Wenn die Grippewelle rollt

Seuchenbekämpfung
Alle Jahrzehnte wieder lösen neue Viren weltweite Erkrankungswellen aus. Auf eine große Pandemie ist die Staatengemeinschaft trotzdem nicht vorbereitet. Doch die WHO arbeitet daran.

Früher oder später wird eine weltweite Grippewelle kommen, warnen Infektionsforscher seit Jahren. Die Frage sei nicht  ob, sondern wann sie ausbreche. Auslöser sind Viren, die ständig in Menschen und Tieren leben. Wie alle Viren, verändern sie sich unentwegt und vermischen sich zu neuen Typen. Diese Neulinge überlisten dann das menschliche Immunsystem, weshalb Jahr für Jahr neue Grippewellen auftreten. Manchmal entsteht dabei ein besonders aktiver Stamm wie bei der sogenannten Spanischen Grippe 1918 bis 1920. Dann erkranken sehr viele Menschen in kurzer Zeit und mitunter sterben auch viele daran. Die Spanische Grippe forderte weltweit bis zu 50 Millionen Todesopfer.

Damit es nicht noch einmal zu einer solchen Pandemie kommt, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1948 ein globales Überwachungssystem eingerichtet, das sich auf 110 Referenzlaboratorien stützt. Sie suchen ständig nach neuen Virusvarianten. Zudem rief die WHO 1999 zur Pandemieplanung auf: Alle Staaten sollten Maßnahmen ergreifen, um bei einem weltweiten Grippeausbruch ein neuerliches Desaster zu vermeiden. 

Viele Länder haben seitdem Nationale Pandemiepläne erstellt und Arzneien und Impfstoffe gekauft. Ihre Vorbereitungen wurden schneller auf den Prüfstand gestellt, als die Politiker ahnten: 2009 breitete sich die Schweinegrippe von Mexiko über die ganze Welt aus. Am 11. Juni 2009 rief WHO-Direktorin Margaret Chan den Pandemie-Notstand der Stufe 6 aus, die höchste Alarmstufe. Damit war die Erkrankungswelle zum „Notfall für die öffentliche Gesundheit von internationaler Bedeutung“ geworden.

Die Bewährungsprobe dauerte über ein Jahr. Mit der Aufarbeitung dieser Grippewelle ist die Staatengemeinschaft bis heute beschäftigt. Denn so mancher Pandemieplan erwies sich als wenig praxistauglich. Deshalb ist derzeit die wichtigste Frage auf dem internationalen Parkett: Wie kann man sich besser vorbereiten?

Entgegen den Befürchtungen der Experten verlief die Grippewelle 2009 mild. Zwar konnten Labore in 214 Ländern und Überseegebieten das Virus in Patienten nachweisen, aber insgesamt starben mit knapp 20.000 Patienten deutlich weniger Menschen an der Spanischen Grippe – wobei das nur die bestätigten Fälle sind.

Die Weltgesundheitsorganisation hatte für den Fall einer globalen Grippewelle einen Pandemieplan erarbeitet, der in unterschiedlichen Phasen bestimmte Notfallmaßnahmen vorsah – je nachdem wie schnell sich der Erreger an einem Ort verbreitet und sich von Mensch zu Mensch überträgt. Während der Schweinegrippewelle sah sich die Organisation mit dieser Einteilung jedoch bald in der Klemme: Denn der Erreger verbreitete sich rasch global und wurde zunehmend von Mensch zu Mensch übertragen. Zentrale Kriterien für die höchste Warnstufe waren damit formal erfüllt. Doch das Virus war eben nicht sonderlich aggressiv, sodass die WHO zögerte. Als sie sich doch entschied, die Alarmstufe 6 auszurufen, warfen ihr Kritiker später Lobbyismus und Verflechtungen mit der Pharmaindustrie vor, denn etliche Staaten bestellten daraufhin Impfstoffe und Medikamente.

