Die mutigen Frauen von Maiduguri

Nigeria
Seit dem Aufstand der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram liegt die Landwirtschaft im Nordosten Nigerias brach. Ein paar Bäuerinnen wagen sich jetzt wieder auf die Felder.

Ali Abdullahi hat trockene Augen, schütteres Haar und eine faltige Haut. Zainab Goni untersucht den ausgemergelten Körper des Babys. „Er  leidet unter schwerer akuter Mangelernährung“, sagt sie. Die Gesundheitshelferin arbeitet in der Klinik des Kinderhilfswerks Unicef im Vertriebenenlager Muna in Maiduguri im Nordosten Nigerias. Kinder wie Ali Abdullahi sieht sie jeden Tag. Die Kleinsten leiden am meisten unter der Hungersnot in der Region, die vom Terror der islamistischen Boko-Haram-Sekte heimgesucht wird.

2,5 Millionen Menschen wurden seit 2009 durch deren Angriffe aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben, elf Millionen sind auf Hilfe angewiesen. 6,9 Millionen Kinder, Frauen und Männer im Nordosten Nigerias haben zu wenig zu essen, gut die Hälfte der Mädchen und Jungen sind schwer unterernährt. Diese Quote sei eine der höchsten weltweit, sagt Unicef-Koordinator Abdulkadir Musse. „Nicht einmal im Südsudan habe ich ähnliches gesehen.“ Babys wie Ali Abdullahi haben Glück, am Leben zu sein. Viele Kinder und Erwachsene sind seit dem Beginn des Aufstandes von Boko Haram 2010 verhungert oder an Krankheiten gestorben, die von Hunger verursacht worden sind. Wie viele es sind, kann auch die FAO nicht sagen, denn aus Sicherheitsgründen hat sie keinen Zugang zu allen Gemeinschaften in Nordnigeria.

Alis Mutter Fatimah Mustapha musste ihr Dorf Sinabaya nach Übergriffen von Boko Haram verlassen. Ein Jahr nach der Flucht erkrankten ihr Ehemann und zwei Kinder und starben. „Die Flucht war schwierig“, erzählt sie. „An manchen Tagen mussten wir unter Bäumen im Freien schlafen und hatten nichts zu essen. Manchmal haben wir bei anderen Familien übernachtet, die aber selbst nichts hatten.“

Mariam Abdullahi ist es seit ihrer Flucht aus Kalabalge vor zwei Jahren genauso ergangen. Zunächst kam sie mit ihren sechs Kindern bei Gastfamilien in Maiduguri unter – doch um zu überleben, mussten sie um Geld und Essen betteln. Auf der Suche nach besseren Umständen zogen sie in das Lager Muna weiter, aber auch dort gibt es nicht genug Lebensmittel. Hilfsorganisationen verteilten nur gelegentlich Nahrungsmittelhilfe, erzählt sie.

Die Menschen, die von Boko Haram vertrieben wurden, sind darauf jedoch angewiesen, weil sie sich nicht selbst versorgen können. Das stellt die nigerianische Regierung und Hilfsorganisationen vor riesige Aufgaben. Und letztere haben zu wenig Geld: Die Geber haben bislang noch nicht einmal ein Drittel der für dieses Jahr benötigten Unterstützung bereitgestellt.

Darüber hinaus steigen die Preise für Lebensmittel – die hohe Inflation infolge des Wertverlustes der nigerianischen Währung hat laut den Vereinten Nationen in Konfliktgebieten zu einem Preisanstieg von 150 Prozent gegenüber 2015 geführt. „Wir mussten im Juli die monatliche Essensration für Familien reduzieren, um den gestiegenen Preis für Reis, Bohnen und Hirse auszugleichen“, sagt die Länderdirektorin des Norwegischen Flüchtlingsrates, Cheick Ba. „Unschuldige Familien tragen die Hauptlast des brutalen Konfliktes, auch nachdem sie der schrecklichen Gewalt entkommen sind.“

Vor dem Aufstand von Boko Haram lebten mehr als 80 Prozent der Menschen um den Tschadsee von der Fischerei, der Landwirtschaft und der Viehzucht. Die Region umfasst den Nordosten Nigerias, Nord-Kamerun, den Südosten des Niger und den Westen des Tschad. Die Islamisten haben wichtige Infrastruktur wie Bewässerungsanlagen und Speicher zerstört, um die Bewohner auszuhungern. Bei ihren Angriffen auf Dörfer und Städte stehlen sie die Feldfrüchte und verbrennen den Rest, den sie nicht transportieren können. Sie haben viele Bauern ermordet oder vertrieben.

