Digitale Kommunikationsmittel sind eine Errungenschaft. Sie erleichtern den Alltag, machen Wissen fast überall zugänglich und viele Wirtschaftsbereiche produktiver. Das gilt auch für arme Länder, in denen etwa Finanztransfers per Handy und Bildung oder medizinische Versorgung aus der Ferne möglich werden. Manche Erwartungen wie die, das Internet bringe mehr Demokratie, haben sich aber als überzogen erwiesen. Und was die digitale Revolution für Arbeitsplätze, soziale Ungleichheit und Entwicklungschancen im Süden bedeutet, ist unter Fachleuten strittig.
Bringt das Internet bessere Regierungsführung und mehr Demokratie?
Diese Hoffnung hat nicht zuletzt der arabische Frühling von 2011 genährt. Er schien möglich, weil Menschen mittels Internet die Zensur umgehen und sich mit Hilfe sozialer Medien austauschen und organisieren konnten. Inzwischen haben die neue Diktatur in Ägypten und der Krieg in Syrien gezeigt: Digitale Medien bringen nicht automatisch mehr Demokratie. Und China und Thailand (siehe Seite 28) machen vor, wie Regierungen auch im Internet den Zugang zu Informationen beschränken können.
Die Weltbank beurteilt die politischen Folgen der Digitalisierung im Süden eher skeptisch. Laut ihrem Weltentwicklungsbericht von Anfang 2016 mit dem Titel „Digital Dividends“ hat Informationstechnik (IT) manche Wahlen erleichtert, Zensur erschwert und Behörden effizienter gemacht. Die Hoffnung auf mehr Rechenschaftspflicht und politische Beteiligung, insbesondere für die Armen, habe sie jedoch nicht erfüllt. In vielen Fällen habe sie eher die politischen Eliten gestärkt und „die Fähigkeit der Regierungen erhöht, soziale und politische Debatten zu beeinflussen“.
Wie sieht das in der Praxis aus? Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt im Auftrag des Entwicklungsministeriums Versuche, die Regierungsführung mit Hilfe von IT zu verbessern, erklärt Arlett Stojanowic, die als Fachplanerin solche Projekte konzipiert. Im südlichen Afrika seien Kommunen unterstützt worden, mit Satellitendaten ein Kataster anzulegen, und hätten so ihre Einnahmen aus Grundsteuer erhöht. In Nigeria hätten Kleinhändler online sichtbar gemacht, wo Behörden illegale Wegezölle erheben. IT allein reiche aber nicht aus, sagt Stojanowic; sie müsse mit Bürgerengagement und Änderungen in der Verwaltungskultur einhergehen. Daten online zu stellen und so Transparenz zu schaffen, verbessere nur die Rechenschaftspflicht, wenn Bürger die Daten aktiv dazu benutzten.
Inzwischen greift sogar die Befürchtung um sich, soziale Medien wie Facebook gefährdeten die Demokratie. Kritiker bemängeln, dass sich dort Gleichgesinnte gegenseitig bestätigen, ohne Gegenargumenten zu begegnen oder komplizierten Sachverhalten nachzugehen. So wachse der Einfluss von Falschinformationen und es werde einfacher, Meinungen und sogar Wahlen zu manipulieren. Solche Effekte haben laut der britischen Zeitschrift „The Economist“ die Stigmatisierung der Rohingya in Myanmar verstärkt und den Staatspräsidenten Südafrikas und der Philippinen wirksamere Propaganda ermöglicht. In Kenia haben Parteien im Wahlkampf mit sozialen Medien Spannungen zwischen Volksgruppen geschürt. Allerdings war Kenia schon gespalten, bevor es Facebook gab. Auch die politische Polarisierung in den USA begann vor dem Aufstieg des Internet und hat andere Ursachen. Das Internet bringt weder den Sieg noch einen Verfall der Demokratie, sondern es verstärkt Trends in beide Richtungen.
Drohen uns neue Kriege aus dem Cyberspace?
Auf den ersten Blick scheint es so. Die US-amerikanische Denkfabrik Council on Foreign Relations verzeichnet für 2017 über zwei Dutzend Cyberangriffe, die von Staaten ausgegangen sein sollen. So wurden im März wahrscheinlich im Auftrag der USA Computernetze für das Kernwaffenprogramm in Nordkorea sabotiert. Ein Staat soll auch hinter dem Virus WannaCry stehen, der im Mai in etwa 150 Ländern Daten verschlüsselte, darunter im britischen Gesundheitsdienst und bei Konzernen wie Renault, FedEx und der Deutschen Bahn.
Doch der US-Experte Thomas Rid warnt davor, hier von Krieg zu sprechen: Das sei eine irreführende Metapher wie beim „Krieg gegen die Drogen“ und führe zu ähnlich falschen Gegenmitteln. Es habe noch keine Cyberangriffe gegeben, die Krieg im eigentlichen Sinn darstellten, nämlich gezielte und tödliche Gewalt als Mittel der Politik. Es handele sich bisher stets um Propaganda, Spionage oder Sabotage. Die haben Staaten lange vor dem Internet angewandt, auch im Frieden. Zwar ist bei Sabotage per Internet nun der Urheber besonders schwer festzustellen. Doch gerade deshalb ist sie laut Rid kein wirksames Kriegsmittel: Um einen Gegner einzuschüchtern, muss man die Fähigkeit, ihm zu schaden, klar nachweisen.