Eigene Risikobewertung der Länder

In der Folge überarbeitete die WHO 2013 ihre Kriterien für die verschiedenen Phasen im Pandemieplan. Das Hauptproblem habe darin bestanden, dass die Phasen zu starr und unflexibel gewesen seien und in vielen Ländern verfrühte Maßnahmen ausgelöst hätten, erklärt Diane Gross vom Regionalbüro der WHO in Dänemark. „Künftig gibt es keine Schwelle mehr, die zwangsläufig eine neue Phase einleitet“, sagt Gross. Die WHO wird die globale Lage analysieren und die weltweite Phaseneinstufung situationsabhängig vornehmen. Die Phasen untergliedern sich auch nur mehr in drei Zeiträume: erstens wenn ein neues Virus auftaucht, zweitens wenn sich dieses global verbreitet hat und drittens, wenn Maßnahmen der Deeskalation eingeleitet wurden.

Ausdrücklich wird die Kompetenz der Länder und Regionen gestärkt. Diese sollen ihre Maßnahmen nicht mehr von der Phaseneinstufung der WHO abhängig machen. „Die Länder müssen eine eigene Risikobewertung vornehmen und entscheiden, welche Maßnahmen sinnvoll sind“, erklärt Gross. Das bedeutet mehr nationale Eigenverantwortung bei der Pandemieprävention und für den Ernstfall bei der Eindämmung einer neuen Grippe. Die WHO zieht sich auf die Rolle der globalen Beobachterin zurück, die das weltweite Infektionsgeschehen verfolgt und kommuniziert.

Die Länder sind also mehr auf sich gestellt. Welche Belastungen das bedeutet, zeigen Erfahrungen mit der Schweinegrippe 2009 in Mexiko und einigen asiatischen Ländern. Von Mexiko aus hatte sich die neue Grippe verbreitet. Die mexikanischen Ärzte bemerkten zunächst nur ungewöhnliche Lungenentzündungen bei vergleichsweise jungen Menschen, besonders im Alter von 20 bis 40 Jahren. Als die Erkrankung dann über Reisende in die USA gelangte, wurde sie dort in den Laboren als neue Grippe identifiziert. In Mexiko fehlte bis zum Ausbruch der Krise das Knowhow in den Laboratorien, um den Erreger nachzuweisen. Erst nach Beginn der Erkrankungswelle wurden sie in Windeseile ausgestattet.

Die mexikanische Regierung reagierte rasch. Soldaten und Polizisten verteilten Mundschutz und Desinfektionsmittel. Der Präsident ordnete den Ausnahmezustand an, in Teilen des Landes wurden die Schulen geschlossen; Konzerte, religiöse Zeremonien und öffentliche Versammlungen wurden untersagt. Fabriken wurden aufgefordert zu schließen. An vielen Flughäfen wurden Quarantänestationen eingerichtet.

Lob für Mexiko

Mexiko wurde für sein schnelles Handeln international gelobt. Die unterschiedlichen Maßnahmen dürften dazu beigetragen haben, dass sich die Schweinegrippe nicht im ganzen Land ausgebreitet hat. Doch die Pandemie verursachte schweren wirtschaftlichen Schaden. Der Peso brach stark ein, für die Bereiche Handel, Dienstleistungen und Tourismus werden die Verluste auf etwa 700 Millionen Euro geschätzt, was 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entsprach. Man müsse künftig die wirtschaftlichen Folgen der jeweiligen Maßnahmen stärker in den Blick nehmen, heißt es aus dem mexikanischen Gesundheitsministerium. Was das im Einzelnen heißt, ist nicht genau zu erfahren. Aber vermutlich werden künftig kostengünstige Maßnahmen wie Händewaschen und das Verbot öffentlicher Versammlungen im Vordergrund stehen und nicht die Schließung von Fabriken.

