Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erweckte die Welt den Eindruck von Stabilität. Wirtschaftlich ging es voran, und die Demokratie fasste in immer mehr Ländern Fuß. Unter amerikanischer Führung und dem wachsamen Auge der Vereinten Nationen prägte internationale Zusammenarbeit die Weltordnung.
Dieses Bild hat sich heute dramatisch verändert. China ist nicht so geworden „wie wir“ und Russland ist zu autoritären Mustern zurückgekehrt. Es herrschen Konfrontation und Aufruhr. Autokraten trumpfen selbstbewusst auf und ernten zunehmend Respekt. In Westeuropa hat sich ein politisches Klima der Wut breitgemacht. Die Demokratie ist in die Defensive geraten, demokratische Länder werden von Selbstzweifeln und innerer Zerrissenheit geplagt. Die USA haben Donald Trump zum Präsidenten gewählt, Großbritannien hat für den Brexit gestimmt.
Welche Aufgaben stellt uns China? „Westliche Staatsführer und Experten haben häufig in China hineinprojiziert, was sie sehen wollten, und das Land durch die rosarote Brille des Westens betrachtet“ – das schrieb Kevin Rudd, ehemaliger Premierminister von Australien und heute Präsident des Asia Society Policy Institute, in der „New York Times“. Fehleinschätzungen der Volksrepublik ergeben sich zum großen Teil aus Missverständnissen über Deng Xiaoping, Chinas starken Mann im Hintergrund von 1979 bis 1997, und dessen postmaoistische Reformen.
Dauerhafte Festigung der Parteiherrschaft
Deng war ein Pragmatiker, aber sein Ziel war, das Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) zu retten. Er übernahm 1979 einen Staat, der finanziell bankrott und dessen Autorität untergraben war. Beobachter dachten, Deng habe das Regime von einem politischen Projekt, das es unter Mao Tse-tung gewesen war, in ein ökonomisches verwandelt mit dem Ziel, Wachstum zu erreichen. Aber das hat er nicht. Dengs „Reform- und Öffnungspolitik“ war auf die Wirtschaft beschränkt, politisch ging es ihm um Wiederherstellung. Damals wie heute ist dauerhafte Festigung der Parteiherrschaft das Ziel, das absolut entschlossen verfolgt wird. Die Volksrepublik China war, ist und bleibt ein politisches Projekt.
2012 kam Xi Jinping in Peking an die Macht. Da die meisten Beobachter die Volksrepublik nun als Wirtschaftsprojekt betrachteten, erwartete man allgemein, dass Xi die Priorität auf Wirtschaftsreformen legen würde. Doch es stellte sich heraus, dass er vorrangig politische Ziele verfolgte. Während seiner ersten Amtszeit leitete er eine Straffung der bürokratischen Befehlsstrukturen ein, indem er rücksichtslos die Macht an der Spitze konzentrierte.
Xi übernahm persönlich das Ruder bei der Zivil-, Sicherheits- und Militärbürokratie, beendete die Tradition der kollektiven Führung und festigte seine eigene Position mit einem Führerkult, der an den Mao Tse-tungs erinnert. Zensur, Internetkontrolle und Propaganda wurden verschärft, ebenso die Parteidisziplin, die politische Erziehung an Schulen und Universitäten, die „Leitlinien“ für Literatur und Künste und anderes. Das Budget für innere Sicherheit ist nun größer als der Militärhaushalt und es wächst schneller. Diese „Reformen“ ergeben zusammen einen radikalen Umbau des Regimes: Mit ihnen schüttelt die KPC Dengs Erbe des Pragmatismus und der kollektiven Führung ab.
Schließlich hat Xi die Ideologie zurückgebracht. Kurz nachdem er 2012 Generalsekretär der Partei geworden war, besuchte er mit dem ständigen Ausschuss des Politbüros die Ausstellung „Chinas Weg zur Erneuerung“ im Pekinger Nationalmuseum. Dort proklamierte er seinen inzwischen omnipräsenten „chinesischen Traum“, der allen Aspekten der Staatstätigkeit, im Inland wie im Ausland, Sinn und Richtung geben soll. Der Marxismus hat in China seit Dengs Reformen wenig Einfluss. Xi hat ihn nun ersetzt durch einen Nationalismus chauvinistischer Prägung. Sein „Traum“ ist einer von nationaler Größe und Leistungskraft bis hin zu dem Anspruch, dass „die Zukunft und das Schicksal jedes Einzelnen eng mit dem Zukunft und dem Schicksal der Nation verknüpft sind“. Seine Abschlussrede vor dem Volkskongress in Peking am 19. März dieses Jahres war seine bisher unverblümteste Feier des Ruhms der Nation.
