und dort wachsen die Spannungen wieder.
Etienne Guinot hebt eine blaue Plastiktüte auf, zieht eine tote Schlange heraus und hält sie hoch. „Wenn sie beißt, stirbst du“, warnt er und reibt die raue, gefleckte Schlangenhaut zwischen den Fingern. Hier in Fondo, einem Viertel der Hauptstadt Bangui, sind die Schlangen inzwischen überall: Sie hängen in den Bäumen, kriechen durchs Gras und verstecken sich in großen Schutthaufen, wo früher einmal Häuser standen.
Die ersten Schlangen kamen, kurz nachdem Guinot und seine Nachbarn am 5. Dezember 2013 aus der zentralafrikanischen Hauptstadt hatten fliehen müssen. An diesem Tag war es zu Massenmorden an Christen und Muslimen gekommen. Jetzt kehren die damals Geflohenen voller Angst in ihre verlassenen Häuser zurück.
Das Gemetzel war das Werk der Séléka – einer überwiegend muslimischen Koalition von Rebellengruppen, die neun Monate zuvor in einem Putsch die Macht im Land übernommen hatte – sowie ihrer Gegner, der Anti-Balaka. Dieses lose Netzwerk vorwiegend christlicher Selbstverteidigungsmilizen hatte sich als Reaktion auf die Übergriffe der Séléka gebildet.
Zusammen mit seiner Familie suchte Guinot, ein Christ, Zuflucht am Flughafen M’Poko in Bangui; dort lebte er vier Jahre unter dem Schutz französischer Soldaten und der Vereinten Nationen. Zu Spitzenzeiten kampierten in dem Lager mehr als hunderttausend Menschen, so dass es zu einem Bild der Krise in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) wurde: Binnenvertriebene, die neben der Start- und Landebahn eines internationalen Flughafens in Schmutz und Elend leben.
Seit Dezember arbeitet die Regierung nun an der Schließung des Lagers. Zwar sagen nur wenige der Vertriebenen, dass sie das Leben in M’Poko vermissen werden. Aber Tausende Schutzbedürftige wissen nun nicht, wohin sie gehen und was sie tun sollen.
Alle drei Häuser, die Guinot besaß, wurden zerstört
Wie Guinot sind viele Bewohner von M’Poko Christen, die früher im und um den dritten Bezirk von Bangui lebten. Zu dem gehört auch das letzte muslimische Viertel, das noch übrig geblieben ist: PK5. Als sich 2013 die Gewalt in Bangui ausbreitete, zogen vertriebene Muslime nach PK5, während die meisten Christen diesen Stadtteil verließen. In den darauffolgenden Wochen zerstörten Séléka-Kämpfer mit Granaten, Stahlstangen und Fußtritten Tausende Häuser von Christen. Früher besaß Guinot drei Häuser: eines für seine Tochter, eines für seinen Sohn und eines für ihn selbst. Alle wurden 2013 zerstört.
Seit ihrer Rückkehr am 29. Januar lebt Guinots Familie in einem verlassenen Nachbarhaus, ohne Dach, ohne Fenster und ohne Haustür. Nachts teilen sich vier Personen eine durchlöcherte Schaumstoffmatratze, der zwei mal zwei Meter große Raum ist mit einer UNHCR-Plane abgedeckt. Die anderen schlafen draußen. „Es ist sehr schwer“, sagt Guinot. „Wir haben kein Haus und nichts zu essen. Mein Enkel, meine Kinder: Wir können nicht für sie sorgen.“
Im Vergleich zu den Provinzen der ZAR, die weitgehend von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, ist in Bangui im Laufe des vergangenen Jahres wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Die Wahlen im Februar 2016 verliefen friedlich und eine große UN-Friedenstruppe – die Mehrdimensionale Integrierte Stabilisierungsmission in der Zentralafrikanischen Republik (MINUSCA) – ist weiter dort stationiert. „Wir glauben, dass sich die Sicherheitssituation nach der Wahl verbessert hat, und wir möchten, dass die Menschen in ihre Häuser zurückkehren und so gut sie können zu Stabilität und Frieden beitragen“, sagt Juliana Yodiam, Leiterin der humanitären Hilfe im zentralafrikanischen Sozialministerium.
