Das einstige Boomland Brasilien ist unter die Räder gekommen. Die Wirtschaft schrumpft, Arbeitslosigkeit und Inflation wachsen. Die Rezession bedroht insbesondere die Armen, die in den vergangenen zehn Jahren von einer Vielzahl von Sozialprogrammen profitiert haben. Der Kampf gegen die Unterernährung war so erfolgreich, dass die Vereinten Nationen das größte Land Lateinamerikas 2014 von ihrer Welthungerkarte gestrichen haben. Doch die Zukunft der sozialen Errungenschaften ist ungewiss – angesichts der ökonomischen Krise, aber vor allem mit der neuen Regierung.
Seit Mitte Mai rückt das Land in atemberaubender Geschwindigkeit nach rechts. Konservative Oppositionsparteien und untreue Koalitionspartner der bislang regierenden Arbeiterpartei PT hatten das wirtschaftliche Tief sowie Korruptionsermittlungen für ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff genutzt. Nachdem die erste Frau im höchsten Staatsamt für vorerst 180 Tage suspendiert wurde, übernahm der bisherige Vizepräsident Michel Temer die Geschäfte. Er installierte eine neoliberal ausgerichtete Regierung ohne die PT. Ihre Devise lautet: Weniger Staat, mehr Markt. Sie will in großen Stil Staatsbetriebe privatisieren und öffentliche Ausgaben kürzen, um das Haushaltsdefizit zu bekämpfen.
Der neue Minister für soziale Entwicklung, Osmar Terra, kündigte kurz nach seinem Amtsantritt an, die Empfänger der „Bolsa Família“ einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Über das wichtigste Sozialprogramm der Regierung beziehen Millionen arme Familien ihr Existenzminimum. „Wir wollen herausfinden, wer wirklich auf diese Art Unterstützung angewiesen ist“, erklärte der Minister. Terra schätzt, dass durch die Überprüfung rund jeder zehnte Empfänger aus dem Raster fällt. Zwar schloss er kurzfristige Kürzungen aus, stellte aber klar: „Bolsa Família darf keine Option für das Leben sein. Die Leute können doch nicht wollen, dass ihre Kinder von Sozialhilfe leben.“
Die Arbeiterpartei PT, Gewerkschaften und soziale Bewegungen finden sich noch nicht mit Rousseffs Amtsenthebung ab und kämpfen für ihre Rückkehr. Doch es ist nicht damit zu rechnen, dass der von Temer geplante Umbau des Staates kurzfristig zu bremsen ist. Denn er kann sich auf eine breite Allianz stützen, die neben beiden Kongresskammern die Unternehmer, die Massenmedien und auch Teile der Justiz umfasst.
Nicht einmal heftige Korruptionsvorwürfe gegen Temers Partei PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro) und sieben seiner Minister konnten den Eifer seines Wirtschaftsteams beim Schnüren des Sparpakets bremsen. Ende Mai verkündete der Präsident, er wolle die Einschnitte sogar als Zusatz in die Verfassung aufnehmen. Damit könnte das Parlament sie nur mit qualifizierter Mehrheit wieder rückgängig machen. Kürzungen sind unter anderem bei Bildung und Gesundheit vorgesehen. Eine Rentenreform war schon zuvor beschlossene Sache. So soll ein Mindestalter für den Rentenbezug festgelegt werden; das wird vor allem diejenigen benachteiligen, die aufgrund ihrer sozialen Lage besonders früh anfangen mussten zu arbeiten.
Noch liegen keine Details zu den geplanten Einschnitten vor. Temers Minister beteuern fast täglich, dass, anders als von der PT prophezeit, keine wesentlichen Kürzungen an den Programmen vorgenommen werden sollen, die der Vorgängerregierung jahrelang großen Zuspruch eingebracht haben. Dennoch befürchten soziale Aktivisten und nichtstaatliche Organisationen (NGO), die in Brasilien seit Jahrzehnten einen wichtigen Anteil an der Ausarbeitung und Umsetzung von Sozialprogrammen haben, dass der Staat seine Unterstützung schnell zurückfahren wird. Zudem sehen sie die Strukturen bedroht, die insbesondere auf dem Land die Bekämpfung von Armut und ihrer Ursachen möglich gemacht haben.
