Der barmherzige Samariter hat ausgedient

Herausgeberkolumne
Die Kindernothilfe sieht in ihren Partnern heute – wie andere humanitäre Organisationen auch – weniger Objekte der Fürsorge als vielmehr Träger von Rechten. Das lässt die traditionelle Barmherzigkeit in den Hintergrund treten.

Lange schon werben humanitäre Organisationen nicht mehr mit den Bildern ausgemergelter Kinder. Die „Hungerhand“ aus den frühen Jahren von Brot für die Welt hätte heute keine Chance, es noch einmal auf ein Werbeplakat zu schaffen. Aber wie steht es mit der Barmherzigkeit, auf die sich die kirchlichen und christlichen Hilfswerke immer wieder beziehen? Ist der barmherzige Samariter noch ihre Arbeitsgrundlage?

Das biblische Gleichnis erzählt von einem Mann auf der Reise. Offenbar zu Fuß von Jerusalem nach Jericho unterwegs, wird er von Räubern überfallen. Sie schlagen ihn nieder, plündern ihn aus und lassen ihn schwer verletzt, dem Tode nah und ohne Mittel liegen. Zwei andere Reisende gehen achtlos an ihm vorüber; schließlich kommt ein dritter und nimmt sich seiner an. Er leistet erste Hilfe und sorgt für die weitere Pflege des schwer Verletzten. Das ist nobel, zumal den Helfer religiös und ethnisch nichts mit dem Gewaltopfer verbindet.

Ist dieses Gleichnis noch eine sinnvolle Grundlage für humanitäre Arbeit? Sicher arbeiten die meisten Organisationen mit Hilfebedürftigen, denen sie weder ethnisch noch religiös verbunden sind. Viele Hilfswerke engagieren sich auch in der humanitären Hilfe nach menschengemachten und Naturkatastrophen. Hier bedarf es schneller Unterstützung für Menschen, die sich nicht selbst helfen können.

Humanitäre Hilfe in Katastrophensituationen – dafür scheint der barmherzige Samariter tauglich. Aber wie ist es mit der alltäglichen, zähen Not von Millionen Menschen, die ihrer Armut ausgeliefert sind, denen es an Nahrung, Wasser, Schutz, Schulbildung und Zugang zu allem Lebensnotwendigen fehlt?

Die Idee der Barmherzigkeit ist im Innersten verknüpft mit einem Status- und Machtunterschied. Der, der sich erbarmt, steht über dem Bedürftigen. Er beugt sich zu dem Schwachen hinunter und gibt aus seinem Überfluss. In der Barmherzigkeit liegt Herablassung. Im Akt der Barmherzigkeit wird zugleich Macht sichtbar. An dieser Stelle hat bei der Kindernothilfe vor etwas über einem Jahrzehnt ein Prozess der Neuorientierung eingesetzt. Im Zentrum steht eine Abwendung von der Wahrnehmung der jeweiligen Zielgruppen als hilfsbedürftigen Objekten, denen sie sich von oben herab zuwenden. Stattdessen rücken diese Menschen als Träger unveräußerlicher Rechte ins Zentrum. Dabei orientiert sich die Kindernothilfe an den verschiedenen internationalen Abkommen zu den Menschenrechten wie vor allem der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem InternationalenPakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Nicht mehr im Sinne von Thomas von Aquin

Für die praktische Arbeit bedeutet das in erster Linie eine Veränderung der Haltung. So tritt die Kindernothilfe den Menschen in ihren Partnerländern (und ihren Partnerorganisationen) offen und hörend gegenüber. Zentrales Element ihrer Arbeit ist die Beteiligung der Zielgruppen an Planung, Durchführung und Monitoring der Arbeit geworden.

Tatsächlich spielt Barmherzigkeit oft nur noch in der humanitären Hilfe eine wichtige Rolle. Und selbst hier wird ein menschenrechtsbasierter Zugang zur Hilfe den betroffenen Menschen besser gerecht, weil er sie nicht nur als Opfer betrachtet, auf die sich das Erbarmen der verschont Gebliebenen ergießt. Auch die Überlebenden von menschengemachten und Naturkatastrophen haben ihre eigene Sicht auf ihre Bedürfnisse. Sie verfügen fast immer auch über Ressourcen, eigene Stärken und den Willen, ihre Lage zu meistern.

Das Bild, das dem humanitären Handeln zugrunde liegt, ist nur noch selten das der Barmherzigkeit. Auch die Kindernothilfe bildet in ihrer Arbeit nicht die Allmacht Gottes gegenüber seinen Geschöpfen nach, wie es Thomas von Aquin in seinem Lob der Barmherzigkeit beschreibt. Sondern sie bemüht sich, ihren Schwestern und Brüdern mit Achtung und Respekt entgegen zu treten. Die Unterschiede der jeweiligen Lebensumstände begründen keine Höherstellung. Denn wir alle sind Menschen mit denselben unveräußerlichen Rechten und unserer unantastbaren Würde.

Dass die Barmherzigkeit allmählich in den Hintergrund tritt – vielleicht ist es ein Segen.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2017: Religion und Umwelt
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