Die Zuckerbäckerinnen von Puebla

Sandra Weiss
Verführerische Vielfalt: ­Figur­bewussten Kunden bietet ­Claudia Soto in ihrem Laden ­tropische Zuckerfrüchte und ­Oblaten aus Amaranth an.
Ernährung
In Mexiko erhebt die Regierung eine Sondersteuer auf Süßigkeiten. Den Leckereien von Claudia Soto und ihren Schwestern kann trotzdem niemand widerstehen.

Es begann um 1900 in der Küche von Victoria Ortíz. Im Ofen ihres gutbürgerlichen Kolonialhauses in der zentralmexikanischen Stadt Puebla entstanden die ersten süßen Köstlichkeiten für Familienfeste: kandierte Früchte und Süßkartoffeln, Kokosmakronen, Kekse mit einer zuckrigen Glasur aus gemahlenen Kürbiskernen und der weiße Nougat Turrón, eine spanisch-arabische Weihnachtsleckerei aus Mandeln, Honig, Zucker und Eiweiß. Die Familie war begeistert, und die kinderlos gebliebene Ortíz beschloss, aus dem Hobby ein kleines Geschäft zu machen. Sie eröffnete ihren ersten Laden in der Straße 6 Oriente, flankiert von zwei Kirchen. „La Gran Fama“ nannte sie das Lokal, „Der Große Ruhm“.

Sowohl der Name als auch der Ort erwiesen sich als goldrichtig: Nach der Messe sonntags holten sich die Kirchgänger in „La Gran Fama“ gerne eine wohlverdiente Leckerei ab. Den Kindern steckte die energisch dreinblickende Dame mit den widerspenstigen schwarzen Locken augenzwinkernd einen Keks oder ein Bonbon zu, wie ihre Urgroßnichte Claudia Soto erzählt. So entstand eine Tradition: „Heute erzählen noch manch ältere Herrschaften mit leuchtenden Augen, wie sie sich schon als Kinder auf den Kirchgang freuten, weil es danach einen Keks bei uns gab“, sagt Soto, die von ihrer Urgroßtante die Locken geerbt hat, allerdings in kastanienrot. Viele dieser älteren Herrschaften bringen heute wiederum ihre Enkel mit.

Puebla war die erste Stadtgründung der spanischen Kolonialherren auf mexikanischem Boden und erwies sich als ideal für Konditoren. Es liegt an der Handelsstraße zwischen dem Atlantikhafen von Veracruz und der Hauptstadt. Daher war Puebla seit dem 16. Jahrhundert ein wichtiger Umschlagplatz, wo man alle Zutaten fand. Außerdem war es ein Zentrum der katholischen Mission, und in den Klöstern wurde von jeher der Kochkunst gefrönt. Dort erhielten außerdem die Kinder der Elite ihre Ausbildung, wie zum Beispiel Victoria Ortíz.

Wunderwelt aus Zucker

Die Nonnen erwiesen sich als sehr experimentierfreudig: Sie nahmen viele Nachspeisen der indigenen Völker in ihr Repertoire auf – zum Beispiel die glasierte Süßwurzel „camote“ oder die aus Honig, Amarant und Kürbiskernen bestehenden „palanquetas“, ein Vorläufer der Müsliriegel. Und sie ersetzten teure und rare europäische Zutaten wie Mandeln durch einheimische wie Kürbiskerne und schufen so neue Geschmacksrichtungen. So wurde Puebla zu einer kulinarischen Hochburg, besonders für Nachtische. Und ein Tablett voller kleiner, bunter, zuckersüßer Leckereien „dulces poblanos“ gehört bis heute in jeder gutbürgerlichen Familie und in jedem Traditionsrestaurant zu den klassischen Desserts und Mitbringseln.

Auch „La Gran Fama“ mit seinen Holzvitrinen ist bis heute eine kleine, nostalgische Wunderwelt aus Zucker geblieben. Manches wie der „Turrón“ wird noch nach geheimem Familienrezept hergestellt. Auf Silber- oder Porzellantellern liebevoll arrangiert locken winzige Marzipanschwäne, kreisrunde Lollis in Regenbogenfarben oder glänzend schwarze Schoko-Trüffel auf rotem Seidenpapier die Kunden. Das Geschäft läuft gut. Zur Hauptniederlassung in der 6 Oriente, die inzwischen die Zuckerbäcker-Straße von Puebla geworden ist, sind drei Filialen hinzugekommen. Unlängst wurde ein Laden in einem der schicksten Einkaufszentren Pueblas eröffnet. „Retro ist in“, sagt Claudia Soto, die zusammen mit zwei Schwestern und der Mutter die Geschäfte in der vierten Generation leitet.

