Hauptstadt der Auswanderer

Sam Olukoya

Ogenegha Unuvwaheher mit Tochter und Sohn inBenin City. Eines ihrer insgesamt fünf Kinder hat sie auf der Reise Richtung Europa verloren.

Rückkehrer in Nigeria
In Benin City in Nigeria träumen angeblich mehr Menschen als in jeder anderen Stadt Afrikas von einer Zukunft in Europa. Die haben zwei junge Frauen gesucht – und ziehen eine bittere Bilanz.

Als alleinerziehende Mutter von fünf Kindern war das Leben in Nigeria schwer für Ogenegha Unuvwaheher. „Eine Freundin in Italien hat mir erzählt, dass ich nach Europa kommen soll, da das Leben dort einfacher ist“, sagt sie. Für die Aussicht auf eine bessere Zukunft entschied sie sich, mit ihren drei jüngsten Kindern, die zu dieser Zeit alle jünger als neun Jahre waren, die Reise nach Europa zu wagen. Wie die meisten Auswanderer aus Subsahara-Afrika, die illegal nach Europa wollen, begab sich die Familie auf eine gefährliche Reise durch die Sahara nach Libyen. Von dort würde sie ein Boot über das Mittelmeer nach Europa bringen, hofften sie.

Auf der anstrengenden Busfahrt von Benin City im Südwesten von Nigeria nach Agadez im Niger wurden ihre Kinder krank. Der Zustand ihres zweijährigen Sohnes verschlechterte sich zusehends und er starb, bevor die Familie die Reise nach Libyen antreten konnte. Sie bestatteten das Kind in Agadez.

Die Reise von Agadez nach Libyen durch die Sahara erwies sich als noch mühsamer. Es war pures Glück, dass die beiden anderen Kinder die Fahrt durch die Wüste mit den Schmugglern überlebten. „Die Wüste war schlimm, es gab kein Wasser zum Trinken und ich habe einige Leichen gesehen – manche waren schon Skelette, andere waren gerade erst gestorben“, erzählt Unuvwahehers Tochter Blessing, die gerade zehn Jahre alt geworden ist. Der Anblick der vielen Leichen hat sie schockiert. „In der Nacht habe ich Geister gesehen, und ich hatte immer Angst“, sagt sie.

Nach der Ankunft im libyschen Sabha wurden Unuvwaheher und ihre Kinder zweimal in die Sklaverei verkauft, das erste Mal von den Schleusern, die sie durch die Wüste gebracht hatten. Unuvwaheher sagt, die Sklavenhändler hätten sie gefoltert, damit ihre Verwandten in Nigeria Lösegeld zahlen. „Alle Schrammen auf meinem Gesicht kommen von den Schlägen, und die Blutergüsse kommen von der Waffe, mit der sie mich geschlagen haben, um mir das Genick zu brechen.“ Sie habe gebrochene Knochen gehabt, und einmal sei sie ohnmächtig geworden, als die Entführer sie mit einer Pistole in den Nacken schlugen. „Ich fiel um und meine Kinder dachten, ich sei tot“, erinnert sie sich.

"Alle hatten Angst, weinten und beteten"

Die Verwandten von Ogenegha Unuvwaheher in Nigeria mussten viel Geld aufbringen, um die Sklavenhändler zu bezahlen. Aber die neu gewonnene Freiheit brachte Unuvwaheher und ihren Kindern kein Glück. Als sie versuchten, das Mittelmeer zu überqueren, ertranken sie fast. „Nach langer Zeit auf dem Meer lief das Boot voll und es begann zu kentern. Die Bootsbesitzer sagten, dass sie uns erschießen und das Boot kentern lassen würden“, erinnert sich Blessing. „Die Passagiere hatten Angst – wir alle weinten und beteten.“ Libysche Beamte retteten die Reisenden, kurz bevor das Boot unterging. Die Passagiere kamen ins Gefängnis – auch Unuvwaheher und ihre Kinder. Vergangenen Dezember wurden sie dann zurück in ein Flugzeug nach Nigeria gesetzt.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Was Unuvwaheher und ihre Kinder erlebt haben, ist typisch dafür, was Zehntausende Afrikaner durchmachen, die illegal nach Europa zu kommen versuchen. Viele von ihnen werden von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Europäischen Union in ihre Heimatländer zurückgeführt. Ein Großteil sind Nigerianer, und von denen kommen die meisten wie Unuvwaheher aus Benin City.