Online-Sabotage kann allerdings immer größeren Schaden anrichten, je mehr Wirtschaftsbereiche und öffentliche Dienste am Internet hängen. Um das zu verhindern, müssten Daten zuverlässig verschlüsselt und Sicherheitslücken in der Software umgehend geschlossen werden. Doch das nähme zugleich Staaten Möglichkeiten, die elektronische Kommunikation abzuhören oder Gegenschläge für Cyber-Angriffe vorzubereiten. Auf beides wollen viele Regierungen, Militärs und Geheimdienste nicht verzichten.
Verliert der Süden Arbeitsplätze und Entwicklungschancen?
Vielleicht. Die weitreichendsten Folgen hat die Digitalisierung für die Wirtschaft. Sie hat möglich gemacht, die Herstellung zum Beispiel von Autos in zahlreiche Schritte zu zerlegen, auf verschiedene Länder und Firmen aufzuteilen und dennoch den gesamten Prozess zu kontrollieren. Auch die Herstellung von Software kann seitdem in den Süden ausgelagert werden. Diesen Globalisierungsschub haben sich besonders asiatische Länder zunutze gemacht. Der nächste Schub ist nun die breite Anwendung von künstlicher Intelligenz: Maschinen lernen durch Datenanalyse, gesprochene Sprache und Gesichter zu erkennen, die Nachfrage nach Produkten genau vorherzusagen oder die Kreditwürdigkeit von Internet-Nutzern zu bewerten. Autonom können sie an der Börse handeln, maßgeschneiderte Kreditangebote machen, Kunden am Telefon beraten oder Züge steuern.
Das bringt im Süden neue Chancen. Auch Firmen-Dienstleistungen werden zunehmend zergliedert und teilweise im Süden ausgeführt; über zwei Drittel des Handels mit Dienstleistungen sind heute schon Zwischenprodukte. Experten sehen weltweit auch Vorteile für kleinere Firmen und Existenzgründer: Sie können dank Internet-Handel leichter exportieren und ihren Markt erweitern. Wo die Datenleitung schnell genug ist, können sie Cloud Computing nutzen: Statt teure Computer und Software zu kaufen, mieten sie online Speicherplatz und Rechenkapazität auf Plattformen von Amazon, IBM oder Google. Plattformen, die lokal Aufträge vermitteln wie Uber für Fahrdienste, erleichtern laut Weltbank benachteiligten Gruppen den Zugang zu Beschäftigung. Allerdings kann das auch einen Verlust an Arbeitsrechten und unsichere Einkommen bedeuten.
Doch werden neue Erwerbsmöglichkeiten die Job-Verluste infolge von Automatisierung ausgleichen? Darüber streiten die Experten. Die Weltbank geht davon aus, dass nach Anpassungsproblemen am Ende mehr Jobs stehen – so wie bisher immer, wenn neue Technik die Arbeitsproduktivität erhöht hat. Allerdings steigen der Bank zufolge die Lohnunterschiede zwischen hoch und niedrig Qualifizierten im Süden. Auch Experten des Internationalen Währungsfonds erwarten eine Spaltung der Arbeitsmärkte und mehr Ungleichheit.
Laut dem pakistanischen Ökonomen Shahid Yusuf dürfte die Summe der Jobs jedoch schrumpfen. Denn jetzt werden auch bei Dienstleistungen – in Hotels und Gaststätten, im Transport und im Handel, in Banken und Behörden – Arbeitskräfte durch intelligente Maschinen ersetzt. In Indien und Thailand gilt ein höherer Anteil der Jobs als gefährdet als in Industrieländern, in denen die Automatisierung schon weiter ist. Die Digitalisierung vergrößert laut Yusuf auch den Wettbewerbsvorsprung des Nordens und macht das bisher erfolgreichste Rezept für nachholende Entwicklung unwirksam: gezielt eine exportierende Industrie für den Weltmarkt aufzubauen. Dafür seien preiswerte Arbeitskräfte kein Trumpf mehr. Entwicklungsländer müssten künftig mehr auf den Binnenmarkt und den Dienstleistungssektor setzen.
Beuten amerikanische Internet-Giganten den Süden aus?
Das beklagt die Just Net Coalition, der 35 nichtstaatliche Organisationen (NGOs) aus aller Welt angehören: Große Internet-Konzerne errichteten mit Hilfe „einiger Regierungen“ ein neues „globales Regime von Kontrolle und Ausbeutung“. Dass dies keine bloße Verschwörungstheorie ist, zeigt der Blick auf Mechanismen des Plattform-Kapitalismus.
