Ein Siegel für "bad trade"

Gerechtigkeit
Warum sollten wir nicht einfach alle Produkte kennzeichnen, für die der Planet geplündert und Menschen ausgebeutet werden, fragt der Philosoph Richard David Precht. Gründe dafür gebe es genug. Nicht nur moralische.

Der Text ist ein Auszug aus einer frei gesprochenen Rede, gehalten am 23. Mai 2017 in der Kalkscheune in Berlin. Der Abdruck erschien zuerst im Dossier "Handel neu denken", herausgegeben von TransFair e.V. in Zusammenarbeit mit der Redaktion von "welt-sichten". 

Als der Philosoph John Locke im Jahr 1689 in seinen Two Treatises of Government, einem der bedeutendsten Texte der politischen Philosophie, als erster Aufklärer festhielt, dass alle Menschen gleich und frei sind – meinte er das nicht ernst! Das konnte man daran erkennen, dass dieser gleiche Locke nicht nur für 70 Prozent der damaligen Bevölkerung in England – die in der Landwirtschaft tätig waren, und zwar unter ähnlichen Bedingungen wie heute die meisten Bauern in den Entwicklungsländern –, dass er deren Interessen nicht berücksichtigte, sondern dass er darüber hinaus Kolonien in Carolina besaß. Land, das ihm sein großer Mentor, der Begründer des Liberalismus, Anthony Ashley Cooper, geschenkt hatte; Kolonien in denen schwarze Sklaven arbeiteten, auf Land, das man den Indianern geklaut hatte.

Weiteres Kapital mehrte er dadurch, dass er Aktien besaß an der RAC, der Royal African Company, die mit Schwarzen handelte. Anthony Ashley Cooper war einer der Gründer dieser Company. Das heißt, die Väter des Liberalismus, der politische und der philosophische Vater, verdienten ihr Geld mit Sklavenhandel und mit Kolonialbesitz, den sie widerrechtlich den Indianern abgenommen hatten – ohne irgendein Problem damit zu haben! Gleichheit und Freiheit war für eine sehr kleine Klientel von Menschen reserviert.

Warum erzähle ich Ihnen das? Weil sich an dieser Art zu denken bis heute nicht so viel geändert hat, wie wir im ersten Moment gerne glauben! Wenn wir heute der Überzeugung sind, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, dann sehen und betrachten wir diese Menschenrechte nicht im globalen Maßstab – da vertreten wir sie nur theoretisch, aber nicht praktisch.

"Wir können trotzdem gut schlafen"

Die Flüchtlingskrise ist ein schöner Indikator dafür. Sie zeigt, wie theoretisch wir die Menschenrechte betrachten. Spätestens in dem Moment, wo eine Million Menschen aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen, nehmen wir das mit den Menschenrechten dann nicht mehr ganz so genau, sondern denken: Damit sind wir überfordert, das geht nicht! Gemeint ist: Wir könnten Wohlstandseinbußen dadurch haben. Und spätestens wenn es um Wohlstandseinbußen geht, haben Menschenrechte es auf einmal sehr schwer. Und so kann es sein, dass wir heute in einer Welt leben, in der nur ein Sechstel der Weltbevölkerung so lebt, dass es den allgemeinen Kriterien des Wohlstands entspricht und wir trotzdem vergleichsweise gut schlafen können.

Jetzt kann man ja sagen: Aber zumindest Fair Trade ist doch eine Fackel, die man anzünden kann, und mit der man zeigt, dass man Menschenrechte nicht für einen exklusiven Club von Männern, und zwar von weißen Männern reserviert, sondern dass man damit natürlich auch die Frauen einschließt und tatsächlich über alle Grenzen hinweg von Menschheit redet.

Ende der 1960er Jahre wurde die Vorstellung, dass wir Verantwortung auch für die sogenannte Dritte Welt übernehmen müssen, Teil gesellschaftlicher Emanzipationsbewegungen in den Industrieländern.  Der Gedanke schwamm im gleichen Fahrwasser wie die Diskussion um die Gleichberechtigung der Frau, der Kampf für den Weltfrieden und der Kampf gegen den Atomstrom. Und genau in diesem Strom entstand auch das Verantwortungsgefühl für die Dritte Welt. Erste Läden wurden gegründet, die damals Dritte-Welt-Läden hießen und heute Eine-Welt-Läden heißen, und in die man dann so ab und zu ging und ein bisschen das Gewissen erleichterte.

