Kurz vor Tagesanbruch riss der heulende Orkan das Kirchendach von den Wänden und trieb die Dorfbewohner, die sich dorthin geflüchtet hatten, in die Dunkelheit hinaus. Hier saßen sie auf einer überschwemmten Brache und hielten sich an den Händen, während entwurzelte Bäume durch die Luft flogen. Am nächsten Vormittag zählten sie die Verluste. Die meisten hatten ihre Häuser, ihr Vieh und ihr Getreide verloren – und drei Menschen waren unter dem zusammengestürzten Dach der Kirche in Coteaux ums Leben gekommen.
Der Orkan Matthew im Oktober 2016 war auf Haiti der stärkste seit 52 Jahren. Laut offiziellen Angaben fielen ihm 1332 Haitianer zum Opfer, Zehntausende verloren ihr Dach über dem Kopf. Heute gleichen die Dörfer an der am schlimmsten betroffenen Südwestküste immer noch Bombenkratern, die mit Plastikmüll, Gesteinsbrocken und Kokospalmen ohne Kronen angefüllt sind.
„Unsere Politiker haben versagt“, sagt der 51-jährige Landwirt Serdé Ranodio nach einem Gottesdienst, den die Anwohner in einem kleinen Zementgebäude hinter der Ruine ihrer Kirche abgehalten haben. Die Familie des großen, schlanken Mannes muss auf dem nackten Fußboden in einer schnell gezimmerten Wellblechhütte schlafen; dennoch sind seine Töchter tadellos gekleidet – mit glänzenden Lackschuhen, Spitzenstrümpfen und roten Haarschleifen. „Das bisschen Hilfe, dass wir bekommen haben, wurde von unseren Amtsträgern in die Taschen ihrer Freunde umgeleitet“, klagt Ranodio.
Der Familienvater zeigt mir zuerst die kniehohe Ruine seines zerstörten gemauerten Hauses, dann eine trockene Anhöhe mit einem Holzkreuz. Da liegt seine Cousine Dicresia Misere begraben. Die beliebte 85-jährige Naturheilerin war unter denen, die während des Orkans in der Kirche starben.
An einem Steingrab in der Nähe hängt ein ausgebleichtes Wahlplakat für den neu ernannten Präsidenten Jovenel Moïse. Der rechtsgerichtete Geschäftsmann hatte bereits die erste Runde der Präsidentenwahl im Oktober 2015 gewonnen, doch danach klagte ein unterlegener Kandidat wegen Wahlbetrug, es gab Straßenproteste, und die Wahl wurde annulliert. Ein Jahr regierte ein handlungsunfähiger Stellvertreter, im November 2016 wurde erneut gewählt. Am 7. Februar wurde Jovenel Moïse endlich als 58. Präsident seines Landes vereidigt. Die politische Lähmung bis dahin hat den Wiederaufbau nicht gerade erleichtert.
Nur jeder fünfte Haitianer hat an der Wahl teilgenommen
„Hoffentlich wird das Leben etwas leichter, jetzt da wir wieder einen Präsidenten haben“, sagt Marie Saint Sima aus der Regionshauptstadt Les Cayes. Sie hat ihre beiden Söhne zum Karneval hier mitgebracht, um die Stimmung in dieser schweren Zeit ein wenig aufzuhellen. Nach dem Orkan hatten sich die Preise von Lebensmitteln verdoppelt, die Schule der Jungen war geschlossen und die Menschen fuhren in Kanus über die überschwemmten Boulevards zwischen Häusern, die noch immer den Wohlstand und Charme der Plantagenzeit erahnen lassen.
Jetzt sind diese Straßen in Les Cayes ein Menschenmeer von verkleideten Kindern; Volkstänze und farbenfrohe Paraden verwandeln sich nachts in einen tranceartigen Rave mit stampfenden Rhythmen. Denn in einer seiner ersten Amtshandlungen als Präsident hat Jovenel Moïse festgelegt, dass der landesweite Karneval im Februar dieses Jahr in Les Cayes stattfinden sollte. „Haiti soll wieder leben“ heißt das Karnevalsmotto.
Doch unter den Festteilnehmern sind die Erwartungen an den politisch unerfahrenen Präsidenten eher gedämpft. Nur jeder fünfte Haitianer hat bei den Wahlen seine Stimme abgegeben. 200 Jahre Selbständigkeit mit Staatsstreichen und einer Kleptokratie haben zur politischen Apathie beigetragen.