Firmen wie Google, Facebook, Amazon, Microsoft und Apple haben laut Nick Srnicek, der in London zu digitaler Wirtschaft forscht, die Plattform als neue Art Unternehmen begründet – mit Daten als Rohstoff. Plattformen sammeln riesige Mengen Daten, die beim Surfen, Shoppen, Chatten, Telefonieren und im Geschäftsverkehr anfallen oder von Satelliten, Kameras und vernetzten Maschinen erzeugt werden. Aus deren Analyse ziehen Plattform-Unternehmen Informationen, die für andere Firmen wichtig sind, und verwerten sie. Nicht nur für gezielte Werbung: Amazon, Google und andere bieten auch Unternehmen Rechenkapazität an, Tools für Software-Entwicklung, Analysefähigkeiten sowie Instrumente wie den Internet-Bezahldienst PayPal. Spezielle Plattformen vernetzen Industriemaschinen; hier wetteifern laut Srnicek Intel und Microsoft mit Siemens und General Electric um die Marktführerschaft.
Wegen ihres Datenhungers sind Plattform-Unternehmen zum Wachsen gezwungen. Sie nutzen dazu den Netzwerkeffekt – je mehr Menschen oder Firmen zu einem Netzwerk gehören, desto attraktiver ist es – und erschweren den Wechsel zu anderen Plattformen. Die großen kaufen aufstrebende Konkurrenten oder drängen sie mit Billigangeboten aus dem Markt. Das Ergebnis ist ein Oligopol von großenteils US-amerikanischen Konzernen, gegen das Firmen aus dem Süden nicht ankommen.
Ausgenommen chinesische. Peking hat US-Plattformen gezielt den Zugang erschwert und ein „Paralleluniversum“ mit wenigen kontrollierten Internet-Zugängen von außen geschaffen, erklärt Doris Fischer, Professorin für Wirtschaft Chinas an der Universität Würzburg. Das hält erstens missliebige Informationen fern und hat zweitens eigene Konzerne groß gemacht. Alibaba, das chinesische Amazon, sowie WeChat, über das man in China chattet, telefoniert, Taxen bestellt und bargeldlos bezahlt, gehören zu den größten Internet-Firmen der Welt. Sie kommen laut Fischer wegen Datenschutzregeln kaum auf den amerikanischen und europäischen Markt, wollen aber in Entwicklungsländer vordringen.
Literatur:
Shahid Yusuf
Automation, AI, and the Emerging Economies
CGD Notes, Washington DC
September 2017, www.cgdev.org
World Bank
World Development Report 2016:
Digital Dividends
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So werde es auch der Landwirtschaft ergehen, sagt Singh. „In den USA sind bis zu drei Fünftel des Agrarsektors von Daten abhängig. Der Agrarkonzern Monsanto ist heute ein Daten-Konzern mit mehr Wissen über Böden und einzelne Farmen, als die Farmer selbst haben.“ Er habe nun Indiens Kleinbetriebe im Visier. Die, fürchtet Singh, werden von Datendiensten ausländischer Konzerne abhängig, die sie effizienter machen – und einen Teil des Profits abziehen.
Zudem müssten Behörden bald Wissen über das eigene Land von Plattform-Unternehmen kaufen. Singh berichtet, dass Google Schulen in Indien kostenlos eine Lern-App zur Verfügung stellt und aus deren Daten entnehmen kann, welche Lehrpläne Erfolg bringen. Die Analysen habe Google testweise kostenlos Bildungsplanern zur Verfügung gestellt, werde die aber künftig sicher zur Kasse bitten. Indien könne versuchen, als Alternative öffentliche Plattformen zu schaffen. Die entscheidende Aufgabe sieht Singh aber darin, international zu klären, wem Daten gehören sollen: Welche dürfen Konzerne sich aneignen, welche sollen geschützt oder öffentlich sein?
Werden Daten zum Zankapfel der Handelspolitik?
Das sind sie bereits. Für europäische wie amerikanische Handelspolitiker kann nationaler Datenschutz ein Handelshemmnis sein; Handelsabkommen wie das geplante zu Dienstleistungen (TISA) könnten diesem Schutz demnächst Grenzen setzen. Zugleich streiten die USA und die Europäische Union (EU) über den Schutz persönlicher Daten. Da er in den USA nicht streng genug sei, fordern Datenschützer, diese Daten in Europa zu speichern. Die USA vertreten dagegen das Prinzip des freien globalen Datenflusses. Für die Steuerung internationaler Produktionsketten ist ein Austausch von Daten nötig – aber nicht aller Arten Daten. Dass die US-Regierung jede Datenlokalisierung sowie Verbraucherschutzregeln im Internet als Protektionismus anprangert, soll nicht zuletzt die Geschäfte der großen US-Datenkonzerne schützen.
Zusätzlich argumentieren die USA mit der Informationsfreiheit. Tatsächlich kann der Schutz von Daten ein Vorwand für Protektionismus wie für Zensur sein – so in China. Für den indischen IT-Aktivisten Singh zeigt das, wie wichtig es ist, den Austausch politischer Informationen vom freien Datenfluss zu unterscheiden. „Die USA und China vermischen das beide – mit gegensätzlichen Absichten“, sagt er: China nehme den Schutz strategischer Daten als Begründung für Zensur, die USA verlangten im Namen der Informationsfreiheit den ungehinderten Austausch aller Arten Daten. Gegen beides will er sich wehren.
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