Die Abwehr der Bakterien

Multiresistente Erreger
Antibiotika haben die Behandlung von Infektionskrankheiten weltweit revolutioniert. Doch immer mehr Bakterien sind heute gegen sie resistent.

Wenn sich die Helferinnen und Helfer von Ärzte ohne Grenzen in Indien um Menschen mit Tuberkulose (TB) kümmern, stehen sie oft vor einer heiklen Wahl. Viele der üblichen Antibiotika wirken nicht mehr, weil die Krankheitserreger resistent gegen sie geworden sind. Daher müssen die Mediziner immer häufiger auf weniger effiziente oder ältere Mittel zurückgreifen. Sie müssen bis zu zwei Jahre lang eingenommen werden und können schwere Nebenwirkungen verursachen. Das TB-Medikament Kanamycin etwa greift das Gehör an, und zwar so stark, dass die Patienten schwerhörig oder sogar taub werden. „Ob in Zentralasien, Osteuropa oder in jordanischen Flüchtlingslagern, immer häufiger hindern antimikrobielle Resistenzen uns daran, Infektionskrankheiten wirksam zu bekämpfen“, sagt Philipp Frisch, Koordinator der Medikamentenkampagne bei Ärzte ohne Grenzen.

Unempfindlichkeit gegen Antibiotika ist eine biologische Eigenschaft, die im Erbgut vieler Bakterienstämme festgelegt ist und damit bei der Vermehrung weitergegeben wird. Aber wie entsteht sie? Bei der Vermehrung von Bakterien komme es immer zu zufälligen genetischen Veränderungen, sagt Martin Exner, Professor am Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit der Universität Bonn. „Der verbreitete Einsatz von Antibiotika hat nun weltweit und über Jahrzehnte zu einer Selektion geführt, also zu einem Überlebensvorteil für Bakterienstämme, die gegen eine wachsende Zahl von Wirkstoffen resistent sind.“ Die anfangs nur zufällig resistenten Bakterien verdrängen langsam aber sicher die empfindlicheren Stämme. Denn sobald der Organismus, den sie besiedeln, mit Antibiotika in Kontakt kommt, haben sie die besseren Überlebenschancen und können sich stärker vermehren.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt derweil, dass 700.000 Menschen jährlich an Infektionen mit multiresistenten Erregern sterben – also mit Erregern, die gegen eine ganze Reihe von Antibiotika unempfindlich sind. Im Jahr 2050, so befürchtet sie, könnten es zehn Millionen sein. Dass der weltweite Verbrauch von Antibiotika nach wie vor steigt, verschärft das Problem. Laut der britischen Medizin-Fachzeitschrift „Lancet“ ist er zwischen 2000 und 2010 um 36 Prozent gewachsen. Der Anstieg geht vor allem auf das Konto der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, wo Antibiotika in den vergangenen Jahren deutlich erschwinglicher geworden sind, ihr Einsatz aber kaum reguliert wird.

Die Ursachen für die Misere sind vielfältig. Häufig werden Antibiotika falsch und vorschnell verordnet. Das kann ein Baby in einem Industrieland mit einer fiebrigen Erkältung sein, damit es schnell wieder die Krippe besuchen kann. Oder ein fieberndes Kind in einer dürftig ausgestatteten Gesundheitsstation eines südostasiatischen Schwellenlandes erhält vorsorglich ein Antibiotikum, ohne dass eine richtige Diagnose gestellt wurde. „Wenn die Diagnosemöglichkeiten unzureichend sind, ist der präventive Griff zum Antibiotikum oft die Regel“, erläutert Philipp Frisch.

Antibiotika vom Straßenhändler

In vielen Ländern sind Antibiotika nicht verschreibungspflichtig, sondern in Drogerien, Apotheken oder bei Straßenhändlern frei erhältlich. Ihre Abgabe wird vielerorts kaum kontrolliert. Gleichzeitig weiß eine große Zahl von Patienten nicht, in welchen Fällen Antibiotika helfen und wie sie korrekt angewendet werden müssen. So gehen laut dem diesjährigen WHO-Bericht über antimikrobielle Resistenzen drei Viertel der in Indien Befragten davon aus, dass Antibiotika Erkältung und Grippe bekämpfen – obwohl sie gegen Viren nichts ausrichten können, sondern nur gegen Bakterien wirken. Mehr als die Hälfte der in China Befragten gaben an, die Behandlung mit Antibiotika abzubrechen, sobald es ihnen besser gehe.

Mediziner werden dagegen auch in den Industrie­ländern nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, die Medikamente bis zum Ende des vorgeschriebenen Zeitraums einzunehmen. Nur so können sie ihre volle Wirkung entfalten und es können keine Bakterien überleben, die anschließend Resistenzen weitergeben könnten.

Gefährliche Keime in Deutschland

In Deutschland spielen Keime, die gegen Antibiotika resistent sind, noch eine deutlich geringere Rolle als in den ärmeren Ländern Afrikas und Asiens. Das liegt daran, dass Infektionskrankheiten ...

Darüber hinaus wird die Arzneimittelqualität vor allem in ärmeren Ländern nur unzureichend überwacht. Die Folge ist, häufig unbeabsichtigt, eine falsche Dosierung, die ebenfalls Resistenzbildungen fördert. Dasselbe geschieht, wenn sich mehrere Mitglieder einer Familie aus Kostengründen ein Antibiotikum teilen oder wenn Packungsreste an andere weitergegeben werden. „Dann bekommt jeder nur eine Teildosis, die dazu führt, dass sich die Bakterien, die eigentlich bekämpft werden sollen, besser gegen das Medikament wappnen können“, erklärt Philipp Frisch.

