Besonders grausame Vergewaltigungen haben sich in Ibeshe nahe der nigerianischen Wirtschaftsmetropole Lagos ereignet. „Er hat meine Nase aufgeschlitzt, das Blut lief über meinen ganzen Körper“, erzählt die 85-jährige Olabisi Lasisi, die den Übergriff knapp überlebt hat. „Ich glaube, als er mich auf den Boden warf, dachte er, ich sei tot.“ Ihre Schreie weckten die Nachbarn, die sie ins Krankenhaus brachten. Dort mussten die Ärzte ihr linkes Nasenloch teilweise zunähen, um die Wunde zu versorgen. Das macht ihr das Atmen schwer, ihr Gesicht ist entstellt.
Die Vergewaltiger vergehen sich auch an kleinen Kindern. „Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung“, erklärt Olamide Obaomi von der örtlichen Frauenrechtsgruppe. Ein fünf Jahre altes Mädchen sei nach einer Vergewaltigung bewusstlos in die Klinik transportiert worden und mehrfach operiert worden. Manche der Opfer starben an ihren schweren Verletzungen. Die Führer der Gemeinschaft von Ibeshe berichten von durchschnittlich einer Vergewaltigung oder einer versuchten Tat pro Woche.
Ibeshe ist kein Einzelfall. Quer durch Nigeria häufen sich tägliche Berichte über sexuelle Gewalt. Der Bundesstaat Abia im Südosten verzeichnet besonders viele Fälle. Hier entführten bewaffnete Männer einen Bus und vergewaltigten alle weiblichen Passagiere; eine 65-Jährige wurde erschossen. Auch in Abia sind viele Kinder unter den Opfern. Genaue Angaben liegen nicht vor, doch Frauenrechtlerinnen sind davon überzeugt, dass die Zahl der Fälle zunimmt. Das Ausmaß sei weitaus höher, als es scheint, sagen sie. Denn viele Opfer wagten keine Anzeige, weil sie fürchten, stigmatisiert zu werden. Manche Vergewaltiger drohten gerade Kindern, sie würden sie töten, wenn sie etwas verraten. Aus Furcht schweigen sie.
Die Täter sind organisiert
Die Vermutung liegt nahe, dass es noch andere Gründe für die ungewöhnlich hohe Zahl von Vergewaltigungen gibt als das Ausleben von sexuellem Verlangen oder Macht. Ein Vergewaltiger, der in Lagos festgenommen wurde, sagte, er sei auf der Suche nach spiritueller Kraft gewesen. „Das ist etwas anderes als bisher“, sagt Betty Abah von der Organisation Centre for Children’s Health Education, Orientation and Protection (CEE-HOPE), die gegen sexuelle Gewalt kämpft. Pastor Fred Olanipekun aus Ibeshe meint, es habe den Anschein, dass die Taten nicht von Einzelnen, sondern von gut organisierten Banden begangen würden.
Diese Vermutung erhielt neue Nahrung, nachdem die Gemeinschaft von Ishebe zwei Verdächtige gefasst hatte. Einer wurde der Polizei übergeben, der andere von einer aufgebrachten Menge gelyncht. Doch die Zahl der Vergewaltigungen ging nicht zurück, sondern stieg. „Inzwischen finden gleichzeitig Übergriffe statt“, sagt Fred Olanipekun. Mehrere Fälle in jüngster Zeit zeigen ein ähnliches Muster: Die Täter verletzen ihre Opfer, um dann etwas von ihrem Blut mitzunehmen. Der traditionelle Führer Muktar Saka ist stets einer der ersten am Tatort und bestätigt die Einschätzung, dass die Täter keine üblichen Vergewaltiger sind. „Die Opfer liegen häufig in einer Blutlache. Manchmal sieht es aus wie in einem Schlachthaus.“ In einigen Fällen töteten die Täter ihre Opfer und nahmen Körperteile mit, vor allem Zähne. Dasselbe Muster zeigte sich in der Stadt Ozu Abam im Bundesstaat Abia, wo die Zahl der Vergewaltigungen ebenfalls sehr hoch ist.
Bizarre Rituale
In Nigeria werden menschliches Blut und Körperteile oft für Rituale verwendet. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung christlich oder muslimisch ist, hängen viele noch traditionellen Glaubensformen an, die Opfer verlangen. Gewöhnlich werden mit solchen Opfern Wohlstand, Gesundheit und Erfolg erbeten. Tausende nigerianische Mädchen, die jährlich in die Prostitution nach Europa verkauft werden, müssen sich in Schreinen bizarrer Rituale unterziehen, bevor sie das Land verlassen. Für diese werden Schamhaare, Fingernägel, Blut und andere Fetische benutzt.
