Unsere Freunde und Familie scheinen den Eindruck zu haben, dass in der Nothilfe nur Heilige arbeiten. Die Öffentlichkeit hat ein ähnliches Bild – und unsere Spendenabteilungen bedienen das gerne. Doch alle, die in unserer Branche arbeiten wissen: Es ist wie überall. Auch hier sind sterbliche, fehlbare Menschen am Werk.
Wir sind zwei von Millionen Frauen, die #MeToo getwittert – und dabei an die vielen Fälle sexueller Belästigung gedacht haben, die wir seit unserer Schulzeit ertragen mussten. Es ist ein Thema, das allgegenwärtig ist im Leben jeder Frau. Auch als Nothelferinnen erleben wir sexuelle Übergriffe.
Seit den 1990er-Jahren haben Berichte sexuellen Missbrauch durch UN-Friedenstruppen angeprangert. Auch die Nothilfe hatte ihre Skandale: 2001 berichteten geflüchtete Frauen in Guinea, Liberia und Sierra Leone, zu Sex gegen Essen gezwungen zu worden sein. Dieser Fall machte deutlich, wie leicht Hilfeempfänger Opfer von Missbrauch und Ausbeutung werden können und stieß auf höchster Ebene Initiativen an, die sexuellen Missbrauch durch UN-Mitarbeiter ausmerzen sollten – mit gemischtem Ergebnis.
Es braucht einen Aufschrei gegen die sexistische Kultur in unserer Branche. Die Dinge müssen sich ändern. Frauen sollten sich nicht mehr gezwungen fühlen, gute Miene zu sexistischen Sprüchen zu machen, grabschenden Vorgesetzen aus dem Weg zu gehen oder Warnungen über diesen oder jenen Kollegen auszutauschen. Ja, auch wir haben Harvey Weinsteins in unseren Reihen.
Die Besuche der männlichen Kollegen bei Prostituierten
Nothelferinnen haben in jüngster Zeit häufiger über sexuellen Missbrauch bei der Arbeit gesprochen. So wie die mutigen Frauen, die öffentlich über die furchtbaren Vergewaltigungen im Tarrain Hotel im Südsudan im August 2016 berichtet haben.
Um auf den sexuellen Missbrauch in der Nothilfe aufmerksam zu machen, wurde 2016 die Organisation Report the Abuse ins Leben gerufen. Ein Jahr später musste sie ihre Arbeit einstellen – nicht aus mangelndem Interesse, sondern weil es an Ressourcen fehlte. Sexuelle Gewalt bleibt ein Problem in unserem Arbeitsbereich. Die Zahlen belegen das – soweit sie bekannt sind.
Ein paar Beispiele: In einer unserer Organisationen ist es ein beliebter Zeitvertreib, die Attraktivität der Mitarbeiterinnen zu bewerten. Das klingt lustig und harmlos. Bis plötzlich dein eigener Chef über die Rocklänge der Empfangsdame spricht, die 20 Jahre jünger ist als er.
In einer angesehen Hilfsorganisation, für die eine von uns gearbeitet hat, haben Frauen alles daran gesetzt, nicht nach Afrika geschickt zu werden. Nicht wegen der mit der Arbeit verbundenen Gefahren – sie wollten nicht mit den ständigen Besuchen der männlichen Kollegen bei Prostituierten konfrontiert werden.
Die Führungsebene ist meist von Männern besetzt
Nur Spaß zwischen zwei Erwachsenen im gegenseitigen Einvernehmen – am nächsten Morgen im Büro ist alles vergessen. Doch das Augenzwinkern und das wissende Grinsen zwischen den Männern sorgen für eine ätzende Stimmung und sind Ausdruck einer Kultur, die Frauen entwürdigt und zu Objekten macht – ganz abgesehen von dem Schaden für den Ruf von Hilfsorganisationen, die in den Augen der Einheimischen ihre vor allem weißen Privilegien ausleben. Und natürlich ist es mehr als ein Hauch von Heuchelei, wenn man „armen Leuten in Afrika helfen“ will und sie gleichzeitig für Sex bezahlt.
Machtmissbrauch in der Belegschaft ist nichts Ungewöhnliches. In der Nothilfe arbeiten viele Frauen, aber die Führungsebene wird immer noch größtenteils von Männern dominiert. Wie viele Fälle gibt es, in denen ein Länderdirektor mit einer weiblichen Juniorkraft schläft? In manchen Büros ist das fast schon ein Initiationsritus für Neulinge.
So wie im Fall des widerlichen Vorgesetzten, der eine von uns betatscht und nach einer „körperlichen Vereinbarung“ gefragt hat, als sie ihn um Hilfe bei einer schwierigen Verhandlung mit einem lokalen Partner bat. Er drängte sie, mit ihm auszugehen: „Ging ich mit? Ja. Aber ich bat einen Freund, mitzukommen. Beschwerte ich mich? Verdammt, nein! Ich wollte meinen Ruf in der Organisation nicht gefährden, der davon abhing, mit jedem gut auszukommen. Ich tat, was viele Frauen tun. Ich erzählte Freunden davon, ließ die Tür immer offen, wenn ich mit ihm alleine war und arbeitete noch härter, um zu zeigen, dass ich mehr Aufmerksamkeit verdiene als mein Körper.“
Die sexistische Kultur macht dich klein
Diese Geschichten erzählen wir Frauen uns nach dem Sport oder abends in der Bar. Wir tuscheln darüber, wie wir uns schützen können. Und jetzt sprechen wir in Facebook-Gruppen – einige mutige Frauen sagen es laut, andere bleiben still und denken: „Ich auch. Ich auch“.
Das ist es, was die sexistische Kultur mit dir macht. Sie lässt dich an dir zweifeln. Sie macht dich klein. Wie jemand in einer #MeToo-Diskussion sagte: „Ich glaube, ich kann froh sein, nur belästigt zu worden sein“. Jemand anderes fragte, „wie viel mehr hätte ich tun können, wenn ich nicht so viel Zeit damit verbracht hätte, diese Vorfälle wegzulachen, zu vergessen und irgendwie damit umzugehen? Wie viel besser hätte ich meine Energie einsetzen können?“
In der Nothilfe darf es null Toleranz für sexuellen Missbrauch und Belästigung geben – sowohl gegenüber den verletzlichen Hilfeempfängern als auch innerhalb unserer Organisationen. Wir brauchen eine andere Kultur. Und die muss sich von innen verändern. Frage deine Organisation, wo ein Missbrauch gemeldet werden kann, und wie mit solchen Fällen umgegangen wird. Kommen keine Antworten, frage weiter. Wir müssen den Wandel einfordern. Sonst passiert nichts. Warte nicht, bis die nächste Frau dir im Dunkeln ihre Geschichte zuflüstert.
*Der Text wurde von zwei erfahrenen Nothelferinnen geschrieben und anonym auf der Website des Nachrichtenportals IRIN veröffentlicht, das sich mit Themen der humanitären Hilfe beschäftigt.
Aus dem Englischen von Sebastian Drescher.
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