Aber nicht nur in der Humanmedizin besteht Handlungsbedarf. Auch die Tierhaltung trage weltweit entscheidend dazu bei, dass Mikroben Resistenzen entwickeln, erläutert Maria Vehreschild von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. „Es ist unstrittig, dass bestimmte resistente Bakterien oder ihre Resistenzgene aus der Landwirtschaft, vor allem der Tiermast, auf den Menschen übertragen werden.“  Dennoch werden Antibiotika weltweit und auch in Deutschland in der Massentierhaltung eingesetzt – vor allem, um möglichen Infektionen im Stall vorzubeugen, in einigen Ländern aber auch, um den Stoffwechsel von Masttieren so zu beeinflussen, dass sie schneller an Gewicht zulegen. „Wenn Mensch und Tier dann auch noch auf sehr engem Raum zusammenleben, steigt die Gefahr, dass Resistenzen sich übertragen.“

Erschreckende Neuigkeiten kamen vor kurzem aus China. Laut „Lancet“ stießen Wissenschaftler verschiedener chinesischer Universitäten bei der Untersuchung von Darmbakterien erstmals auf sogenannte Plasmid-vermittelte Resistenzen gegen Colistin. Colistin ist eines der weltweit wichtigsten so genannten Reserveantibiotika: ein Medikament, das extrem sparsam verwendet werden soll, weil es als letztes Mittel gilt, wenn gängige Antibiotika wegen Resistenzen versagen.

Entdeckung mit möglicherweise verheerenden Folgen

„Diese Entdeckung könnte verheerende Folgen für die Wirksamkeit von Reserveantibiotika haben“, sagt Maria Vehreschild. Plasmide sind kleine, außerhalb der Chromosomen liegende DNA-Moleküle. Dass die Resistenz über sie weitergegeben wird statt nur bei der Vermehrung der Bakterien, bedeutet: Die Colistin-Resistenz kann auch artübergreifend zwischen verschiedenen Bakterientypen weitergereicht werden, sagt Vehreschild. „Wir wissen, dass sich Resistenzen von Bakterien in diesem Fall deutlich schneller verbreiten. So war es auch schon bei den Carbapenemen, die ihren Nutzen als Reserveantibiotika in manchen Regionen der Welt weitgehend verloren haben.“

Aufgrund von Antibiotikaresistenzen können Krankheiten, die seit Jahrzehnten als beherrschbar galten, wieder lebensbedrohlich werden. So sind Lungenentzündungen und Durchfallerkrankungen, die vor allem bei Kindern verbreitet sind, mit den herkömmlichen Antibiotika schon jetzt in Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika kaum mehr zu heilen. Auch eine nach einer Routineoperation infizierte Wunde kann ohne ein wirksames Gegenmedikament den Tod bringen. „Antibiotikaresistenzen gefährden unsere Fähigkeit, Infektionskrankheiten wirksam zu bekämpfen, und sie drohen viele Fortschritte der Medizin rückgängig zu machen“, betont aus diesem Grund auch WHO-Generaldirektorin Margaret Chan.

Autorin

Barbara Erbe

ist Redakteurin bei welt-sichten.
Philipp Frisch von Ärzte ohne Grenzen sieht eine weitere Ursache für die neuen Risiken im „Versagen des Marktes“. Das Geschäft mit Antibiotika ist für Pharmakonzerne wenig lukrativ. Denn diese werden anders als Diabetes-, Blutdruck- oder Krebsmedikamente nur über einen kurzen Zeitraum verabreicht, und sie dürfen wegen der Resistenzgefahren nicht unbegrenzt vermarktet werden. Außerdem werden die Mittel vor allem in ärmeren Ländern gebraucht, die ungleich stärker von Infektionskrankheiten betroffen sind als reiche. Eine Folge davon ist: Seit Jahrzehnten werden kaum noch neue Antibiotika entwickelt, mit denen sich – zumindest für eine gewisse Zeit – Bakterien bekämpfen ließen, die gegen die bisherigen Mittel resistent sind.

„In den vergangenen 50 Jahren hat, bis auf zwei Ausnahmen in jüngster Zeit, kein Pharmaunternehmen ein neues Antibiotikum gegen Tuberkulose auf den Markt gebracht“, kritisiert Philipp Frisch. Um Forschung und Entwicklung zu fördern, müssten Forschungskosten und Marktpreise entkoppelt werden. Das Mittel der Wahl wäre ein staatlich finanzierter Forschungsfonds zugunsten neuer Antibiotika. Er sollte auch die Entwicklung einfacher Diagnoseinstrumente fördern, damit weniger Antibiotika ohne richtige Diagnose verwendet werden.

In diese Richtung geht auch der Aktionsplan, den die WHO in diesem Jahr verabschiedet hat. Demnach sollen die Mitgliedsstaaten nicht nur Aktionspläne im Sinne eines „One Health“-Ansatzes erstellen,  also einer gemeinsamen Herangehensweise von Human- und Tiermedizin sowie Landwirtschaft für einen gezielteren Einsatz von Antibiotika. Die WHO möchte darüber hinaus einen staatlich finanzierten globalen Fonds zur Erforschung neuartiger Antibiotika einrichten. Wann und in welchem Ausmaß das geschehen soll, ist allerdings noch unklar.  

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erschienen in Ausgabe 2 / 2016: Seuchen: Unsichtbare Killer
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