis sehen wir sehr viele Stereotypen und Klischees. Nähen, Kosmetik, Nägel machen, das sind alles Tätigkeiten, mit denen die Frauen auch nach der Zeit im Gefängnis bei informeller Arbeit landen, mit der sie sich kaum über Wasser halten können“, sagt sie. „Aber das Gefängnis ist eben ein Abbild unserer patriarchalen Gesellschaft. Und die Frauen möchten diese Fortbildungen auch.“ Ohnehin wäre es Equis Justicia und anderen Organisationen lieber, den Frauen würden Alternativen zum Strafvollzug angeboten wie ein offener Vollzug oder soziale Arbeit.

Dies gelte vor allem für Drogendelikte, sagt Erreguerena. Der mexikanische Staat wolle mit den Verurteilungen zeigen, dass er hart gegen die organisierte Kriminalität vorgehe. Doch viele der Verurteilten, wie Diana und Matilda, seien in der Hierarchie auf der untersten Stufe. Sie würden für Transport und Besitz von Drogen verurteilt, hätten aber keine Waffen getragen oder Personen körperlich geschädigt. Die oft jahrzehntelangen Haftstrafen wirken sich zudem schädlich auf ihre Familien aus: Die Abwesenheit der Mutter kann bedeuten, dass sich der Teufelskreis aus Armut und Kriminalität wiederholt. In der INEGI-Studie geben sechs Prozent der Gefangenen an, dass bereits ein Elternteil in Haft saß.

Matildas Kinder in Honduras sind bei Verwandten untergekommen und haben „Gott sei Dank“, so sagt sie, die Schule geschafft. Ihre jüngste Tochter lebt seit drei Jahren im Internat einer Stiftung in Mexiko-Stadt. Einmal im Monat kommt sie mit Sozialarbeiterinnen zu Besuch. „Das ist ein wundervoller Tag“, sagt Matilda. „Mami, jetzt nur noch zwei Jahre und elf Monate, zählt sie dann und ich sage ihr, hör auf mit den Zahlen, das ist zu deprimierend.“ Wenn sie entlassen ist, möchte sie so schnell es geht zurück in die Heimat. Wovon sie dann leben will? „Vielleicht nähen, wie ich es hier gelernt habe. Bettbezüge und Tischdecken, das könnte ein Projekt sein.“

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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