Abschied von der Solidarität

Thilo Sarrazins Thesen geben der Verachtung für die Armen einen intellektuellen Anstrich

Meint Thilo Sarrazin es eigentlich ernst, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Erbanlagen zur Dummheit verdammt sind? Ja, er meint das bitterernst. Wer seinen Ausflug in die Biologie als unwichtigen und irregeleiteten Exkurs in seinem ansonsten vernünftigen Buch „Deutschland schafft sich ab“ kleinredet, wie das ihm wohlgesinnte Kommentatoren tun, der verkennt das politische Kalkül, das ihn antreibt. Worum es ihm geht, hat der Ex-Bundesbanker spätestens in seinem Interview mit der Zeitschrift „Lettre International“ vor einem Jahr klar gemacht: Unverhohlen hat er da seinen Abscheu gegenüber einer sich ungehemmt vermehrenden, ökonomisch nutzlosen Unterschicht zum Ausdruck gebracht und davon gesprochen, dass sich dieser von Transfereinkommen lebende Bevölkerungsteil „auswachsen“ müsse. Sarrazin geht es nicht um Integration oder Bildung. Für ihn sind dumme Unterschichtenkinder und integrationsunwillige Ausländer eine Last, die Deutschland loswerden muss.

Autor

Tillmann Elliesen

ist Redakteur bei "welt-sichten".

Mit seinem neuen Buch ist Sarrazin zum Wortführer einer Parallelgesellschaft geworden, die in einer in ihrem Status zunehmend verunsicherten Mittelschicht beginnt. Vom Leben in Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh oder Frankfurt-Griesheim weiß sie nichts und will sie auch nichts wissen – und erst recht nicht mehr für Sozial- und Bildungsmaßnahmen dort bezahlen.

Mit dieser Aufkündigung gesellschaftlicher Solidarität, die ähnlich auch in anderen Ländern Europas stattfindet, setzt sich ein Vorgang fort, den der Frankfurter Politikwissenschaftler Lothar Brock vor elf Jahren als „Verallgemeinerung der Entwicklungsproblematik“ beschrieben hat. Brock stellte damals fest, dass sich in den reichen Ländern Erscheinungen häuften, „die ursprünglich als typisch für Drittweltländer galten: hohe Einkommensdisparitäten, soziale Unsicherheit, bleibende Armut“ und die Zunahme prekärer und ungeregelter Arbeitsverhältnisse. Sarrazins Unterschichtenhetze steht dafür, dass derlei Probleme von vielen Bessergestellten hierzulande nicht mehr als Aufgaben betrachtet werden, denen sich die Gesellschaft stellen muss, sondern nur noch achselzuckend zur Kenntnis genommen werden – wenn überhaupt.

Damit verallgemeinert sich auch dieser Teil der Entwicklungsproblematik: die Ignoranz der Reichen gegenüber den Bewohnern der Armutsregionen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die oft beschworene Solidarität in der „Einen Welt“ ist vor allem ein Wunsch. Ja, deutsche Hilfsorganisationen können auf eine ungebrochene Spendenbereitschaft der Bevölkerung verweisen, besonders in Katastrophenfällen. Aber die Bereitschaft zum Teilen endet in den reichen Ländern spätestens dann, wenn es um den Erhalt des eigenen Lebensstandards geht. Oder würde hierzulande wirklich mehr als eine verschwindend kleine Minderheit für eine Handels- oder eine Klimapolitik stimmen, die mit Einbußen oder Einschränkungen verbunden wäre, dafür aber den Menschen in Kenia oder Bangladesch bessere Chancen auf ein würdiges Dasein eröffnete? Wahrscheinlich nicht. Und Umfragen, nach denen die Bürger dafür sind, die staatliche Entwicklungshilfe zu erhöhen, sind in der Regel so formuliert, dass sie das Ergebnis bringen, das der Fragesteller wünscht.

Das stärkste Indiz dafür, dass es mit der grenzüberschreitenden Solidarität in den reichen Ländern nicht weit her ist, ist die Gleichgültigkeit, mit der hierzulande auf die Abwehr von Armutsflüchtlingen an den Außengrenzen der Europäischen Union reagiert wird. 2008 sind laut der Organisation Pro Asyl nachweislich 1500 Menschen ertrunken bei dem Versuch, Europa zu erreichen; die Dunkelziffer ist deutlich größer. Das ist ein Skandal, der in der Öffentlichkeit weit weniger Empörung auslöst als der Beginn der jährlichen Walfangsaison.

Sarrazins These von der vererbten Dummheit ist deshalb fatal, weil sie der Solidarität die Grundlage entzieht: Warum helfen, wenn jemand von Natur aus zur Unterschicht gehört? Je mehr solches Denken innerhalb von Gesellschaften Fuß fasst, desto schwieriger wird Solidarität über Grenzen hinweg. Dass Afrikaner weniger klug sind als Weiße, wird nicht nur an Stammtischen gemunkelt. Vor drei Jahren gab der US-amerikanische Biochemiker James Watson eine Theorie zum Besten, die Thilo Sarrazins Absage an die Sozialpolitik auf die Weltgesellschaft überträgt: Er schätze die Entwicklungsaussichten Afrikas düster ein, sagte der Nobelpreisträger für Medizin, weil Schwarze nun einmal nicht so intelligent seien „wie wir“.

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2010: Artenvielfalt: Vom Wert der Natur
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