Kein kollektiver Bewusstseinswandel

Es ist natürlich schön, sich diese Erfolgsgeschichte anzuschauen, etwa wenn wir hören, dass der Umsatz des Fairtrade-Handels inzwischen über eine Milliarde Euro beträgt. Und es gibt in der Welt immerhin so um die zwei Millionen Menschen, die von Fairtrade profitieren. Doch zwei Millionen von sieben Milliarden – wie soll man die Geschichte bewerten? Auf der einen Seite als eine Erfolgsgeschichte – aber als eine Erfolgsgeschichte in einer Nische, in einer ganz kleinen Sparte. Und selbst wenn das Wachstum im gleichen Tempo fortschreitet, können wir ja mal ausrechnen, wie lange es noch dauert, bis die Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt flächendeckend davon profitiert…

Auf der einen Seite kann man also den Erfolg feiern, und auf der anderen Seite muss man mit Bedauern feststellen: Warum hat es keinen kollektiven Bewusstseinswandel gegeben, der dazu geführt hat, dass uns das Leben eines Menschen in Äthiopien oder in Mexiko genauso viel wert ist wie das Leben eines Menschen in Deutschland?

Es besteht kein Zweifel daran: Fairtrade ist eine großartige Sache! Denn wir brauchen eine von der Graswurzel ausgehende Bewegung, um einen gesellschaftlichen Druck zu entfalten. Aber wir brauchen auch einen Zangeneffekt. Eine Veränderung des Denkens von oben, nämlich dass sich Gesetze ändern und Konsequenzen daraus gezogen werden.

Unsere Landwirtschaft ist nicht dem Markt überlassen

Nun haben wir leider erstens eine Politik, die in solchen Fragen überwiegend verwaltend oder taktisch reagiert und nicht strategisch. Eine Strategie ist, sich zu überlegen: Wo wollen wir langfristig hin? Und die einzelnen Schritte dazu zu unternehmen. Und Taktik heißt, situativ zu entscheiden, was gerade im Moment am besten ist. Und die Summe der taktischen Entscheidungen kann das Gegenteil des strategisch Richtigen sein. Zweitens gibt es für all das, worüber wir hier reden, keinen Zuständigen. Es ist großartig, wenn jemand von sich aus sagt: Ich erkläre mich dafür zuständig, das Meine zu tun. Es gibt aber auf der Ebene der Systemvernunft keine Zuständigen. Wer sollte der Motor sein, um eine einseitige Freihandelspolitik mit den Ländern der sogenannten Dritten Welt zu machen? Auf welcher Ebene sollte das stattfinden? Sollte das die UNO machen? Sollte das ein Kommissar der Europäischen Union machen? Soll das ein deutscher Landwirtschaftsminister fordern? Oder ein Kanzler? Niemand von denjenigen wird sich für diese Frage für wirklich zuständig halten, wie übrigens für viele andere ganz große Veränderungsfragen auch.

Die ökonomische Vernunft, die diese Welt regiert, hat die Zuständigen heraus gekürzt und eine Eigengesetzlichkeit geschaffen: eine Eigengesetzlichkeit nach der Funktionsweise des Kapitals. So akzeptieren wir beispielsweise, dass der Markt über die Preise entscheiden soll. Andererseits lügen wir, wenn wir sagen, wir überlassen die Preispolitik dem Markt. Unsere gesamte Landwirtschaft ist nicht dem Markt überlassen. Unsere ganze europäische Agrarpolitik ist eine gelenkte, gewollte Preisstabilisierungspolitik. Es ist ein häufiger Einwand gegen Fairtrade zu sagen – „Das sind ja künstliche Preise! Das sind keine Marktpreise“. Aber ein erheblicher Teil der Preise, die Sie irgendwo bezahlen, sind ebenfalls künstliche Preise und keine Marktpreise. Wir haben uns in Europa darauf geeinigt, dass wir das Schicksal der Bauern im Hinblick auf die Preise ihrer Erzeugnisse, die sie zum Beispiel für ihre Milch kriegen, nicht dem Markt überlassen. Dass wir eben gerade nicht den Markt entscheiden lassen, sondern dass wir einen manipulierten Markt wollen.

Wenn ich das gleiche nun aber im Hinblick auf Länder in der Dritten Welt möchte und sage: „Ich lege einen Kaffeepreis jenseits der normalen Marktgesetze fest“, dann macht man mir den Vorwurf, in irgendeiner Form wirtschaftsfeindlich zu sein oder den Freihandel nicht verstanden zu haben oder die enormen produktiven Kräfte des Wettbewerbs zu unterschätzen. Wir messen hier also mit zweierlei im Maß! Bei uns werden Erzeuger geschützt, in den Entwicklungsländern wollen wir dagegen den Markt entscheiden lassen.