Moïse plant, wie so viele seiner Vorgänger, den Lebensstandard auf Haiti zu verbessern – durch Investitionen in Fremdenverkehr und Landwirtschaft. Das ist ein nahe liegender Plan, ist doch Haiti trotz seines schlechten Rufs eines der sichersten Länder in der Karibik und hat mehr Kunst und Lebenskraft zu bieten als sein etwas atemloses Nachbarland, die Dominikanische Republik, die von Touristen überrannt wird.
Das Potenzial Haitis wurde jedoch nie ausgeschöpft. Zurzeit gibt es keine Touristen an der haitianischen Riviera, wie das Gebiet nahe des Badeortes Port-Salut früher genannt wurde. Hier riecht es süßlich nach brennendem Abfall. Die großen Strandhotels sind leere Ruinen. Im einzigen geöffneten Hotel erzählt mir der Mann am Empfang, dass man früher an jedem Wochenende 20 Gäste hatte, heute im Durchschnitt nur einen. Und auch die Landwirtschaft, von der die Hälfte der Haitianer lebt, ist schwer getroffen. Schon vor dem Orkan war sie so unproduktiv, dass der Großteil der Lebensmittel importiert werden musste.
Der Präsident plant, im Tourismus die Errichtung von Luxushotels mit Privatstränden zu ermöglichen und für die Landwirtschaft zehn Zonen mit steuerfreien Agrarexporten festzulegen. Seine Anhänger setzen ihre Hoffnungen jedoch weniger auf das politische Programm als auf seinen Erfolg als Geschäftsmann.
Der etwas schüchterne Sohn einer Schneiderin und eines Mechanikers begann seine Karriere mit dem Verkauf von Autoteilen im Schmugglerort Port-de-Paix in seiner Heimatregion. Bekannt wurde er als Exporteur von Bananen – er wurde auch Bananenmann genannt. Wieder und wieder hat er im Wahlkampf erzählt, dass seine Firma Agritrans S.A. erstmals seit 60 Jahren wieder Bananen aus Haiti exportiert. So eine Geschichte wird in einem Land, das fast keine Waren ausführt, gerne aufgenommen.
Sowohl der damalige Präsident Michel Martelly als auch der Premierminister waren dabei, als im September 2015 die erste Ladung Exportbananen nach Deutschland verschifft wurde. Moïse hat anwesenden Fernsehjournalisten berichtet, dass er mindestens 3000 Arbeitsplätze geschaffen habe und eine Vereinbarung mit Deutschland eingegangen sei, jedes Jahr 160.000 Tonnen Bananen für den europäischen Markt zu liefern.
Moïses Firma steht im Ruf zwielichtiger Geldgeschäfte
Aber wenn seine Fähigkeiten als Geschäftsmann auf die als Präsident schließen lassen, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen für Haiti. Die Entstehung seiner Firma liegt im Dunkeln und ist von Korruption umgeben. Präsident Martelly hat seinem Parteifreund und späteren Nachfolger Moïse zur Gründung von Agritrans 2014 ein Darlehen in Höhe von rund acht Millionen Euro gewährt, das bis heute nicht zurückgezahlt wurde. Eine öffentliche Ausschreibung bei der Vergabe des Landes für die Plantagen fand nicht statt, und die Firma ist steuerbefreit. 800 Kleinbauern wurden vertrieben, so dass Moïse tausend Hektar attraktive landwirtschaftliche Flächen erhielt, deren Eigentumsverhältnisse vorher ungeklärt waren.
Laut der führenden Zeitung des Landes „Le Nouvelliste“ hat Agritrans nur 600 Arbeitsplätze geschaffen, die meisten zu Löhnen von drei US-Dollar am Tag. Und in der Statistik der Europäischen Union über ihren Bananenimport tauchen die haitianischen Bananen 2015 und 2016 gar nicht auf. Es ist zweifelhaft, ob das Unternehmen für Haiti überhaupt einen wirtschaftlichen Vorteil bedeutet hat. Weder die Agritrans, aus dessen Leitung sich Moïse zurückzog, um Präsidentschaftskandidat zu werden, noch dessen Partner Port International oder der Präsident haben auf Fragen in diesem Zusammenhang geantwortet.