Supermacht Rissland
Autor
Stein Ringen
ist norwegischer Politikwissenschaftler, emeritierter Professor der Universität Oxford und Gastprofessor für politische Ökonomie am King’s College London. Sein jüngstes Buch ist „The Perfect Dictatorship: China in the 21st Century“. https://ThatsDemocracy.comPutins Kreml ist ein Regime, das sich Geltung verschaffen will. Vorbei die Unsicherheit seiner ersten Präsidentschaft (2000 – 2008). Damals hoffte man, Putin werde mit der Korruption aufräumen, zu Hause dem Gesetz mehr Geltung verschaffen und mit anderen Nationen zusammenarbeiten. Stattdessen hat sich das kleptokratische System noch verfestigt. Einigen unliebsamen Oligarchen wurde ihre Beute abgenommen, andere wurden ins Gefängnis geworfen, viele haben das Land verlassen. Aber die Korruption wurde nicht beseitigt, sondern gebündelt in einem einzigen Clan von Oligarchen unter Putins Kontrolle.
Zweitens wurde jede Hoffnung auf Demokratisierung zunichte gemacht. Russland ist heute ein autokratisches System mit einem dünnen Anstrich von Demokratie. Bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen gab es außer Putin zwar sieben weitere Kandidaten, doch keiner von ihnen war unabhängig, alle traten mit seinem Segen an. Der Kreml unterliegt keinerlei äußerer Kontrolle – weder Parlament noch Justiz noch Presse sind dazu in der Lage. Drittens hat das Regime sich eine ideologische Legitimation verschafft. Angesichts der unappetitlichen Politik des Kreml ist man versucht zu denken, man habe es mit einem primitiven Herrschaftsapparat zu tun, dem außer brutaler Gewalt nichts einfällt. Doch das hieße, Putin und seinen Zirkel zu unterschätzen. Sie verfolgen in Wahrheit sehr ausgefeilte Ideen.
Westliche Beobachter haben die Auflösung der Sowjetunion als Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur erlebt. Die Russen sahen etwas ganz anderes. Die Sowjetunion hatte mit ungeheurem Erfolg eine jahrhundertelange Expansion Russlands vollendet, die in ein Reich von Zentralasien bis nach Zentraleuropa mündete. Was Putin „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt hat, war nicht der Verlust des Kommunismus, sondern der Verlust dieses Reiches. Als Reaktion darauf hat er mit dessen Neuaufbau begonnen. Er wird in seiner Lebenszeit nicht abgeschlossen werden können, aber Putin gibt Russland wieder eine Aufgabe und stellt sicher, dass er als der große Staatsführer in die russische Geschichte eingeht, der diesen Prozess in Gang gesetzt hat.
Die Grundlage seiner Ideologie ist eine Vision namens Eurasien. Danach ist Russland ein spirituelles Reich der Tugend mit historisch-religiösem Ursprung. Dessen spirituelle Legitimität lebt auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiter – unabhängig davon, wie gerade die Staatsgrenzen verlaufen. Deshalb darf die Ukraine nicht unabhängig und europäisch sein – sie gilt unverrückbar als Teil des spirituellen Russland. Eurasisch bedeutet, dass dieses Reich sich stärker im Osten verankert sieht als in der atlantischen Welt.
Eine lange Liste von Feinden
Der zweite Bestandteil der Ideologie ist die Überzeugung, dass Russland Feinde hat, die ihm Böses wollen: das atlantische Europa, die Europäische Union, die USA, der Liberalismus, die Demokratie. Diese Weltsicht fand sich durch die westliche Politik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestätigt: Michail Gorbatschow akzeptierte die Auflösung des Reiches in Osteuropa und die deutsche Wiedervereinigung, und im Gegenzug versprachen die USA und die Bundesrepublik, die Nato werde sich nicht Richtung Osten erweitern. Man empfand es in Moskau als Wortbruch, dass dann Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts und die baltischen Republiken in die Nato aufgenommen wurden.
Europas Annäherung an die Ukraine wurde als Fortsetzung dieses Betrugs gewertet. Putins Regierung ist überzeugt, dass Amerika und Europa niemals Russland Respekt zollen oder es als gleichwertigen Partner anerkennen werden. Auf diesen Ideen beruht die Überzeugung, dass Russland Grund hat zu kämpfen und als Reich der Tugend auch das Recht dazu. Aber warum führt es den Kampf mit schmutzigen Mitteln? Hinter dem russischen Staat steht eine schwach entwickelte Wirtschaft und eine Bevölkerung mit einem niedrigen Bildungs- und Gesundheitsstand. Putins Dilemma: Seine Ambitionen sind größer als seine Macht. Daher „ist der Kern der Außenpolitik Russlands strategischer Relativismus: Russland kann nicht stärker sein, also muss es andere schwächer machen“, schreibt der Historiker Timothy Snyder.