Angeblich ist Benin City die Stadt mit der höchsten Zahl an Afrikanern, die aus Subsahara-Afrika illegal nach Europa aufbrechen. „In Benin City hat fast jede Familie einen Angehörigen in Europa, hat jemanden auf dem Weg dorthin verloren oder kennt jemanden, der gerade plant, nach Europa zu reisen“, sagt Angela John, eine weitere Rückkehrerin. Jedes Jahr werden vermutlich Zehntausende Auswanderer illegal aus dem Bundesstaat Edo geschmuggelt, dessen Hauptstadt Benin City ist. „In Benin City herrscht eine sehr hohe Arbeitslosigkeit, die Jugendlichen suchen verzweifelt nach Jobs, und deshalb wollen sie nach Europa“, meint John.

Einige Auswanderer haben es geschafft: Sie schicken Geld oder Autos nach Hause, und manche der schönen Häuser in Benin City sollen von Leuten gebaut worden sein, die in Europa leben. Ein Stadtteil trägt den Spitznamen „Klein London“, ein Hinweis auf den eigentlichen Wohnort der Hausbesitzer. Der Bauunternehmer Tony Emmanuel hat mehrere Häuser für erfolgreiche Auswanderer gebaut. Sein neuestes Projekt ist ein modern eingerichteter Bungalow. Er gehört einer jungen Frau, die in Spanien lebt. Für viele Einwohner von Benin City sind diese Erfolgsgeschichten ein klares Zeichen dafür, dass die Straßen Europas mit Gold gepflastert sind.

Angela John ging mit 16 Jahren von Benin City nach Europa, nachdem Menschenhändler ihr ein besseres Leben dort versprochen hatten. Stattdessen wurde sie wie viele andere junge Frauen in die Prostitution gezwungen. Humanitäre Helfer retteten sie von den kalten Straßen Frankreichs und halfen ihr, nach Nigeria heimzukehren. Aufgrund der harten Lebensbedingungen wollte sie selbst zurück. Menschen wie Angela John oder Ogenegha Unuvwaheher kehren häufig frustriert und beschämt nach Benin City zurück. Unuvwaheher sagt, sie habe versagt, da sie auf dem Weg nach Europa ein Kind verloren hat. „Ich bin mit drei Kindern losgezogen und kam nur mit zweien zurück“, lautet ihre bittere Bilanz.

Aber das ist nur eines der zahlreichen Probleme, mit denen sie zu kämpfen hat. Ihre Familie hat Tausende Euro Schulden gemacht, um sie aus der Sklaverei in Libyen freizukaufen. Zurück zu Hause muss Unuvwaheher das Geld auftreiben – kaum machbar für die alleinerziehende Mutter, die keine Arbeit hat und sich auch noch um ihre Kinder kümmern muss. Da die 40-Jährige sich keine eigene Wohnung leisten kann, lebt sie mit ihren Kindern bei ihrer Mutter – in einer ohnehin überfüllten kleinen Bude. Sie leidet sehr darunter, nun eine Last für die Familie zu sein, für die sie eigentlich sorgen sollte. Bei Angela John gab es regelmäßig Streit in der Familie. Da sie die Situation nicht mehr ertrug, musste sie ausziehen und bei Freunden unterkommen, die darüber jedoch auch nicht erfreut waren.