Aber tragen die Frauen mit ihrem verführerischen Angebot nicht zum Übergewicht vieler Mexikaner und Mexikanerinnen bei? Und behindern sie nicht den Kampf gegen Zucker, den die mexikanische Regierung unlängst ausgerufen hat, nachdem die Weltgesundheitsorganisation Alarm geschlagen hatte? Mexiko hat nach den USA die meisten Menschen mit Diabetes und Übergewicht. 70 Prozent der rund 120 Millionen Mexikaner und jedes dritte Kind sind zu dick. Sechseinhalb Millionen sind zuckerkrank, jedes Jahr sterben rund 78.000 an den Folgen. Beim Pro-Kopf-Verbrauch von gezuckerten Erfrischungsgetränken ist Mexiko laut panamerikanischer Gesundheitsorganisation Weltmeister: 163 Liter trinkt jeder Mexikaner im Durchschnitt im Jahr. Deutschland landet mit 34 Litern pro Kopf auf dem zehnten Platz.

Steuer auf Süßkram

Übergewicht und die damit verbundenen Krankheiten sind schon lange ein ernstes Problem in Mexiko. Doch erst 2013 rang sich die Regierung zu einer achtprozentigen Sondersteuer auf Erfrischungsgetränke und zuckerhaltige, fett machende Lebensmittel durch. Im Gegensatz zu den Food-Multis findet die Zuckerbäckerin Claudia Soto die Steuer in Ordnung. „Das ist gut so, wenn es der Volksgesundheit zugutekommt“, sagt die 32-Jährige. Sie nasche selbst gerne Süßigkeiten, „aber alles in Maßen“.

„La Gran Fama“ hat die Steuer auf den Verkaufspreis aufgeschlagen. Dem Umsatz hat das nicht geschadet. Ihre Kunden kommen aus der Ober- und Mittelschicht und achten mehr auf Qualität als auf den Preis. Ganz anders als in den Supermärkten, wo die weniger begüterten Mexikaner einkaufen und die industriellen Schokoriegel und Kekse ausliegen. Dort sind die Verkäufe nach Einführung der Steuer nach Angaben der Industrie zunächst um zwei Prozent gesunken, dann aber wieder gestiegen. Deshalb sei die Steuer sinnlos, so die Konzerne. Unabhängige Studien des Instituts für Volksgesundheit zusammen mit der US-Universität von North Carolina gehen allerdings von einem anhaltenden Verkaufseinbruch zwischen sechs und zwölf Prozent aus; bei den unteren Schichten sei der Rückgang noch größer.

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Die Reaktion der Lebensmittelindustrie legt nahe, dass diese Studien zutreffen: Die Multis laufen Sturm und mobilisieren ihre Lobby gegen die Steuer. Wenn es ihnen gelingt, sie als wirkungslos zu entlarven, hätten sie eine wichtige Schlacht gewonnen, da auch andere Länder mit einer solchen Abgabe liebäugeln. 2015 hatten die Lobbyisten schon eine Parlamentsmehrheit für eine Reduzierung der Steuer um die Hälfte beisammen. Doch als die Presse Wind davon bekam und kritische Verbraucher und Ärzte eine Gegenkampagne starteten, stimmte der Senat gegen die Reduzierung. Rund zwei Milliarden US-Dollar hat die Regierung durch die Sondersteuer bisher im Jahr eingenommen. Das ist Studien zufolge etwa ein Drittel der Kosten für die Behandlung aller Diabeteskranken. 2016 werden die Einnahmen aus der Sondersteuer mit 1,2 Milliarden US-Dollar veranschlagt.

Die Mexikaner werden figur- und ernährungsbewusster. Auch Soto versucht, mit der Zeit zu gehen. Neue Süßigkeiten haben Eingang gefunden in ihr Sortiment – so die tropischen Zuckerfrüchte aus Agar, einem Gelatineersatz aus Algen. „Die kaufen Veganer und Vegetarier gerne“, sagt Soto. Den Kaloriengehalt wollen bislang allerdings nur wenige der Kunden wissen. Höchstens einer von zwanzig erkundigt sich nach den figurverträglichsten Süßigkeiten. „Dem empfehle ich dann die ,palanquetas‘ oder unsere mit Amaranth und Honig gesüßten Oblaten“, schmunzelt Soto.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2016: Zucker: Für viele süß, für manche bitter
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