Russland und China sind beide entschlossene und einer Ideologie verpflichtete autoritäre Regime. Beide verfolgen in ihrer Außenpolitik Strategien, die über normale nationale Interessenvertretung hinausgehen und sehr stark in die Kultur und Innenpolitik ihrer Gegner hineinzuwirken suchen. Russland führt sich als Störenfried auf, während Peking danach trachtet, Respekt für sein Regierungsmodell zu erzeugen.
Wie weit Pekings Strategie der Beeinflussung geht, hat das Mercator Institute for China Studies in Berlin in einem Bericht mit dem Titel „Authoritarian advance: Responding to China‘s growing political influence in Europe“ dargestellt. Es ist die erste verfügbare Tiefenanalyse dieser chinesischen Politik, in dem Fall gegenüber Europa. Dort heißt es: „Chinas rasch wachsende politische Einflussnahme in Europa und die selbstbewusste Werbung für seine autoritären Ideale sind eine große Herausforderung für die liberale Demokratie sowie die Werte und Interessen Europas.“ Peking stütze sich auf seine Wirtschaftskraft und den Apparat der kommunistischen Partei, der darauf ausgerichtet ist, rund um den Globus Einflussphären aufzubauen. „Die Versuche Chinas, in Europa politisch Einfluss zu nehmen, werden mittel- bis langfristig viel folgenreicher sein als die des Kremls“, urteilen die Wissenschaftler.
„Vorauseilendes Gehorsam" europäischer Staaten
China verfüge über ein umfassendes und flexibles Repertoire an teils offenen, teils verdeckten Einflussinstrumenten, die es vor allem auf drei Gebieten einsetze: gegenüber Eliten aus Politik und Wirtschaft, Medien und der öffentlichen Meinung sowie der Zivilgesellschaft und der akademischen Welt. Europäische Staaten neigten zunehmend dazu, ihre Politik in „vorauseilendem Gehorsam“ anzupassen, um gut mit den Chinesen auszukommen, heißt es in der Studie weiter.
Politische Eliten in der Europäischen Union und in deren Nachbarschaft machten sich bereits Sprachregeln und Interessen Chinas zu eigen, selbst wenn sie nationalen oder europäischen Interessen zuwiderlaufen. Die Einheit der EU habe unter der chinesischen Taktik des „Teile und herrsche“ gelitten, besonders, wenn es um den Schutz und die Förderung liberaler Werte und der Menschenrechte geht. „Peking profitiert auch von den Diensten bereitwilliger Helfer unter europäischen Politikern und Intellektuellen, die gern chinesische Werte und Interessen fördern“, so das Mercator Institute for China Studies in seiner Analyse.
Die Stabilität der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts ist einem neuen Kalten Krieg gewichen, der nun an zwei Fronten geführt wird. Russland hat einen Kurs des Neo-Imperialismus eingeschlagen. China bemüht sich, seine Position als in der Welt dominierendes „Reich der Mitte“ wiederzugewinnen. Beide verfolgen ihre Ziele mit der selbstbewussten Entschlossenheit, die der Rückhalt in einer nationalistischen Ideologie verleiht.
Doch es gibt die freie Welt, in der die Bürger Meinungs- und Informationsfreiheit, den Schutz des Rechtsstaats und gegenseitiges Vertrauen genießen. Die Demokratien müssen zusammenstehen und die Stimme gegen das Vordringen der selbstbewussten Autokratie erheben. Doch das geschieht nicht. Die Europäische Union ist dazu nicht fähig – ihre Einheit wird durch ökonomische Trägheit, Populismus und den Brexit untergraben. Und die Vereinigten Staaten ziehen sich aus der internationalen Solidarität und Führung zurück.
Das Selbstvertrauen und die Entschlossenheit, die unverkennbar die Seite der Autokraten prägen, fehlen ebenso unverkennbar auf der Seite der Demokraten. Bevor wir uns der Herausforderung durch die autoritären Supermächte stellen können, müssen wir erst einmal diese Herausforderung als Tatsache zur Kenntnis nehmen. Und zweitens müssen wir auf uns selbst schauen und unser eigenes demokratisches Haus in Ordnung bringen.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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