Es ist ein Bedrohungsszenario, auch wenn wir noch nicht genau wissen, was auf uns zukommt“, sagt Maria Emília Pacheco, Präsidentin des Nationalen Rats für Ernährungssicherheit (CONSEA). Angesichts der Neuordnung mehrerer Ministerien sei zu befürchten, dass die verschiedenen Maßnahmen der Sozialpolitik in Zukunft nicht mehr ineinandergreifen. „Grundlage des Erfolgs auch beim Kampf gegen Hunger war die Kombination von Geldtransfer, höherem Mindestlohn, festen Arbeitsplätzen und Schulspeisung bis hin zur Förderung von Kleinbauern“, ergänzt sie.
CONSEA berät die Regierungen auf lokaler, regionaler und Bundesebene beim Kampf gegen Armut und Unterernährung. Pacheco fürchtet angesichts der Absetzung von Dilma Rousseff um ihren guten Draht in die Regierung. „Der Wegfall des Ministeriums für Agrarentwicklung zeigt, dass die neuen Machthaber nicht verstanden haben, dass Maßnahmen gegen Unterernährung nur funktionieren, wenn auch die lokalen Produzenten und die Kleinbauern unterstützt werden“, meint sie.
Als Beispiel für erfolgreiche Sozialmaßnahmen nennt die Anthropologin das Nahrungsmittel-Hilfsprogramm PAA (Programa de Aquisição de Alimentos). Durch garantierte öffentliche Einkäufe und Beratung werden familiäre Agrarbetriebe gefördert; zugleich werden auf lokaler Ebene ausreichend Lebensmittel unter anderem für Arme zur Verfügung gestellt. Auch das traditionelle Schulspeisungsprogramm PNAE wurde 2009 reformiert: Seitdem müssen mindestens ein Drittel der in Schulen und Kindergärten verteilten Lebensmittel aus kleinbäuerlicher Produktion stammen.
Mehr als 30 Sozialprogramme sind in den vergangenen 15 Jahren in Brasilien eingeführt worden. Das Null-Hunger-Programm „Fome Zero“ entstand 2003 als Kombination von Finanzhilfe für die Ärmsten und Förderung von Landwirten bis hin zum Brunnenbau. Andere Programme fördern die Alphabetisierung, den Zugang zu Universitäten, die Abwasser- und Energieversorgung in Armenvierteln und die medizinische Versorgung mit Hilfe ausländischer Ärzte. Das meiste Geld verschlang das Programm für sozialen Wohnungsbau „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, mein Leben). Gleich nach Amtsantritt kündigte die Temer-Regierung an, sie werde die Finanzierung für 15.000 schon geplante Wohneinheiten streichen.
Das bekannteste Sozialprogramm „Bolsa Família“ richtet sich an einkommensschwache Familien. Die Finanzhilfen werden unter der Voraussetzung gezahlt, dass die Kinder zur Schule gehen. Teilnehmende Familien werden im Durchschnitt mit umgerechnet knapp 50 US-Dollar monatlich unterstützt. Obwohl das Programm international als vorbildliches Instrument zur Armutsbekämpfung gelobt wird, steht es insbesondere von konservativer Seite in der Kritik. In erster Linie solle das Programm, arme Wählergruppen motivieren, für die bislang regierende Arbeiterpartei zu stimmen, so der Vorwurf. Andere Kritiker machen geltend, dass die Finanzhilfe die Menschen vom Arbeiten abhält. Auch Missbrauch wird angeprangert – seit Wochen begleiten die Medien die Kürzungsdebatte mit Enthüllungen über Fälle, in denen Sozialhilfe an Wohlhabende oder Verstorbene ausgezahlt worden ist.
