Auf falschem Kurs

Der Gipfel zu den UN-Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs) im September in New York hat nur dürftige Ergebnisse gebracht. Das hat auch mit den Zielen selbst zu tun: Sie verkürzen das Problem der Armut auf den Mangel an Einkommen und an bestimmten Bildungs- und Gesundheitsdiensten und verschleiern damit den Blick auf das, was für eine echte Entwicklungspolitik nötig wäre: alle politischen Entscheidungen darauf zu prüfen, inwieweit sie die Lage der Armen weltweit verbessern.

Von Cornelia Füllkrug-Weitzel

Jeder fünfte Mensch auf der Erde lebt in extremer Armut. Fast eine Milliarde Menschen leiden Hunger. Die Antwort der Staatengemeinschaft auf diesen Skandal ist wieder einmal kläglich ausgefallen. Schon vor dem Weltarmutsgipfel im September war abzusehen, dass das Ziel, bis 2015 zur Minderung von Armut und Hunger beizutragen, in vielen Regionen der Welt nicht erreicht wird. Vor allem für die ärmsten Regionen und Personengruppen lässt der Millenniumsprozess keine spürbare Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erwarten.

Die Geberstaaten haben in New York weder die für die Armutsbekämpfung notwendigen Mittel bereitgestellt, noch einen Aktionsplan für die verbleibenden Jahre bis 2015 verabschiedet. Nach dem Debakel der Klimakonferenz vor einem Jahr in Kopenhagen haben sich die Staaten auch im Umgang mit der sozialen Menschheitskrise unfähig zu zukunftsfähigen Lösungen gezeigt. Die Ergebnisse des Weltarmutsgipfels sind ein Armutszeugnis für die gegenwärtige Praxis globaler Politikgestaltung zur Lösung der großen Menschheitsprobleme. Mit ihrer Absicht, ihre Entwicklungsleistungen stärker von multilateralen auf bilaterale Instrumente zu verlagern und die außen- und wirtschaftspoltischen Interessen Deutschlands in der Entwicklungspolitik mehr zur Geltung zu bringen, konterkariert gerade auch die Bundesregierung alle Bemühungen um die Stärkung weltinnenpolitischer Kooperationsmechanismen.

Vielleicht wäre es an der Zeit, offen zu diskutieren, inwieweit das drohende Scheitern der MDGs auch mit dem Charakter der Ziele selbst und den bislang gewählten Lösungsstrategien zu tun hat: Seit die Millenniumsziele verabschiedet wurden, orientiert sich die – besonders legitimationsbedürftige – Entwicklungszusammenarbeit zunehmend an dürren, meist quantitativen Zielvorgaben. So ambitioniert die MDGs auch sein mögen, sie bilden keine umfassende Agenda der Armutsbekämpfung und schon gar kein kohärentes Entwicklungskonzept.

Sie zielen auf eine „Halbierung des Problems“ und bleiben auch auf dem Weg zu Lösungsansätzen auf halber Strecke stehen: Das Armutsverständnis der MDGs ist weitgehend auf Phänomene des materiellen Mangels reduziert. Doch eine ausschließlich an ökonomischen Ressourcen orientierte Betrachtung der Armut greift zu kurz: Armut hat nicht nur mit Einkommensarmut, sondern wesentlich auch mit Beschränkungen zu tun, die Menschen daran hindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihre Rechte zu verwirklichen. Armut ist ein Mangel an Verwirklichungschancen und sozio-kulturellen Beteiligungsrechten. Ohne echte Teilhabe der Armen ist Entwicklung weder wünschenswert noch möglich. Arme sind meist zugleich ausgeschlossen von sozialer Teilhabe und der Möglichkeit, sich selbst ausreichend zu versorgen. Ihnen ist der Zugang zu produktiven Ressourcen ebenso verwehrt wie zu den politischen Entscheidungsprozessen, um dies zu ändern. Die Überwindung von Armut hat aus dieser Perspektive vor allem mit der Überwindung von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit zu tun. Die strukturellen Armutsursachen kommen im Rahmen der Millenniumsentwicklungsziele aber kaum in den Blick.

Vor diesem Hintergrund muss es auch darum gehen, die Wohlstandsmodelle in unserer eigenen Gesellschaft auf ihre internationale soziale Verträglichkeit hin zu prüfen und zu verändern. Das bedeutet aber, über die Millenniumsziele und über das Jahr 2015 hinauszudenken und nicht nur die Entwicklungszusammenarbeit, sondern alle Politikbereiche konsequent am Leitbild einer global zukunftsfähigen Entwicklung auszurichten.

Alle politischen Entscheidungen müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie mit den Menschenrechten vereinbar sind und dazu beitragen, die Situation der Armen zu verbessern. Mit der Proklamation einer neuen ergebnisbasierten Entwicklungspolitik, die die Zuständigkeit für die Lösung der Armutsprobleme der Weltgesellschaft vor allem bei den Regierungen der armen Länder selbst und ansonsten im Wesentlichen die Kirchen für die karitative Bewältigung des Problems zuständig sieht, entzieht sich die Bundesregierung dieser Verantwortung.

Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Direktorin von „Brot für die Welt“ und der Diakonie Katastrophenhilfe.

welt-sichten 11-2010

 

 

erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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