Ein Geständnis vorweg: Nach den Terroranschlägen in Paris im November war ich fest entschlossen, mir ein Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe zu suchen. Bislang ist es bei dem Vorsatz geblieben, teils aus Bequemlichkeit, teils weil ich davor zurückschrecke, meine knapp bemessene Freizeit dafür zu opfern.
Ein wenig schäme ich mich dafür. Wobei es mir gar nicht so sehr um die Flüchtlinge selbst geht, sondern vor allem um meine Heimatstadt und um die Gesellschaft, in der ich lebe – ja, um mein Deutschland. Indem ich Flüchtlingen helfe, würde ich meinen Beitrag zur Willkommenskultur und damit zum ersten wichtigen Schritt für ihre Integration leisten. Ich würde damit hoffentlich dazu beitragen, ein Abdriften vor allem der jungen Männer in Parallelgesellschaften und das Entstehen von Einwandererghettos in unseren Städten zu verhindern – von Ghettos wie in Frankreich und Belgien, aus denen die Massenmörder von Paris kamen.
Die Integration von hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern aus anderen Weltregionen und Kulturen – das wird die wichtigste Aufgabe deutscher Politik und Gesellschaft in diesem Jahr sein. Dazu wird sowohl den Zuwanderern als auch den Einheimischen einiges abverlangt, und im Moment sieht es nicht gut aus, dass das gelingt. Nach den Dutzenden Übergriffen auf Frauen und den bedrohlichen Szenen in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof schrieb Alice Schwarzer mit Blick auf die Täter und deren Herkunft aus Nordafrika und dem arabischen Raum, das seien die Früchte einer versäumten Integration. Das ist richtig. Nicht richtig hingegen ist, dass dieses Versäumnis Ergebnis einer „falschen Toleranz“ ist, wie Schwarzer meint. Nicht falsche Toleranz steht der Integration im Weg, sondern Ignoranz.
Die Parallelgesellschaften sind den meisten egal
Der satten deutschen Mehrheit sind muslimische Parallelgesellschaften völlig gleichgültig, solange sie eben das bleiben: Parallelgesellschaften, die das eigene Leben, die eigene Gesellschaft nicht berühren. Und für die wirtschaftlich, politisch und kulturell abgehängten „Problemviertel“, die es auch in unseren Städten schon gibt, interessieren sich bestenfalls unterbezahlte Sozialarbeiter – zumindest solange deren Bewohner bleiben, wo sie sind. Diese Gleichgültigkeit abzulegen, wäre ein erster notwendiger Beitrag, den wir einheimische Deutsche zur Integration leisten müssen.
Sehr viele Bürger helfen freiwillig, aber zum Jahreswechsel droht die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Flüchtlingen und generell muslimischen Ausländern zu kippen – in Abwehr und offenen Hass. Erschreckend ist, wie Politiker, nicht nur vom rechten Rand, und manche Medien diese Stimmung befeuern. Es hatte in den vergangenen Wochen mitunter groteske Züge, wie etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) in Leitartikeln angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen vor dem Zusammenbruch des Rechtsstaats und der öffentlichen Ordnung gewarnt wurde – als stehe Deutschland an der Schwelle zum „failed state“, zum gescheiterten Staat, der nicht in der Lage oder willens ist, seine Grenzen zu sichern und gegen Eindringlinge zu verteidigen.
Im Aleppo ist Krieg, in Köln nicht
Europa steckt seit vielen Jahren viele Millionen Euro in einen hochgerüsteten High-Tech-Grenzschutz zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Doch die Flüchtlinge kommen trotzdem, und Deutschland wird sich mit jedem einzelnen befassen müssen, der an seine Tür klopft. Zum „Wir schaffen das!“ von Angela Merkel gibt es keine Alternative. Wer Obergrenzen fordert, ohne gleichzeitig zu sagen, wie er die Fluchtursachen abstellen oder andere Länder der Europäischen Union zu einer großzügigeren Aufnahme von Flüchtlingen bewegen will, macht sich selbst und anderen etwas vor.
Autor
Joachim Bittner hat in der „Zeit“ geschrieben, Journalisten müssten ihre Wut im Zaum halten, auch wenn es schwerfalle. Das gleiche gilt, könnte man hinzufügen, auch für ihre Angst. Einigen Kollegen und Kolleginnen scheint das nicht mehr zu gelingen. Statt zu informieren, einzuordnen und abzuwägen, lassen sie ihrer Unsicherheit und Hysterie freien Lauf. Das ist gefährlich, weil eine hysterische Gesellschaft unberechenbar wird.
Das Gegengift gegen Angst, Panik und Ressentiment heiße Mut, schreibt der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie: Mut, „der das Gemüt und die Kraft des Denkens und Wollens freisetzt“. Tun wir also alles, dass in diesem Jahr nicht die Ängstlichen, sondern die Mutigen die Oberhand gewinnen bei der Bewältigung der Probleme bei uns und in der Welt.
Ignoranz ablegen? Unbedingt!
Der Autor weist zurecht darauf hin, daß Deutschland kein failed state sei. Aber zu Sylvester war Köln eine failed town oder zumindest eine failed Domplatte für all die Frauen, die Opfer der Übergriffe und dann nochmal Opfer ignoranter Behörden und Politiker wurden. Und damit sind wir schon beim Thema. Die Forderung, „endlich unsere Ignoranz abzulegen“ ist ganz richtig. Aber wer ist gemeint? Die ignoranten politischen Entscheidungsträger, die zahllose Menschen in unser Land einladen, ohne eine Idee zu haben, wer warum und wie lange zu uns kommt? Oder die Zuwanderer, die sich ausgesprochen ignorant verhalten, wenn es darum geht, unsere Kultur und unsere Werte zu verstehen und zu respektieren? Oder doch nur „wir“, die wir nicht den Mut haben und die Weitsicht und die Toleranz, in das von oben verordnete „Wir schaffen das!“-Credo einzustimmen? Nur wenn ALLE ihre Ignoranz ablegen, nur dann kann das werden.
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