Tony Emmanuel sagt, die Erfahrungen von Unuvwaheher und John seien typisch für Rückkehrer. „Die Migration von Benin City nach Europa hat für die Stadt und die Region Edo mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht.“ Und die Situation werde mit den vielen Rückkehrern immer schlimmer. „Es gibt keine Arbeitsplätze in Benin City, mit den Rückkehrern steigt lediglich die Arbeitslosenquote.“

Die Schleuser nutzen den Glauben an Voodoo aus

Die Regierung des Bundesstaates Edo hat mehrere Fortbildungsprogramme aufgelegt, die Rückkehrern helfen sollen, eigene Betriebe oder Geschäfte zu starten. Die staatliche Arbeitsgruppe gegen Menschenhandel ist zuständig für die Rehabilitierung der Rückkehrer. „Wir haben Schulungen in der Landwirtschaft, Fortbildungen in der Kinematografie und im Bauwesen“, sagt die Leiterin der Gruppe, Abieyuwa Oyemwense. Andere Programme schulen Frauen, die in der Gastronomie arbeiten möchten.

Auch die Europäische Union und die IOM, die die Rückführungen nach Benin City durchführen, bieten Fortbildungen für Rückkehrer an. „Die Schulungen sollen sie in verschiedenen Geschäftsbereichen stärken und ihre Einstellung ändern“, heißt es bei der IOM. Zusätzlich unterstützt die Organisation einzelne Rückkehrer finanziell, damit sie Unternehmen gründen können. Diese Hilfe gehört zum größeren Programm, um die illegale Einwanderung nach Europa einzudämmen. Die Idee dahinter ist, dass Menschen, die über eine stabile Lebensgrundlage verfügen, sich eher nicht auf den Weg nach Europa machen. Es gibt aber immer wieder Leute, die es ungeachtet dieser Unterstützung vorziehen, nach Europa zu gehen, weil sie darauf bestehen, dass ihre Aussichten auf Erfolg dort besser sind.

Gefährdet wird der Versuch, die illegale Bewegung nach Europa aufzuhalten, weiterhin von den Schleusern. Laut der 2003 eingerichteten nigerianischen Regierungsbehörde gegen den Menschenhandel (NAPTIP) nutzen die Schleuser den Glauben ihrer Opfer an Voodoo aus; das wiederum erschwert es, ihnen das Handwerk zu legen. Schleuser sind dafür bekannt, dass sie Auswanderer einen Eid ablegen lassen, bevor diese sich auf die Reise nach Europa begeben. Das betrifft vor allem junge Mädchen, die sie später in die Sexarbeit verkaufen. Die Mädchen legen den Eid normalerweise in Voodoo-Schreinen ab.

Dort müssen sie Schamhaare oder Blut sowie Hosen oder Büstenhalter abgeben, um darauf zu schwören, dass sie den Schleusern die vereinbarte Summe zurückzahlen, wenn sie in Europa sind, und dass sie die Menschenhändler nicht an die Strafverfolgungsbehörden verraten werden.Die meisten Auswanderer, die solche Schwüre abgelegt haben, halten sich daran – aus Angst, dass sie sterben oder psychisch krank werden, wenn sie den Eid brechen. Angela John etwa weigerte sich, mit der Polizei in Frankreich zusammenzuarbeiten, um die Schleuser zu verhaften, die sie in die Prostitution gezwungen hatten. Sie sei sich sicher, dass ihr etwas Schlimmes zustoßen werde, wenn sie den Schwur breche. Die NAPTIP versucht, diesen Trend zu durchbrechen: Sie geht zu den Schreinen und leistet Aufklärungsarbeit. Die Voodoo-Priester sollen verstehen, dass es schwierig für die Behörden ist, die Schleuser zu verfolgen, solange die Priester die Schwüre der Opfer abnehmen.

Ein Schleuser hingegen, der nur Tim genannt werden will, findet die Eide notwendig, da die Schleuser sonst Verluste machen würden. „Bevor die Voodoo-Priester die Eide abgenommen haben, sind Frauen nach Europa gereist und häufig untergetaucht, ohne die vereinbarte Summe zurückzuzahlen“, sagt er. Oder die Opfer hätten die Schleuser in Europa bei der Polizei angezeigt, um sich der Bezahlung zu entziehen. Die verstärkte Rückführung von Migranten aus Libyen sieht der Schleuser nicht als Gefahr für seine Arbeit. „Wir werden neue Wege finden, die Leute ins Ausland zu bringen“, prahlt er.

Aus dem Englischen von Johanna Greuter.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2018: Globale Politik von unten
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