Windige Geschäfte

Stromversorgung in Brasilien
Brasilien setzt auf sauberen Strom aus Windkraft – vor allem im Nordosten des Landes. Soziale und ökologische Folgen werden zu wenig bedacht. Eine Spurensuche.

Es ist später Sonntagnachmittag in Fortaleza, einer brasilianischen Küstenstadt im nordöstlichen Bundesstaat Ceará. Im Rücken der Strandbesucher erobern die Lichter der Stadt den Nachthimmel, auf den Straßen stauen sich mehr und mehr rote Bremsleuchten. Würden alle Menschen für einen Moment die Luft anhalten, der Wind sich legen und die Motoren verstummen, dann wäre es in der Zwei-Millionen-Stadt dennoch dröhnend laut. Tausende Klimaanlagen und das Brummen voluminöser Dieselgeneratoren in der Nähe großer Einkaufszentren und Krankenhäuser wären zu hören.

Viele Unternehmen und öffentliche Einrichtungen in Fortaleza kaufen noch immer Dieselöl, um Energie zu erzeugen – weil das örtliche Stromnetz überlastet ist oder weil es billiger ist, als den Strom über den regionalen Energieanbieter COELCE zu beziehen. Dabei hat die Regierung in Brasilia bereits 2004 ein Anreizprogramm für die Entwicklung alternativer Energiequellen wie Biomasse, Wasserkraft und vor allem Windkraft aufgelegt. Dazu bekennen sich auch die Politiker im Nordosten des Landes.

Wind gibt es hier zur Genüge. Der Passat bläst kräftig und konstant. In ganz Brasilien sind fast 400 Windparks mit einer Energieleistung von insgesamt neun Gigawatt entstanden. „Ceará war der Pionier und ist Führer dieser Energieerzeugung“, stellte der frühere Gouverneur des Bundesstaats Lúcio Alcântara kürzlich in seinem Blog klar. Das erste Windrad Brasiliens nahm zwar bereits 1992 auf dem Archipel Fernando de Noronha seinen Testbetrieb auf. An der Küste von Ceará jedoch stellte die Technologie fünf Jahre später erstmals ihr kommerzielles Potenzial unter Beweis. Unterstützung kam von Wobben Windpower, dessen Besitzer Alfred Wobben auch Eigentümer der deutschen ENERCON GmbH ist.

Da sich zwei Anlagen an den Stränden von Taiba und Prainha bewährten, konnten Windkraftunternehmen bei einer Energieauktion im Jahr 2009 genug subventionierte Kredite erstehen, um 21 weitere Windparks in dem Bundesstaat zu errichten. Bei solchen Auktionen erhält den Zuschlag, wer die Kilowattstunde am kostengünstigsten anbietet. Dabei wetteifern Windenergieproduzenten miteinander, wegen der hohen Effizienz der Anlagen können sie es aber bei offenen Ausschreibungen auch mit Wärme- oder Wasserkraft aufnehmen.

Eine der ersten Lizenzen ging an die niederländische SIF-Gruppe, die in der Nähe des Fischerdorfs Moitas, gut 200 Kilometer nördlich von Fortaleza, zwei Dutzend Windräder aufbauen wollte. Die Bewohner waren skeptisch. „Wir hatten Zweifel, ob der Windpark uns die zugesicherten Vorteile bringen würde“, erinnert sich der Fischer Elizeu. „Wir befürchteten Umweltschäden, sie versprachen Arbeitsplätze. Wer sich für das Unternehmen aussprach, bekam einen Job, für sechs Monate, manchmal für ein Jahr“, erzählt er – bis der Bau fertig war. „Dann zogen sie weiter, um anderswo Parks zu bauen.“