Gerne antwortete dagegen Ludwig Leblanc, der Verteidiger des Präsidenten in einem Prozess über Geldwäsche und Korruption, den die unabhängige staatliche Geldwäschekommission UCREF vier Jahre vorbereitet und im vergangenen Jahr eingeleitet hat. „Die Beschuldigungen im Hinblick auf Geldwäsche und sein Unternehmen sind falsch und politisch motiviert. Jemand hat sie erfunden, um ihm zu schaden“, fertigt er die Frage ab. Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte Haitis. Leblanc behauptet, dass die Strafverfolger Dollars und Gourdes – die einheimische Währung – verwechselt hätten; nur das habe dazu geführt, dass Transaktionen der Firma verdächtig aussähen.
Der Präsident hat versprochen, einen harten Kurs gegen Korruption zu fahren und bestechliche Beamte aus dem Staatsapparat zu entfernen. Das wird schwer, ist aber notwendig. Das Land ist eines der korruptesten weltweit. Einige Beobachter bezeichnen Haiti sogar als Drogenstaat, da Polizeichefs und von Immunität geschützte Senatsmitglieder in mehreren Fällen überführt wurden, als sie Drogenhändlern halfen, Kokain aus den Dschungellabors in den Anden über Haiti in die USA zu schmuggeln. Unter ihnen befinden sich Freunde von Moïse.
„Das ganze System ist verrottet. Wenn der Präsident nicht schon korrupt ist, wird er es vermutlich werden“, argumentiert Gregory Brandt. Er kommt aus einer der zehn Familien, die zusammen den größten Teil der Reichtümer Haitis besitzen. Brandt gehört seit Jahrzehnten zum innersten Kreis der Macht und ist Präsident der französisch-haitianischen Handelskammer, in deren Räumen in Port-au Prince wir uns treffen.
Autor
Magnus Boding Hansen
ist Lateinamerika-Korrespondent der dänischen Wochenzeitung „Weekendavisen“.Brandt hat versucht, dies zu ändern, wurde aber bis jetzt stets von mächtigen Senatsmitgliedern ausgebremst, die sich am Schmuggel persönlich bereichern. Er klagt auch, die haitianische Verfassung, die 1987 nach dem Ende der Duvalier-Diktatur eingeführt wurde, erlege dem Präsidenten zu viele Beschränkungen auf. „Das Ergebnis ist, dass unsere politischen Entscheidungsträger machtlos sind. Was wir brauchen, ist ein wohlmeinender Diktator wie Ruandas Paul Kagame“, sagt der Geschäftsmann. Außerdem schlägt er vor, dass man den nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) fünf Jahre gibt, das Land zu verlassen: „Sie sind ein süchtig machender Stoff, von dem wir uns befreien müssen.“
Nur wenige Länder haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr Entwicklungshilfe erhalten als Haiti. Allein 2010 bekamen die Haitianer nach dem heftigen Erdbeben rund elf Milliarden Euro Hilfe, das 13-fache des Landeshaushalts. Dennoch ist Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre – und abhängiger von Entwicklungshilfe als je zuvor. An manchen Stellen war die Hilfe sogar schädlich. Einige Reisanbauer und andere Lebensmittelproduzenten konnten dem Wettbewerbsdruck von im Ausland eingekauften Lebensmitteln nicht standhalten, die nach dem Erdbeben vor gut sieben Jahren in großen Mengen ins Land geschafft wurden.
Für Tausende Haitianer ist die Entwicklungshilfeindustrie die beste Chance auf eine angemessen bezahlte Arbeit. Der Präsident will die NGOs nicht aus dem Land werfen, aber er hat eine stärkere Kontrolle darüber gefordert, wozu die Entwicklungshilfeindustrie das viele Geld verwendet. Das soll den Teufelskreis durchbrechen, dass nicht koordinierte Hilfe langfristige Lösungen verhindert.
Die Forderung findet Anklang bei vielen Haitianern an der orkangebeutelten Küste. „Die Entwicklungshelfer sehen uns nicht als Menschen, und ihre Hilfe ist kurzsichtig. Aus den Planen, die sie uns geben, kann man nur ein Rattenloch bauen“, klagt die 52-jährige Hausfrau Rosemary Exama am Strand des Fischerdorfes Bousquette. „Unser größtes Problem hatten wir schon vor dem Orkan“, fügt sie hinzu: Die Fischer könnten keine guten Preise für ihren Fisch erzielen, weil alle hier so arm sind. Zudem werden Ernten infolge einer Dürre vernichtet, die in Haiti seit vier Jahren herrscht. Sie gefährdet die Nahrungsversorgung für Hunderttausende Menschen. Der Bananenmann steht vor riesigen Aufgaben.
Aus dem Dänischen von Lessner-Übersetzungsservice.
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