Der Ernstfall 2009 hat viele Notfallpläne obsolet gemacht. So sollten in Australien Flughäfen und Häfen geschlossen werden, China stellte in seinem Plan sogar in Aussicht, die Landesgrenzen zu schließen. Doch derart rigide Maßnahmen blieben reine Theorie, weil die Grippe sich schneller verbreitete, als Politiker Entscheidungen trafen. Außerdem wurde schnell klar, dass der wirtschaftliche Schaden als Folge dieser Abschottung in keinem angemessenen Verhältnis zur Wirksamkeit stehen würde.

Auch für Deutschland eine Bewährungsprobe

Grenzschließungen sind in Computersimulationen stets höchst effektiv, um die Ausbreitung von Grippeviren zu unterbinden. Doch in der Praxis sind sie aufwendig, teuer und schwer umzusetzen. In vielen Ländern Asiens wurden Einreisende 2009 an internationalen Flughäfen mit Spezialgeräten auf Fieber gescannt und nach Grippesymptomen befragt. Sobald ein Krankheitsverdacht aufkam, wurden sie teils in Quarantäne genommen. Das ist nur für kleinere Länder wie Vietnam und Singapur mit einem oder zwei internationalen Flughäfen sinnvoll, sagen Fachleute. Und selbst dort hätten diese Maßnahmen das Auftreten der Pandemie nur um zwei Wochen verzögert. Konsequente Schulschließungen hingegen seien wirksam gewesen, etwa in Hongkong. Dort konnte die Infektionsrate in der Bevölkerung um 25 Prozent gesenkt werden. 

Autorin

Susanne Donner

ist Wissenschaftsjournalistin im Journalistenbüro Schnittstelle in Berlin.
Wenig rühmlich war die Verteilung von Medikamenten in Asien. Die asiatischen Länder hatten nur geringe Vorräte, so dass es nicht genug für alle Gesundheitseinrichtungen gab. Als die Pharmaunternehmen schließlich nachproduzierten und auch ein Impfstoff im Eilverfahren auf den Markt kam, standen die asiatischen Länder hintenan, weil erst die reichen Industrienationen beliefert wurden. Erst als diese die Arzneien nicht benötigten, gelangten sie in größeren Mengen nach Asien. Dieses Verteilungsproblem, das auch bei Lieferengpässen außerhalb von Krisenzeiten auftritt, könnte nur über eine globale Reserve gelöst werden. Doch davon ist man weit entfernt, hat doch die WHO mehr nationale Eigenverantwortlichkeit für künftige Pandemien angemahnt.

Selbst für ein reiches Land wie Deutschland mit bewährter Gesundheitsversorgung ist eine Pandemie wie die Grippe 2009 eine immense Bewährungsprobe. „Die Fachkräfte in der medizinischen Versorgung, im öffentlichen Gesundheitsdienst und bei den Bundesbehörden haben über Wochen bis an den Rand der Erschöpfung und der vorhandenen Kapazitäten zum Wohl der Allgemeinheit gearbeitet“, berichtete Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut auf einer Diskussionsrunde, zu der das Deutsche Ärzteblatt 2010 einlud. Es sei den kommunalen Gesundheitsämtern zu verdanken, dass die Verbreitung bis in den Herbst hinein stark eingedämmt werden konnte. „Etliche Schülergruppen brachten die Grippeviren von ihren Aufenthalten auf Mallorca mit. Die Ämter haben diese sofort untersucht und jeder, der infiziert war, musste zuhause bleiben und den Kontakt zu anderen Personen meiden. Die waren richtig auf Zack.“

Und doch waren die Krankenhäuser auch hierzulande während der Pandemie voll ausgelastet und spezielle Herz-Lungen-Maschinen für  besonders schwer betroffene Patienten wurden mancherorts knapp. Dabei war die Grippewelle vor acht Jahren letztlich nicht der Rede wert. Wirklich vorbereitet auf eine katastrophale Pandemie wie die Spanische Grippe ist die Welt derzeit nicht. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2017: G20: Deutschland übernimmt
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