Zurück blieben die Windräder. Sie stehen nicht wie gesetzlich vorgeschrieben 300 Meter von den Wohnhäusern entfernt, sondern in manchen Fällen „so nah, dass sich die Menschen nachts Watte in die Ohren stopfen, um schlafen zu können“, erzählt Elizeu, während er hinter seinem Haus ein Fischernetz entwirrt. Die gesamte Küste ist eine endlose Dünenlandschaft, auf den ersten Blick ein wüstes Land, unterbrochen von Flüssen und Kokosplantagen. Doch hier leben zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Zwischen den Sandbergen entstehen nach der Regenzeit kleine Seen und fruchtbares Land, auf dem Zuckerrohr oder Gemüse angebaut werden können. Die Dünen fungieren als riesige Wasserspeicher, da der lehmige Boden ein Abfließen aus den Sandbergen verhindert. „Seit die Windräder hier stehen, geht unser Wasser zur Neige“, sagt Elizeu. „Die Tümpel, die sich früher jedes Jahr gebildet haben, sind verschwunden. Unsere Tiere haben nichts mehr zu trinken.“ Die Bebauung der Wanderdüne habe ihren natürlichen Lauf verändert. „Sie schrumpft und in ein paar Jahren wird sie vielleicht ganz weg sein.“

Obwohl Elizeu versichert, die Mehrheit der Dorfbewohner sei inzwischen entschieden gegen Windenergie, laden nach zwei Tagen die Befürworter ungefragt zu einem Kaffee ein. Carlos Eduardo ist einer von ihnen. Der gelernte Elektrotechniker hat sich auf den Aufbau von Windparks spezialisiert. Heute arbeitet er als Teamleiter in Moitas, gemeinsam mit zwölf Kollegen hält er die 65 Turbinen instand. Elizeus Vorwürfe lässt er nicht gelten. „Die Anlagen haben keinerlei Umweltfolgen, außer dass ein bisschen Sand verschoben wird“, sagt er. Es sei die Regel, dass bei der Konstruktion mehr Leute eingestellt würden, „so 200 bis 300 Personen pro Windpark, immer aus der Region“. Dass nur wenige eine feste Stelle finden, liege an der schlechten Ausbildung der Menschen hier. Die Unternehmen trügen daran keine Schuld.

Elbia Silva Gannoum, Vorsitzende der Lobbyorganisation Brasilianischer Verband der Windenergie, sieht das genauso. „Immerhin garantiert der Wirtschaftszweig landesweit jährlich 40.000 Arbeitsplätze. Dass die Arbeiter weiterziehen, wenn ein Park steht, ist eben eine Charakteristik des Sektors“, sucht sie die ständige Migration von Maurern und Hilfsarbeitern zu erklären. Und die Umweltprobleme, die Konstruktion von Parks direkt neben Wohnhäusern? „Das alles ist Vergangenheit, seit 2009 hat sich viel verändert. Heute wird in größerer Entfernungen zu den Gemeinden gebaut und nicht mehr direkt an der Küste“, versichert Silva.

In den brasilianischen Medien findet Silva immer wieder Gehör für ihre These, dass die saubere Windenergie heute noch sauberer sei. Doch diese These steht auf wackligen Füßen. Erst seit 2014 erschwert eine Resolution des Nationalen Umweltrats den Bau von Windparks in ökologischen Schutzzonen. Noch immer sind Ausnahmereglungen möglich, wenn ein höheres öffentliches oder soziales Interesse vorliegt – mitunter genügt, dass die Arbeitslosigkeit im Nordosten über dem Landesdurchschnitt liegt.

Ligia Viana macht noch eine andere Entwicklung Kopfzerbrechen. Gerade ist sie zurück aus der Gemeinde Caetano de Cima, die nur eine halbe Stunde Fahrt von Moitas entfernt liegt. Auch hier soll ein Windpark entstehen, und die Planung ist weit fortgeschritten. „Doch die Landtitel sind umstritten“, sagt die Mitarbeiterin des Instituto Terramar, einer nichtstaatlichen Organisation, die sich für die Rechte traditioneller Gemeinden in der Region einsetzt. „Es gibt Fälschungen in den Grundbüchern. Oder der Staat weigert sich, die über Generationen erworbenen Nutzungsrechte an öffentlichem Land anzuerkennen.“ Die Bewohner haben Widerstand angekündigt, sollte in Caetano tatsächlich mit dem Bau begonnen werden. „Bis 2018 sollen weitere 2000 Windräder im Bundesstaat Ceará errichtet werden. Dafür wären insgesamt etwa 180.000 Hektar Land nötig“, rechnet Viana vor – weitere Konflikte scheinen vorprogrammiert.

