Es ist fast zwanzig Jahre her. Doch Sylvia Haddad kann sich noch genau an ihre erste Aufgabe als Generalsekretärin des Gemeinsamen Christlichen Komitees für Soziale Dienste im Libanon (JCC) erinnern: Sie sollte ein Familienzentrum im palästinensischen Flüchtlingslager Schatila in Beirut schließen. „Ich saß am Schreibtisch und plötzlich stand eine Delegation von Männern vor der Tür“, erzählt sie bei einem Gespräch im vergangenen November. Ihr Anführer hatte eine Petition mit 150 Unterschriften in der Hand und redete auf sie ein: Was ihr das Recht gebe, die Einrichtung zu schließen, die ihren Kindern, Müttern und Schwestern so lange Zeit geholfen habe? Haddad ließ sich überzeugen und schaffte es, das Projekt zu retten.
Sylvia Haddad ist selbst 1948 mit ihren Eltern aus Palästina in den Libanon geflohen, nachdem Israel seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Doch die Welt der Flüchtlingslager lernte sie erst durch ihre jetzige Arbeit kennen. Sie studierte Erziehungswissenschaften in Beirut, lebte mit ihrem Mann, einem libanesischen Arzt, und ihren drei Töchtern eine Zeit lang in den USA, bis sie nach dem Ende des Bürgerkriegs im Libanon 1990 nach Beirut zurückkehrte. Dort lehrte sie zunächst an der Amerikanischen Universität, bis ihr sieben Jahre später der JCC ein Angebot machte. Es sei ihr nicht leicht gefallen, ihre Arbeit an der Uni aufzugeben, sagt Haddad. Aber: „In dem Moment fühlte ich mich gerufen. Ich konnte nicht ablehnen.“
Haddad leitet die Flüchtlingsarbeit beim JCC Libanon, mit Projekten in vielen Teilen des Landes. Die meisten von ihnen drehen sich um Schul- oder Berufsbildung. „Wir glauben an Hilfe zur Selbsthilfe. Wir möchten den Palästinensern helfen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entfalten, damit sie ihre Familie ernähren können und ihre palästinensische Identität, die Kultur und das Wissen über die eigenen Wurzeln erhalten können.“ Die gut ausgestatteten Schulen der ersten Jahre seien allerdings längst geschlossen worden. „Sie waren von europäischen Kirchen finanziert, als man noch glaubte, der Konflikt sei in wenigen Jahren beendet und die Palästinenser könnten nach Hause zurückkehren“, sagt sie.
Aufbruch ins neue Eden
Der JCC will vor allem den jungen Flüchtlingen eine Perspektive für die Zukunft eröffnen. Und die kommen zunehmend aus Syrien – manche aus palästinensischen Familien, die 1948 aus Palästina nach Syrien geflohen waren. Oder aus einer noch älteren Flüchtlingsgruppe: den Christen, die es 1915 noch schafften, vor dem Völkermord aus dem Gebiet des Osmanischen Reiches in den Norden Syriens zu fliehen beziehungsweise dorthin deportiert wurden.
„Und jetzt wollen sie weiter nach Deutschland“, sagt eine wohl etwas irritierte Sylvia Haddad. Denn von den Worten „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin fühlten sich teils Menschen angesprochen, die Angela Merkel sicher nicht gemeint habe. „Wir sehen hier Leute, die sich seit langem gut etabliert haben, etwa Handwerker, alles verkaufen und sich auf den gefährlichen Weg über das Meer nach Deutschland aufmachen.“ Es gehe von Ohr zu Ohr, dass man in Deutschland gut leben könne, ohne zu arbeiten, weil man sich erst eingewöhnen muss. „Und die vielen Mafia-Gruppen, die es plötzlich gab, reden den Leuten zu, ins neue Eden aufzubrechen, das Deutschland heißt“, sagt Haddad.
Hilfe mit Tradition
Das Gemeinsame Christliche Kommittee für Soziale Dienste im Libanon (JCC) ist eine der ältesten nichtstaatlichen Organisationen im Libanon, die mit palästinensischen Flüchtlingen arbeiten. Es ist Teil der ...
Zu den Prüfungen machen sich viele ihrer Schüler auf die gefährliche Reise nach Damaskus. Sie bleiben dort drei Wochen in Begleitung ihrer Lehrer, bis alle Examen abgeschlossen sind. Die jüngeren von ihnen sind zwischen 14 und 15, sie machen eine Art Realschulabschluss, die älteren legen mit 18, 19 Jahren das Abitur ab. Besonders heikel sei es, ihre Rückkehr zu organisieren. Dafür müssten die passenden Papiere besorgt werden, um zu beweisen, dass die Jungen und Mädchen bereits im Libanon leben, berichtet Haddad. „Die Regierung hier will nicht noch mehr Flüchtlinge.“
Formelle Berufsabschlüsse sind wichtig
Haddad lobt die gute Organisation in Kooperation mit dem syrischen Erziehungsministerium. Sogar Blinde könnten eine spezielle Prüfung ablegen und würden sehr gut betreut. „Wenn unsere Schüler studieren wollen, möchten sie erst recht nach Syrien“, ergänzt Haddad. Die libanesischen Universitäten seien teuer, die syrischen umsonst. 15 ihrer früheren Schüler studierten nun an der Universität in Damaskus. „Einer wollte sogar nach Aleppo. Wir fragten ihn: Was willst Du da? Da herrscht doch Krieg. Die Stadt liegt in Trümmern. Da gibt es niemanden, der Dir helfen kann.“ Die Schüler antworteten dann: Helft uns dorthin zu kommen, mit Essen und Schulmaterial, den Rest organisieren wir schon selbst. Sie wüssten sehr genau, wie wichtig formelle Berufsabschlüsse sind und dass man das Dokument in den Händen halten muss, um es eines Tages vorzeigen zu können. Haddad: „Und dafür sind viele von ihnen bereit, viel zu riskieren.“
Autor
Erhard Brunn
ist Historiker und Berater in interkultureller Kooperation.Sylvia Haddad sieht sich im Guten wie im Schlechten eingebunden in das dramatische Schicksal der Region seit 1945. Sie ist stolz auf ihre Herkunft: „Ich bin ein Mädchen aus Jerusalem“, sagt sie. Daran richtet sie sich innerlich auf, um sich weiter den Problemen zu stellen.
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