Erleichtert betrachtet Nene Sanneh ein Foto ihres Sohnes. Es ist kurz nach seiner Rettung aus dem Mittelmeer entstanden, im Juli 2015. Einen Monat zuvor hatte seine Familie das letzte Mal von Lamin Ceesay gehört – aus Libyen, wo er an Bord eines Schlepperboots gehen und die gefährliche Überfahrt nach Italien wagen wollte. „Ich bin so froh zu sehen, dass es ihm gut geht“, sagt Nene Sanneh. „Wir haben uns solche Sorgen um ihn gemacht. Ich konnte weder essen noch schlafen.“
Lamin Ceesay wurde von der nichtstaatlichen Organisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS) aus einem überfüllten Fischerboot gerettet, das ohne Treibstoff vor der libyschen Küste trieb. Der einzige persönliche Gegenstand, den der 26-Jährige bei sich hatte, war ein Zigarettenpapier mit einem muslimischen Gebet und den Telefonnummern von Verwandten und einem Freund. Er gehört zu den 8500 Gambiern, die es im vergangenen Jahr von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien geschafft haben.
Warum hat er sein Leben riskiert, um nach Europa zu gelangen? „ Es ist vor allem die Armut. In Gambia funktioniert gar nichts“, erklärt Ceesay in einem Video-Interview mit MOAS, als er sicher an Bord des Rettungsschiffs ist. „Dort vergeudet man seine Zeit mit Nichtstun.“ Seine Freunde hätten ihm gesagt, in Europa könne er Arbeit finden.
Gambia ist das kleinste Land Afrikas: ein schmaler Streifen entlang des Flusses, der ihm seinen Namen gegeben hat, mit einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen. Dennoch gehört die westafrikanische Republik laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zu den sechs Nationen, aus denen sich in den vergangenen Jahren die meisten Menschen auf den Weg in den Norden gemacht haben.
Das Land ist zwar politisch relativ stabil, doch es zählt zu den ärmsten Staaten der Welt. Beim Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen lag es 2014 auf Platz 175 von 188. Seine Wirtschaft schrumpfte 2014 um 0,7 Prozent: Die Ebola-Angst bremste den Tourismus, fehlende Niederschläge schadeten der Landwirtschaft. Die Inflation und die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, das erschwert vielen Gambiern das Leben, die oft gering qualifiziert sind und schlecht bezahlte Jobs haben.
Auch in der Stadt gibt es keine guten Jobs
Buba Jallow, ein Freund aus Kindertagen, versteht, warum Lamin Ceesay gegangen ist. „Die Familie glaubt, man ist ein gemachter Mann, wenn man in der Stadt lebt. Aber es gibt einfach keine guten Jobs. Deshalb machen sich die Leute auf den Weg. Sie spüren den Druck, ihre Familien zu ernähren“, sagt Buba, der am Strand Ausritte für Touristen organisiert.
„Lamin wollte gehen, um es besser zu haben“, sagt sein älterer Bruder Pa. In der Dreizimmerwohnung der Familie leben elf Menschen. Die Wände aus Rigips bröckeln, der Betonboden ist bis auf ein paar Stücke abgetretenes Linoleum nackt. Ein ramponierter hölzerner Kleiderschrank ist im Wohnbereich das einzige Möbelstück.
Pa ist der Haupternährer und arbeitet seit zwanzig Jahren als Schneider. „Aber ich verdiene immer noch nicht genug Geld, um unser Haus instand zu setzen.“ Sein Vater Mamoud baut Cashewnüsse und Mais für den Eigenbedarf der Familie an. Die Preise für Nahrungsmittel schnellten in die Höhe, klagt Pa. Ein Sack Reis koste mehr als 1000 Dalasi (23 Euro). „Die meisten Leute verdienen aber nur 1500 bis 2000 Dalasi im Monat. Hier muss man immer kämpfen.“ Familien mit Verwandten in Europa sind nach allgemeiner Auffassung wohlhabender. „Wenn Sie hier bessere Häuser sehen, wissen Sie, dass die Leute ein Familienmitglied in Europa haben“, sagt Pa. „Manche Häuser haben zwei Stockwerke und Sonnenkollektoren auf dem Dach.“
Gambier sind von jeher ausgewandert, um ihr Glück zu suchen. Sie haben sich überall in Westafrika und in Schweden, Großbritannien und den USA niedergelassen. Überweisungen aus dem Ausland trugen 2014 laut Weltbank ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Aber die Zeiten, in denen legale Auswanderer beträchtliche Summen nach Hause schickten, neigen sich dem Ende zu. Die Migranten, die in den vergangenen Monaten Europa erreicht haben, dürften weit weniger verdienen. Dennoch: Wenn ein Euro 40 Dalasi wert ist und schon die kleinste Überweisung den Wohlstand einer Familie merklich steigert, spricht immer noch genug dafür, sich auf den Weg zu machen.