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„Wir können unsere Felder nur bestellen, wenn es sicher ist“, sagt Mustapha Abbas, der in Konduga vor den Toren von Maiduguri Ackerland besitzt. „Vor zwei Tagen kamen sie in die Nähe meiner Farm und haben zwei Bauern getötet.“ Viele Bauern konnten nichts mehr produzieren. Sie haben ihre Geräte, ihr Saatgut und ihr Vieh inzwischen verkauft, um zu überleben. Experten fürchten, dass die Zahl derjenigen, die von Hunger bedroht sind, in den nächsten Monaten weiter steigt.

Für einen Hoffnungsstrahl sorgen nun ein paar mutige Frauen. Sie haben sich vorgenommen, gegen den von Boko Haram verursachten Hunger zu kämpfen. Sie kehren auf die Farmen zurück – entweder auf ihre eigenen oder sie schließen sich anderen Frauen an, die ihre Felder wieder bebauen wollen. Manche erhalten als im Land Vertriebene fruchtbares Land, das zuvor nicht kultiviert war. Gefährlich ist das allemal. Denn im Nordosten Nigerias, einer halbtrockenen Region, werden vor allem Felder in der Nähe von Wäldern bewirtschaftet  – und in denen verstecken sich bevorzugt die Islamisten, bevor sie zu ihren tödlichen Angriffen ausholen. Wenn Lami Abubakar aufs Feld geht, wird sie immer an ihre Flucht vor Boko Haram erinnert. „Der Wald macht mir Angst. Sie haben uns mit Gewehren durch den Wald gejagt und auf uns geschossen“, erzählt sie.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Rakiya Sani geht es genauso. Sie floh vor zwei Jahren aus ihrem Dorf Baga, nachdem es wiederholt von Boko-Haram-Kämpfern aus dem nahen Wald angegriffen worden war. Nun bewirtschaftet sie gemeinsam mit anderen Frauen eine Farm in einem anderen Wald. „Wenn wir daran denken, dass sie dort drin sein könnten, fürchten wir uns“, sagt sie. Doch die Frauen müssen ihre Familien versorgen. Viele von ihnen sind dafür allein zuständig, weil Boko Haram ihre Ehemänner getötet oder rekrutiert hat.

„Wenn du nicht losgehst und nach einer Lösung suchst, wie willst du dann deine Kinder ernähren? Wenn sie nichts zu essen bekommen, weinen sie“, mein Shedu Mohammadu, eine der Bäuerinnen. „Wir arbeiten, wir essen, was wir ernten, und wir schlafen – das ist alles, was wir tun.“ Die Risiken sind hoch: Neben möglichen Übergriffen laufen die Frauen Gefahr, in eine Sprengfalle zu treten, die Boko Haram aufgestellt hat, um die Bauern von einer Rückkehr auf ihre Farmen abzuhalten. Rakiya Sani sagt, die Frauen seien zufrieden, dass sie trotz aller Gefahren wieder Lebensmittel auf viele Tische bringen können. „Es gibt wieder etwas zu essen. Wir transportieren Lebensmittel auf den Markt und verkaufen sie dort. Darüber sind wir sehr glücklich.“ 

Einen Teil der Nahrungsmittel, darunter Mais, Kassawa, Tomaten und Paprika, kaufen Hilfsorganisationen und verteilen sie dann in den Vertriebenen-Camps. Der Eifer, ihre patriotische Pflicht zu erfüllen, habe vielen von ihnen geholfen, ihre Furcht zu überwinden, weiß Rakiya Sani. „Ganz ehrlich, jetzt fürchten wir uns vor nichts mehr. Dafür danken wir Gott“, sagt sie. „Wir leisten unseren Dienst an der Allgemeinheit. In diesem Wald produzieren wir viele Lebensmittel, um andere mit Essen zu versorgen.“ Hilfsorganisationen loben den Mut und die Widerstandskraft der Bäuerinnen. Sie glauben, eine Rückkehr auf die Farmen sei der beste Weg, um die Hungerkrise zu beenden. Doch ein Ende des Boko-Haram-Aufstandes ist nicht in Sicht, und deshalb werden wohl nur wenige Menschen dem Beispiel der mutigen Frauen folgen. Düstere Aussichten für die Bevölkerung im Nordosten Nigerias.

Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann

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erschienen in Ausgabe 9 / 2017: Religion und Umwelt
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