"La Cabaña de Alta Costura – Misericordia“ verheißt das Plakat an der einfachen Holztür: Haute Couture aus der Baracke. In dem kleinen Fabrikgebäude im Zentrum der peruanischen Hauptstadt Lima residiert das einzige Modelabel des Landes. In den vergangenen 14 Jahren hat es sich weit über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht: Es beliefert Boutiquen in Paris, Berlin, Rom und Tokio. Zwei Mal im Jahr verlässt eine neue Kollektion die Schneiderwerkstatt. Im Moment ist es eher ruhig. „Wir stecken gerade in der Phase zwischen zwei Kollektionen – da passiert nicht viel. Die einen kümmern sich um die Wartung der Maschinen, die anderen machen sich Gedanken über neue Schnitte und Designs“, erklärt María Huamani Anca.
Die junge Verwaltungsspezialistin arbeitet seit rund sieben Jahren für Misericordia. Sie kümmert sich um die Abrechnung und die nötigen Exportpapiere – und freut sich immer auf die Zeit, in der neue Kleider kreiert werden. „Das ist immer spannend, denn dann versuchen wir uns selbst zu übertreffen“, sagt die Informatikerin, der das kreative Ambiente bei Misericordia gut gefällt.
Begonnen hat alles mit einer kleinen Schneiderei im Norden Limas, die von Nonnen betrieben wurde. Die Schuluniformen und Sportjacken mit dem Logo von „Nuestra Señora de la Misericordia“ – „Unsere Liebe Frau der Barmherzigkeit“, so hieß die Schule im Armenviertel Zapallal – fanden die beiden Franzosen Mathieu Remaux und Aurelyen Conty so cool, dass sie auf die Idee kamen, eine komplette Kollektion auf die Beine zu stellen. „Wir hatten beide keine Ahnung von Mode, ich hatte Kunst studiert. Doch wir hatten uns in das Land verliebt und wollten helfen, neue Perspektiven zu entwickeln“, erinnert sich Conty. Nach dem Studium war er mit seinem Freund Mathieu Remaux in Lateinamerika auf Entdeckungsreise. Die beiden blieben in Peru hängen, wo Remaux durch Zufall die Schneiderei entdeckte.
Lieferengpässe bei der Bio-Baumwolle
2003 eröffneten die beiden zunächst einen Fünf-Mann-Betrieb unter dem Label Misericordia im Stadtteil Zapallal. Das Unternehmen wuchs, zwei Jahre später zog es in das Stadtviertel Lince, vor zwei Jahren folgte dann der Umzug nach San Miguel. Remaux verließ die Firma 2005, seitdem ist Conty, ein schlaksiger Mann mit optimistisch funkelnden Augen, allein verantwortlich. Er hat die Kollektion Schritt für Schritt erweitert, nach und nach neue Maschinen angeschafft. Begonnen hat Misericordia mit Trainingsjacken und T-Shirts, inzwischen werden auch Pullover, Winterjacken und Mäntel produziert. Für Herren ist aktuell unter anderem ein dunkelblauer Nicki im Programm, für Damen ein sportlicher, gepunkteter Blouson. Alle Stücke tragen das Logo des Labels: zwei Hände, ein Stern und ein Herz.
Hände, Geist und Herz – dieser Dreiklang bildet die Basis des Unternehmens, das mit dem Anspruch gegründet wurde, ein kollektives Projekt mit ökologischer und sozialer Verantwortung auf die Beine zu stellen. „Wir sind kein Fairtrade-Unternehmen, sondern ein peruanisches Modeunternehmen, das in Lima designt und produziert“, betont Conty schnell, um nicht in eine falsche Schublade gesteckt zu werden. Produziert wird mit peruanischen Stoffen und Garnen. Die Näherinnen verarbeiten sowohl Alpaka-Wolle als auch Pima-Baumwolle, die langfaserige Qualitätsbaumwolle aus Peru. Früher habe man Bio-Baumwolle verarbeitet, aber da habe es immer wieder Lieferengpässe gegeben, erklärt Neymar Vergaray Sánchez. Er ist für den Einkauf verantwortlich und regelmäßig auf dem größten Stoffmarkt, La Gamarra, in Limas Stadtteil La Victoria unterwegs, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sonst schneidet der drahtige, bärtige Peruaner die Stoffe zu. Er schätzt es, dass bei Misericordia gemeinsam nach Lösungen und Konzepten für die Kollektionen gesucht wird. „Ich habe vorher als Supervisor in einem anderen Textilunternehmen gearbeitet. Hier fühle ich mich aber deutlich wohler, weil es weniger hierarchisch zugeht.“
Conty fördert und fordert die Mitsprache seiner Beschäftigten. „Gemeinsam besser werden“, lautet sein Motto. „Hier arbeiten wir im Team und jede und jeder ist von Anfang an für ein Kleidungsstück verantwortlich. Es wird nicht nur ein Teil genäht, sondern die ganze Jacke oder die ganze Hose“, ergänzt Cleofe Alania Baldeon, die als seine rechte Hand fungiert. Geliefert wird an Boutiquen in Paris, Berlin, Rom oder Tokio. Misericordia hat im eher hochpreisigen Streetwear-Segment einen Markt gefunden.
Internationale Kontakte zu Designern
„Wir wachsen langsam, aber stetig und müssen schon wieder hin- und herräumen, um Platz zu schaffen, wenn die Produktion läuft“, erklärt die 47-jährige, die meist am Rechner unter dem großen Logo im oberen Stockwerk sitzt. Dort wird auch genäht, unten wird zugeschnitten, gedruckt, gewaschen, gebügelt und verpackt. Hin und wieder muss umgeräumt werden, denn es fehlt an Lagerraum.
Auch seinem sozialen Anspruch wird Conty gerecht: Alle 14 Beschäftigten werden über dem staatlichen Mindestlohn von derzeit 850 Soles entlohnt und sind rundum sozialversichert. Das gilt auch für die rund 30 Näherinnen und Näher, die in der Produktionszeit dazu stoßen, um die gut 30.000 Kleidungsstücke, die jährlich ausgeliefert werden, anzufertigen.
„Dabei arbeiten wir nur fünf Tage die Woche und drei Stunden weniger als in Peru üblich ist“, erklärt María Huamani Anca. Statt 48 Stunden nur 45 – das erlaubt es der 32-jährigen Mutter, mehr Zeit mit ihrer fünfjährigen Tochter zu verbringen. Ein Vorteil, den sie zu schätzen weiß und der im Textilsektor, wo Überstunden üblich sind, selten ist. „Die Mischung aus kreativem Miteinander, fairen Arbeitsbedingungen und Bezahlung führt zu einem familiären Betriebsklima“, erklärt die junge Frau, die auch schon einmal als Model für die Homepage eingesprungen ist.
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Das hat der kleinen peruanischen Marke weltweit Fans gebracht – sie sorgen dafür, dass das Unternehmen aus San Miguel schwarze Zahlen schreibt, wie die Finanzverantwortliche Maria Huamani Anca stolz berichtet. Damit das so bleibt, wird Cleofe Alania Baldeon in Kürze zum ersten Mal nach Paris fliegen, um gemeinsam mit ihrem Chef diverse Modemessen zu besuchen. Sie will sich inspirieren lassen und beobachten, was die Konkurrenz so treibt. Das könnte helfen, die eigene Nische etwas auszuweiten.
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