Für die Reise nach Italien alles Vieh verkauft
Lamin Ceesay hatte einen Job, als er Gambia verließ. Er hatte erst als Gärtner für ein großes Hotel nahe der Hauptstadt Banjul gearbeitet, dann als Steinmetz im benachbarten Senegal. Doch dann sollte er Vater werden – und auswandern schien ihm der einzige Weg, aus der Armut auszubrechen. Wie er entfernt sich die jüngere Generation zunehmend von der traditionellen Lebensweise, auf dem Land zu bleiben und auf der Familienfarm mitzuarbeiten. Allzu oft aber findet die Jugend aufgrund ihrer geringen Qualifikation auch in den städtischen Ballungszentren an der Küste nur schlecht bezahlte oder gar keine Arbeit.
Obwohl die meisten Kinder die Sekundarschule abschließen, liegt die Alphabetisierungsrate nur bei 42 Prozent. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen war laut dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP 2014 arbeitslos. Selbst die, die ein Studium abgeschlossen haben, müssen feststellen, dass es nur wenige sichere, ordentlich bezahlte Stellen gibt. Mamadou etwa muss sich glücklich schätzen, dass er nach dreijähriger Suche eine Arbeit als Wachmann in einer Wohnanlage gefunden hat. Allerdings ist das trostlose Herumsitzen vor deren Eingang weit von der Karriere in der EDV-Branche entfernt, die er sich nach seinem IT-Diplom vorgestellt hatte. „Ich habe mich auf so viele Stellen beworben. Aber einen guten Job bekommt man hier nur, wenn man jemanden kennt, der einem hilft“, sagt der 30-Jährige resigniert.
Seine beiden älteren Brüder haben sich auf den sogenannten „back way“ gemacht: Sie sind im vergangenen Jahr nach Italien gegangen. Um die Reise zu bezahlen, hat die Familie ihr gesamtes Vieh verkauft. „Sie suchen in Europa nach grüneren Weiden, damit sie unsere Familie versorgen können“, sagt Mamadou. „Es ist ein Risiko, aber so, wie wir leben, haben wir sowieso keine Wahl.“ Das Gefühl der Verzweiflung und der Wertlosigkeit ist unter jungen Männern weit verbreitet. Der Bürgerkrieg in Libyen hat die Grenzen durchlässiger gemacht, und es ist eine regelrechte Schleuserindustrie entstanden. Das hat die Zahl der Migranten stark in die Höhe getrieben. Sich auf den „back way“ zu begeben ist zu einer Art nationaler Obsession geworden: Es scheint, je mehr Menschen weggehen, desto mehr fühlen sich verpflichtet, sich ihnen anzuschließen.
Selfies mit geliehenen Kleidern
Die sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle. Sie verbreiten einen Erfolgsmythos unter denen, die sich bereits in Europa befinden. Aus Stolz oder weil sie ihre Familien nicht enttäuschen wollen, möchten sie einen positiven Eindruck von ihrem neuen Leben vermitteln. Auf Facebook etwa posten gerade erst angekommene Flüchtlinge Selfies, auf denen sie zumeist geliehene oder getauschte neue Kleider und Schmuck tragen. In Wirklichkeit leben sie noch in Aufnahmelagern oder Wohnheimen. Andere schicken das geringe Taschengeld nach Hause, das sie während der Bearbeitung ihres Asylantrags wöchentlich erhalten, um den Eindruck zu erwecken, dass sie schon Geld verdienen.