Doch seit Beginn des Konflikts haben größere muslimische und christliche Gemeinschaften in Bangui nicht mehr zusammengelebt. Und niemand weiß, ob sie jetzt dazu bereit sind. Arsene Djamba Gassy arbeitet seit 2014 an Projekten zum sozialen Zusammenhalt der britischen NGO „Conciliation Resources“ im dritten Bezirk mit. Die Menschen hätten „die Gewalt satt“ und „keine grundsätzlichen Probleme“ miteinander, sagt er. Doch er stellt klar: Bei den bisherigen Konzepten für den sozialen Zusammenhalt habe man es versäumt, die eigentlichen Probleme anzugehen. Es seien vorgefertigte Lösungen bevorzugt worden statt von den örtlichen Gemeinschaften gestaltete Projekte. Ein Vorhaben bringe junge Christen und Muslime zu einem Fußballspiel zusammen, sagt Gassy. „Aber danach geht jeder nach Hause. Ein Vater, der seinen Sohn verloren hat – hat er mit diesem Fußballspiel etwas gewonnen? Genau so wurde in den vergangenen beiden Jahren gearbeitet.“
Einige Séléka-Führer sind im Busch untergetaucht
Führer der verschiedenen Séléka-Splittergruppen haben aus Frustration über das staatliche Programm für Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR) das Viertel PK5 im vergangenen August verlassen und sich in den Busch zurückgezogen. Dagegen sind bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen nach wie vor in der Gegend aktiv. „Sie sind schlechter organisiert“, sagt François Hericher, stellvertretender Landesdirektor der französischen humanitären Organisation ACTED, die sich weltweit um Konfliktopfer kümmert. „Aber sie neigen mehr zu Kriminalität.“
In einer staubigen Seitenstraße im Stadtteil PK5 sitzt Matar Anemeri alias „Macht“ an einem Tisch. Er trägt einen Tarnanzug, an einer dicken roten Schnur hängt eine Pistole um seinen Hals. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine Stimme ist tief und rau. Der 36-Jährige war Mitglied der zentralafrikanischen Streitkräfte und wurde 2003 zum Rebellen, als François Bozizé mit einem Staatsstreich die Macht übernahm. Später schloss er sich der Séléka an. Heute führt er eine Selbstverteidigungsgruppe im Süden und Südwesten des Viertels PK5.
Anemeri, ein starker Trinker, sagt, er wolle Frieden und Zugang zum staatlichen Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm DDR. Zum Beweis dafür hat er Judicael Moganazou mitgebracht, einen ehemaligen Kämpfer und zurzeit Sprecher von Maxim Mokom, einem führenden Mitglied der Anti-Balaka. Eine solche Geste wäre früher undenkbar gewesen; noch immer geraten Kräfte des ehemaligen Séléka-Bündnisses und Gruppen der Anti-Balaka fast täglich aneinander.
Auf die Gemeinschaften angesprochen, die jetzt nach Hause zurückkehren, erklärt Anemeri, er schicke nachts Einsatzwagen hinaus, um „Christen vor schlechten Leuten unter uns zu schützen“. Dazu nickt Moganazou begeistert. Dass muslimische Händler im Viertel PK5 von bewaffneten Männern erpresst werden, ist aber kein gutes Zeichen. Und in einem Moment der Bescheidenheit gibt Anemeri zu, er habe keine Kontrolle über die 500 Bewaffneten, die nach seiner Aussage für ihn arbeiten – nach einem kürzlich vorgelegten Bericht des UN-Expertengremiums für die ZAR sind es viel weniger. „Es spielt keine Rolle, ob man 500 Leute unter sich hat oder 1000“, sagt er. „Wenn man kein Geld hat, um sie zu bezahlen, wie kann man sie dann kontrollieren? Man weiß nicht, wozu sie fähig sind, wenn sie Hunger haben.“
Die Angst vor bewaffneten Gruppen im Viertel PK5 packt viele Rückkehrer. Nach drei Jahren in M’Poko mache es ihr Angst, wieder zu Hause zu sein, sagt Benedithe Ngoimon, die auch aus Fondo kommt. Dass sie in einer Hütte aus rostigem Wellblech und einer alten Plastikplane lebt, ist sicherlich keine Hilfe. „Gestern Nacht habe ich ganz in der Nähe einen Schuss gehört“, sagt sie. „Ich dachte, dass wir vielleicht wieder ins Camp zurückgehen müssen.“
Ohne zusätzliche soziale Dienste gibt es neue Konflikte
Bevor die Vertriebenen M’Poko verlassen, sollten in den Rückkehrvierteln beträchtliche Investitionen vorgenommen werden, fordern die NGOs. Unter anderem ist die Bevölkerung im Stadtteil PK5 durch die Ankunft vertriebener Muslime aus anderen Gegenden während der Krise beträchtlich gewachsen. Nun kommen neue Gruppen zurück und es herrscht bereits materieller Mangel – Wasserversorgung, Müllentsorgung, medizinische und schulische Versorgung sind sehr lückenhaft. Manche sagen, damit seien bereits die Voraussetzungen für neue Konflikte gegeben.