"Durch Sklaven- und Kinderarbeit hergestellt"

All das sollten wir im Hinterkopf haben, wenn wir darüber reden, warum so viele Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt keine Chance haben. Aber auch jenseits davon gibt es Strategien, die es ermöglichen, das Problembewusstsein bei uns zu schärfen. Was würden Sie zum Beispiel tun, wenn Sie einen Tag Deutschland regieren dürften? Ich würde ein neues Siegel erfinden, ein „Bad Trade“-Siegel. Auf jede Schokolade, für die mit Kinderarbeit in Ghana die entsprechenden Kakaobohnen geerntet werden, kommt ein Schild und da steht drauf: „Durch Sklaven- und Kinderarbeit hergestellt“ Dazu kommt ein Bild von einem ausgehungerten, versklavten Kind auf die Packung. Es ist völlig klar: Das könnte man machen, das ist einfach realisierbar. Sagen Sie nicht: Das könnte man nicht machen! Man kann auch auf jede Zigarettenschachtel schreiben „Rauchen ist tödlich“. Das wird ja nicht aus ethischen Gründen da drauf geschrieben, es gibt kein gesinnungsethisches Moment, warum auf der Zigarettenschachtel „Rauchen ist tödlich“ steht. Es geht nicht darum, dass die Gesundheitsministerin oder der Gesundheitsminister sich Sorgen um Ihre Gesundheit macht, sondern er macht sich Sorgen um die Finanzierung des Gesundheitssystems: Wenn zu viele Leute rauchen, wird das Ganze zu teuer.

Mit genau der gleichen Begründung könnte ich das „Bad Trade“-Siegel einführen. Ich könnte nicht nur sagen, dass es moralisch teuer ist, das Elend der Ausgebeuteten zu verdrängen. Ich kann auch sagen: Je mehr „Bad Trade“ ich irgendwo fördere, umso mehr Flüchtlinge aus der sogenannten Dritten Welt habe ich demnächst vor der Haustür. Und diese Menschen aufzuhalten, kostet so dermaßen viel Geld, dass es viel besser ist, diese Art von Handel gar nicht erst zu ermöglichen.

Das "Fair Trade"-Siegel überflüssig machen

Wenn wir ein „Fair Trade“-Siegel machen können, können wir auch ein „Bad Trade“-Siegel machen. Und die Ausweitung von „Bad Trade“-Siegeln würde dazu führen, dass wir gar keine Fair-Trade-Siegel mehr brauchen, weil ja irgendwann klar ist, dass nur noch das übrig bleibt und vom Bad Trade ausgenommen ist, was Fair Trade ist. Es handelt sich also um eine Umkehrung der Beweislast. Wir müssten das moralisch Gute als selbstverständlich erklären und das, was moralisch anrüchig ist, entsprechend ächten. Statt nur Achtungskriterien zu etablieren, müssen wir Ächtungskriterien formuliere! Das wäre sehr viel wirkungsvoller. Nicht jeder Mensch möchte unbedingt zu den ganz Guten gehören, aber doch nur die wenigsten zu den Bösen!

Wer etwas verändern will, sucht sich Ziele. Und wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Und sicher leben wir auch in diesem Bereich im Augenblick in einer Diktatur der Gründe über die Ziele. Das unterscheidet die Situation stark von der Aufbruchstimmung in den 1970er oder 1980er Jahren, als die Ziele im Mittelpunkt standen und nicht die Gründe, warum was nicht funktioniert. Heute haben wir uns sehr häuslich damit eingerichtet, in jedem politischen Feld immer auf das hinzuweisen, was dann möglicherweise doch nicht richtig klappt, oder was als negative Folge da ist.

Um auf den Anfang zurückzukommen: 1689 wird zum ersten Mal in unserer abendländischen Kultur formuliert, dass alle Menschen gleich und frei sind. Wir sind noch immer weit davon entfernt, diese Grundidee überall in der Welt akzeptiert und umgesetzt zu sehen. Aber wir haben es geschafft, es im 17. Jahrhundert das erste Mal zu konstatieren und es im 18. Jahrhundert zum ersten Mal mithilfe von Revolutionen umzusetzen. Im 19. und 20. Jahrhundert haben wir erreicht, das weite Teile der Bevölkerung in den reichen Industrienationen von diesem Gedanken profitieren konnten. Und die Aufgabe des 21. Jahrhunderts wird sein, zu verstehen, dass das, was wir für alle Menschen erklärt haben, auch für alle Menschen gilt.

Richard David Precht ist Philosoph, Publizist, Autor und Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg sowie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin.

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