In seinem Video-Interview spricht Lamin über den hohen Erwartungsdruck seitens seiner Familie. „Sie stellen sich vor, dass ich ihnen Geld schicke. Auf den Gedanken, dass es schwierig sein könnte, Arbeit zu finden, kommen sie gar nicht.“ Dabei wollen die meisten Familien nicht, dass ihre Kinder ihr Leben riskieren – seine Absicht, das Mittelmeer zu überqueren, offenbarte Lamin erst, als er in Libyen angekommen war. Er wusste, dass seine Eltern versuchen würden, ihn davon abzubringen.
Am Ende steuerte Familie Ceesay 45.000 Dalasi (1012 Euro) zu Lamins Überfahrt bei. „Wir halbierten sämtliche Ausgaben, auch die für Lebensmittel, damit wir einen Beitrag leisten konnten“, sagt Pa. „Es war ein großes Opfer. Aber alle haben das Gefühl, wenn man sein Land aufgibt und das Familienmitglied es bis nach Europa schaffen kann, dann ist es das Opfer wert.“
Während diese Familien sorgenvoll auf die Nachricht ihrer Söhne warten, dass ihnen ein Aufenthaltstitel zum Arbeiten in Europa gewährt wird, wird ihr eigenes Leben durch den Einkommensverlust oft noch schwieriger. Mit seinem ältesten Sohn Demba habe die Familie den Haupternährer verloren, sagt Bakary Manneh, der auf dem blanken Betonboden einer Zwei-Zimmer-Baracke sitzt. Der hatte seinen Eltern erzählt, er ziehe ins Nachbardorf. Im vergangenen Mai wurde er von MOAS aus dem Mittelmeer gerettet.
„Als Demba noch hier war, arbeitete er auf dem Bau. Aber das Geld reichte vorne und hinten nicht, und ich werde langsam zu alt, um auf dem Feld zu arbeiten“, sagt Bakary, der sich und seine Familie mit der Herstellung und dem Verkauf von Kochtöpfen gerade eben über die Runden bringt. „Er kannte andere Familien hier, die ein besseres Leben führen, weil ihre Söhne aus Europa Geld schicken. Deshalb dachte er, er müsste das auch tun.“ Bakary hebt seinen sorgenvollen Blick von dem kleinen Häufchen Dreck, das er mit den Händen auf dem Boden zusammengewischt hat. „Wenn ein Junge wie Demba den back way nimmt und eine ganze Generation junger Männer dasselbe tut, hat das sehr schlimme Folgen für uns.“
Autorin
Louise Hunt
ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Soziales, Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit in London.Allerdings könnten junge Menschen in Gambia bald von verbesserten Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten profitieren: Die EU-Kommission richtete eilends einen „Treuhand-Fonds für Nothilfe in Afrika“ mit 1,8 Milliarden Euro ein. Von anderen Gebern erhofft sie sich Zuschüsse in gleicher Höhe. Mit dem Geld sollen Maßnahmen finanziert werden, um die Zuwanderung aus Afrika einzudämmen. Dazu gehören Berufsausbildungsprogramme ebenso wie Mikrokredite für Sozialunternehmen und Projekte zur Grundversorgung. Im Senegal wurden im Januar Anträge für verschiedene Programme der Ernährungssicherung bewilligt.
Doch diese Politik ist umstritten. Mehr Entwicklungshilfe ist zwar willkommen, doch Migrationsexperten halten es für fraglich, ob sie an die Kontrolle der Migration gebunden werden sollte. Sie bezweifeln, dass es mit dieser „Sofortstrategie“ tatsächlich gelingen wird, Anforderungen zu bewältigen, die unter anderem mit ungerechten Wirtschafts- und Handelssystemen zu tun haben, und Wanderungsbewegungen zu verringern. Sara Tesorieri, Oxfam-Expertin für EU-Migrationspolitik, glaubt, dass sie sogar den gegenteiligen Effekt haben könnte. „Die Anzeichen sprechen dafür, dass Entwicklungsförderung in den ärmsten Ländern kurzfristig die Mobilität erhöht – und zwar hinaus wie hinein.“ Das sei an sich kein Problem. Doch wenn Europa hoffe, die Migration zu verlangsamen, indem es die Lebensumstände vor Ort verbessert, „dann ist das die falsche Voraussetzung“.
Die Namen der Gambier wurden zu ihrem Schutz geändert.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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