Das westafrikanische Land verzeichnet eine hohe Zahl ritueller Tötungen, um an Blut oder Körperteile für Rituale zu kommen, die Wohlstand versprechen. Dem Aberglauben nach funktionieren diese besser mit Körperteilen bestimmter Gruppen wie Albinos, Kleinwüchsigen oder Menschen mit einem Buckel. Wenn die nicht verfügbar sind, sind Frauen die nächste Zielgruppe. Darüber hinaus ist Sex häufig Teil der rituellen Handlungen.
Es ist unklar, ob die hohe Zahl der Vergewaltigungen mit Ritualen für mehr Wohlstand zusammenhängt. Doch tatsächlich steigt die Verbreitung solcher Rituale, wenn die Wirtschaft abstürzt. Und der ungewöhnliche Anstieg sexueller Gewalt fällt tatsächlich in eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs. Nigeria ist Afrikas größter Erdöl-Exporteur und leidet sehr unter dem Verfall des Ölpreises.
Die Regierung ist überfordert
Frauen in Ibeshe und im Südosten des Landes haben mit Protestaktionen versucht, die Regierung auf die weit verbreitete sexuelle Gewalt in ihren Gemeinschaften aufmerksam zu machen. Doch trotz des öffentlichen Drucks hat sich nicht viel verändert. Die Regierung hat es schwer, die besorgniserregende Entwicklung bei sexuellen Gewalttaten in den Griff zu bekommen, weil sie bereits mit einer Reihe anderer Sicherheitsprobleme überfordert ist. Im Norden bekämpft sie die islamistische Terrorgruppe Boko Haram, die dort einen islamischen Staat errichten will. Im ölreichen Niger-Delta im Süden sprengen militante Gruppen Pipelines in die Luft, und im ganzen Land nehmen Entführungen zur Erpressung von Lösegeld zu.
Die Frauen werden ihrem Schicksal überlassen, und so breitet sich an Orten wie Ibeshe eine Atmosphäre der Furcht aus. „Viele Frauen haben Ibeshe aus Angst vor Übergriffen verlassen“, sagt eine der Führerinnen der Gemeinschaft, Oluwaseun Shodairo. Andere, die nicht fliehen können, werden noch immer von den Erinnerungen an die Vergewaltigung heimgesucht, auch wenn ihre körperlichen Wunden längst verheilt sind. „Ich kann nicht mehr allein schlafen, weil der Vergewaltiger mich in meinem Haus überfallen hat“, sagt Olabisi Lasisi. „Es könnte ja noch einmal einer kommen.“
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Im nördlichen Bundestaat Borno, wo der Aufstand von Boko Haram mehr als zwei Millionen Menschen aus ihren Dörfern vertrieben hat, wird ein staatlich gefördertes Selbstverteidigungstraining angeboten. Rund 1000 Vertriebene, die in Kürze in ihre Gemeinschaften zurückkehren, werden als Vorreiter im Kampf gegen Vergewaltigungen ausgebildet. In anderen Dörfern arbeiten die Frauen zusammen, um sich gegenseitig zu helfen. „Wir gehen von Haus zu Haus, um vor allem Frauen, die alleine leben, ein Bewusstsein von Sicherheit zu verschaffen“, sagt Oluwaseun Shodairo aus Ibeshe.
Die Polizei arbeitet nach eigenen Angaben hart daran, Vergewaltigungen zu bekämpfen. „Wir verfolgen diese Fälle. Jeden zweiten Tag bringen wir welche vor Gericht“, sagt die Polizei-Sprecherin von Lagos, Dolapo Badmos. Die Millionenstadt hat eine der höchsten Vergewaltigungsraten im Land. „Wir tragen akribisch alle Beweise und Erkenntnisse zusammen, damit kein Schuldiger der Justiz entkommt“, versichert Badmos.
Laut nigerianischem Gesetz kann ein Vergewaltiger bis zu lebenslang ins Gefängnis kommen. Doch Betty Abah von CEE-HOPE glaubt, dass die Zahl der Vergewaltigungen steigt, weil die Täter in der Regel nicht bestraft werden. Sie ist überzeugt: „Das wird so weitergehen bis wir in der Lage sind, das Gesetz richtig anzuwenden, und sie abzuschrecken.“
Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.
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