„Die Regierung sorgt dafür, dass die Leute das Lager verlassen, aber sie hat keine Strategie für das, was folgt“, sagt ein NGO-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben möchte und an den monatelangen Verhandlungen mit der Regierung über M‘Poko beteiligt war. „Wenn es nicht mehr soziale Dienste gibt, kann das zu Spannungen in der Bevölkerung führen.“
Wie viele Vertriebene angesichts dieser Situation tatsächlich in den dritten Bezirk zurückkehren, bleibt abzuwarten. Laut Sahdia Khan, Nothilfe-Koordinatorin bei der Internationalen Organisation für Migration, lehrt die Erfahrung, dass viele woanders hingehen werden. „Viele Menschen haben M’Poko schon verlassen, aber sie sind in Gegenden gezogen, die sicher sind“, sagt sie. Doch die Zahl der Zurückkehrenden ist jetzt besonders groß, da 15 von 30 weiteren Vertriebenenlagern in der Hauptstadt ebenfalls geschlossen wurden. Selbst wenn sich viele anderswo in Bangui niederlassen, „ist dies eine neue Situation“, räumt Khan ein.
Um den Vertriebenen zu helfen, M’Poko zu verlassen, zahlt die Regierung einzelnen Personen und Familien zwischen 80 und 160 Euro. Doch verwaltungstechnische Probleme, etwa, wenn Beamte Namen falsch schreiben, haben bei Dutzenden Vertriebenen dazu geführt, dass sie überhaupt nichts erhalten haben. Diejenigen, die ihr Geld tatsächlich bekommen haben, sagen, es sei zu wenig. Guinots Nachbarin, die 48-jährige Melanie Ouagram, ist am 26. Januar mit 80 Euro in der Tasche zurückgekehrt. Eine Woche später hatte sie nichts mehr. Sie hatte das ganze Geld dafür ausgegeben, Schulden zu bezahlen und Ziegelsteine und Nahrungsmittel zu kaufen.
Da ihr die finanzielle Unterstützung von ihrem Ehemann fehlt – er wurde am 6. Dezember von ehemaligen Séléka-Kämpfern erschossen –, kann Ouagram nur für zwei ihrer sechs Kinder das Schulgeld aufbringen. „Wenn man dir nur so wenig Geld gibt, heißt das, dass man dich im Stich lässt“, sagt sie. Hilfe kommt von einigen NGOs. Bis heute hat ACTED beim Wiederaufbau von 1300 Häusern geholfen – mithilfe eines Systems, das es den Vertriebenen ermöglicht, Material im Wert von etwa 200 Dollar zu kaufen und selbst zu bauen.
Autor
Philip Kleinfeld
ist freier Journalist in London.Doch Bangui bleibt ein gefährlicher Ort, gibt Hericher zu. 2015 unterstützte ACTED den Wiederaufbau von fast 900 Häusern. Aber als im September die Gewalt nach dem Mord an einem 17-jährigen muslimischen Taxifahrer wieder aufflammte, wurden sie alle zerstört. „Das ist eine wichtige Mahnung“, betont Hericher und deutet auf ein ganzes Viertel ausgebrannter Gebäude in der Ferne: „Alles kann sich von einem Tag auf den anderen ändern.“
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
Das englische Original des Beitrags ist auf dem Internetportal IRIN erschienen, das über humanitäre Krisen weltweit berichtet. IRIN ist nicht für die Übersetzung des Textes verantwortlich.
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