Abgesehen von einigen Gegnern, die die Rotoren als „bedrohlich“ und „hässlich“ bezeichnen, stehen die meisten Anwohner der erneuerbaren Energiequelle aufgeschlossen gegenüber. Sie kritisieren jedoch, dass der Staat die regionale Entwicklung vernachlässigt und mit einem Dutzend großer Firmen vor allem Strom für das allgemeine Versorgungsnetz produzieren will. Die argentinische Energimp-Gruppe, die brasilianische CPFL und das belgische Tractebel-Unternehmen fungieren als Anlageobjekte von Investmentfonds, internationalen Stromriesen wie GDF Suez und Banken wie Santander.

„Die Form, wie diese Energie produziert wird, unterscheidet sich nicht von der Logik, mit der Waren im Allgemeinen hergestellt werden“, sagt der Geograf Jeovah Meireles, der an der Staatlichen Universität von Ceará (UFC) Studienprojekte zur Windenergie betreut. Windenergie sei zwar wettbewerbsfähig. Jedoch schauten alle Beteiligten nur darauf, bei der nächsten Energieauktion günstig produzierte Kilowattstunden anzubieten. Langzeitstudien über die ökologischen und sozialen Folgen seien bisher vernachlässigt worden. Darum kümmern sich derzeit seine Studenten.

Die Arbeitsgruppe um Meireles hat viele Probleme und Verstöße dokumentiert: Veränderungen des Grundwasserspiegels, die Versieglung von Böden, aber auch technische Defizite: Jeden zweiten Tag fällt für ein paar Stunden der Strom aus und anhaltende Spannungsschwankungen verkürzen die Lebenszeit der Haushaltsgeräte. Zudem treten immer wieder auch soziale Unstimmigkeiten auf, wenn sich ein relativ isoliertes Fischerdorf plötzlich in Nachbarschaft zu einem Camp von 100 Bauarbeitern wiederfindet. Man dürfe jedoch Einzelfälle nicht verallgemeinern und damit „die Förderung dieser Energie insgesamt in Verruf bringen“, warnt Torsten Schwab, der für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Brasilien das Programm erneuerbarer Energie und Energieeffizienz leitet. So sei es nicht die Schuld der Erzeuger, dass lokale Stromanbieter den Netzausbau zu den Endverbrauchern vernachlässigten. Regeln und Gesetze stimmten, auch wenn nicht auszuschließen sei, „dass es Lokalpolitiker gibt, die da Dinge tun, die sie eigentlich nicht tun sollten“.

Julio Cesár, der bei Meireles seine Abschlussarbeit über Windkraft geschrieben hat, hat bei seinen zweijährigen Forschungen jedoch strukturelle Mängel erkannt. Die Stromauktionen der Nationalen Agentur für Elektrische Energie (ANEEL) fänden parallel zu den Studien regionaler Umweltämter statt, die die Lizenzen für die Windparks vergeben, erklärt er. Wenn ein Unternehmen bereits eine Genehmigung von ANEEL erhalten habe, aber noch keine Vorlizenz hat oder nur einen der umstrittenen vereinfachten Umweltberichte vorweisen kann, gerieten die Umweltämter unter Druck, erklärt Cesár. Dies könne dazu führen, dass sie ihre Arbeit nicht mit der nötigen Sorgfalt erledigen, bestimmte Umweltauflagen nicht berücksichtigen und Lizenzen erteilen, um den Bau von Windparks, die ANEEL bereits autorisiert hat, nicht zu gefährden. Denn im Nordosten konkurrierten die Bundesstaaten inzwischen intensiv um jeden neuen Windpark. Ceará ist bei der Produktion im vergangenen Jahr erstmals hinter Rio Grande do Norte und Bahia zurückgefallen.