Die Befürworter halten dagegen, dass das Programm weit weniger als ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes koste, aber bereits Millionen Familien aus der extremen Armut herausgeholt habe. Zudem wirke „Bolsa Família“ in vielerlei Hinsicht: Fast 90 Prozent der Finanzhilfe wird für Lebensmittel ausgegeben, das kurbelt die regionale Wirtschaft an und kommt der örtlichen Landwirtschaft zugute. Zwar ist die Hilfe zu gering (oft nur ein Viertel des gesetzlichen Mindestlohns), um ein Arbeitseinkommen zu ersetzen. Sie hat aber laut Weltbank dazu geführt, dass die Kinderarbeit in den Empfängerfamilien stark zurückgegangen ist. Laut Studien kann das Programm als „soziale Investition“ betrachtet werden, die sich sowohl auf eine bessere Bildung als auch auf eine breite Integration von Armen in die Gesellschaft auswirkt.
Für Maria Emília Pacheco ist die erfolgreiche Sozialpolitik in den gut 13 Regierungsjahren der Arbeiterpartei die Grundlage für mehr Gerechtigkeit und damit auch für Chancengleichheit und den Rückgang der Armut in Brasilien. Zu diesem Erfolg hat der wirtschaftliche Aufschwung beigetragen, der immer mehr Geld in die Staatskasse spülte. Doch seit 2014 ist die Haushaltslage aufgrund der schrumpfenden Wirtschaft und deutlich weniger Erlösen aus dem Exportgeschäft angespannt. An diesem Punkt setzt Pachecos Kritik an: „Die Sozialprogramme gingen bisher nicht tief genug. Sie haben noch nicht zu einem strukturellen Wandel geführt.“
Notwendig sei beispielsweise, dass Kleinbauern einen besseren Zugang zu Land erhalten, erklärt sie. Eine Agrarreform hatten weder Rousseff noch ihr Vorgänger Lula da Silva wirklich in Angriff genommen. Vor allem Aktivisten sozialer Bewegungen verweisen auf die Mängel der Sozialprogramme, etwa die Schwierigkeiten bei der Umsetzung oder ihre Inkonsequenz, die auf den Druck wirtschaftlicher Interessen zurückzuführen sei. So erhielten im Programm „Minha Casa, Minha Vida“ korrupte Bauunternehmen große Aufträge, lieferten dann aber halbfertige oder schlecht gebaute Häuser ab. Doch zugleich ist sich das linke Spektrum einig, dass die Programme Schritte in die richtige Richtung sind und dem bevorstehenden Ausverkauf durch die neue Regierung Widerstand entgegengebracht werden muss.
Autor
Andreas Behn
ist Korrespondent der Tageszeitung "taz" und des epd in Brasilien. Er lebt seit acht Jahren in Rio de Janeiro.Guilherme Mello, Wirtschaftsprofessor an der staatlichen Universität von Campinas (Unicamp), sagt dem Sozialbereich in Brasilien düstere Zeiten voraus. Sollte Temer bis Ende 2018 regieren, sei zu befürchten, dass ein großer Teil des Wohlfahrtstaates kaputt gespart werde. Sofern der Kongress mitziehe, sei davon auszugehen, dass die Rentenversicherung modifiziert und ein Gesetz zur Begrenzung staatlicher Ausgaben durchgeboxt werde. „Besonders dramatisch ist die Ankündigung der Regierung, dass Zuwächse bei Staatseinnahmen und in der Wirtschaftskraft nicht mehr dazu genutzt werden sollen, mehr Geld für Gesundheit und Bildung auszugeben und das Mindesteinkommen anzuheben“, kritisiert Mello.
Auch CONSEA-Präsidentin Maria Emília Pacheco ist pessimistisch: „Die Gefahr ist groß, dass die Armut wieder zunehmen wird. Das schlimmste wäre, wenn Brasilien erneut in die Welthungerkarte aufgenommen würde.“
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