Ist die internationale Kooperation mitverantwortlich für diese „Standort-Erpressung“, wie Cesár es nennt? Nein, heißt es bei der Kreditbank für Wiederaufbau (KfW), die im Auftrag der Bundesregierung Windparks im brasilianischen Nordosten finanziert. Mit der Brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) wurden zwei Kreditlinien von insgesamt 350 Millionen Euro bereitgestellt. Über die Studien der brasilianischen Umweltbehörden hinaus „prüfen wir alle Projekte nach unseren strengen Umwelt- und Sozialstandards“, sagt Katrin Enting, Projektmanagerin im Energie- und Finanzsektor für Lateinamerika. Bisher habe man noch bei keinem der Windparks Probleme gehabt, für die Darlehen vergeben worden sind. Es gebe viele vorbildliche Projekte, aber die Umweltbehörden seien je nach Bundesstaat sehr unterschiedlich streng und fähig. Enting verweist darauf, dass sich „auch in Deutschland die heutigen hohen Standards erst über zwanzig Jahre entwickelt haben“ und man mit der BNDES in ständigem Dialog stehe – auch über Qualitätskriterien. So erreichten kritische Projekte die KfW in der Regel gar nicht. Wo Landtitel strittig und Konflikte zu erwarten sind, suchen sich die Windkraftunternehmen andere Partner.

Autor

Nils Brock

ist Journalist in Rio de Janeiro und berät als Fachkraft für Brot für die Welt unabhängige Radios in Brasilien.
Doch auch perfekte Verfahren kommen einem grundlegenden Dilemma beim Ausbau erneuerbarer Energie nicht bei, die inklusive der großen Wasserkraftwerke bereits 80 Prozent der brasilianischen Gesamtproduktion ausmacht. Drei Viertel des Stroms werden von fünf Wirtschaftssektoren verbraucht: Bergbau, Papier- und Zellulosefabriken, industrielle Landwirtschaft und petrochemische Industrie. Am Wachstum dieser Wirtschaftsbereiche orientieren sich Schätzungen, dass sich der Strombedarf bis 2050 verdreifachen wird. Kritiker des starken Ausbaus der Windenergie weisen deshalb darauf hin, dass es trotz einer zunehmend „grünen“ Energie wichtig ist, darüber zu reden, wie sich denn der Bedarf verringern ließe – im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung. Es ist widersprüchlich, CO2-neutral Autos herzustellen, die dann für dicke Luft im Feierabendverkehr von Fortaleza sorgen. Windenergie für den Uranabbau in Cearás Bergwerken zu nutzen, um damit den Ausbau der Atomkraft voranzutreiben, ist ebenfalls problematisch.

Moitas hat derweil andere Sorgen. Die Befestigung der Landstraße im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft ist ein Versprechen geblieben. Das hat den Plänen, die Gemeinde könne Geld mit Touristen verdienen, die den starken Wind zum Kite-surfen nutzen, einen Rückschlag versetzt. Die Organisation Terramar versucht deshalb, die Gemeinden zu überzeugen, am handwerklichen Fischfang, der Algenzucht und am Kunsthandwerk festzuhalten – das sichere die Existenz und sei zugleich für Besucher interessant. Gemeinsam mit dem Geografen Meireles ermutigen sie die Dorfbewohner auch, ihren Strom in naher Zukunft mit Photovoltaik und kleinen Windrädern selbst zu erzeugen. „Überschüsse könnten wie in Deutschland ins Netz eingespeist und vergütet werden“, schlägt Meireles vor. Er ist überzeugt, dass sich Windenergie umwelt- und sozialverträglich organisieren lässt, „auf eine Weise, die die Lebensqualität in der Region verbessert“.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2016: Entwicklungsbanken: Geld mit Nebenwirkungen
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