"Ich bete nicht mehr"

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IS-Aussteiger
Hauptsache gegen Assad: Das war der Grund, warum sich Abu Ibrahim dem Islamischen Staat anschloss. Doch dann exekutierten die Dschihadisten einen seiner Freunde.

Abu Ibrahim, 22 Jahre alt, sieht aus wie ein typischer Student in Europa oder den USA. Er ist groß und attraktiv, trägt Jeans und T-Shirt. Außerdem ist er glatt rasiert und hat die Haare frisch geschnitten – ein großer Unterschied zu seinem Erscheinungsbild noch im letzten Jahr. Mit langen Haaren und Vollbart sorgte er damals im Sicherheitsapparat des Islamischen Staats dafür, dessen brutale Herrschaft in Syrien zu erhalten.

Vom Oktober 2014 bis Mai 2015 arbeitete Abu Ibrahim in den Geheimdienstbüros des Islamischen Staats in Rakka und Deir ez-Zor. Er setzte sich von der Terrorgruppe ab, nachdem er ihre brutalen Methoden aus nächster Nähe gesehen hatte. Nun lebt er als Flüchtling in einer Stadt im Süden der Türkei nahe der syrischen Grenze. Die Geschichte seiner Wandlung vom hochgeschätzten Agenten zu jemandem, der all seine Illusionen verloren hat, gibt einen guten Einblick, welche Qualitäten die Dschihadisten an ihren Rekruten besonders schätzen.

Abu Ibrahim hat vier Geschwister und entstammt einer Familie der Mittelschicht, die in der Gegend von Rakka im Norden Syriens lebt. Nach dem Schulabschluss studierte er Informatik an der Universität von Deir ez-Zor im Osten Syriens. Als die Revolution ausbrach, hatte er gerade sein erstes Studienjahr hinter sich.

Keine klare Haltung zur Revolution

Sein Vater machte sich Sorgen um ihn. „An den Universitäten von Deir ez-Zor wurde viel demonstriert, er hatte Angst, ich könnte verhaftet werden“, erinnert sich Abu Ibrahim. Seine Familie hielt sich wie viele andere im Dorf aus der Revolution heraus. Zu gut erinnerte man sich noch an die Brutalität, mit der das Assad-Regime in den 1980er Jahren die damaligen Aufstände niedergeschlagen hatte. Sie bedrängte ihn, in einen weniger gefährlichen Ort umzuziehen – in eine Stadt mit guten Universitäten, aber weniger revolutionären Umtrieben.

Abu Ibrahim selbst hatte keine klare Haltung zur Revolution. Das änderte sich, als die ersten seiner Mitstudenten und Freunde verhaftet wurden. Damals erwachte sein Hass gegen das Assad-Regime. „Eines Tages fuhren drei Wagen vor dem Haus unseres Nachbarn vor“, sagt er in Erinnerung an seine Zeit in Deir ez-Zor. „Ich wusste, dass dort ein Revolutionär wohnte, aber als ich sah, wie sie einen 15-Jährigen abführten, kochte etwas in mir hoch.“

Schließlich war es ihm nicht mehr möglich, sein Studium in Deir ez-Zor fortzusetzen, und Abu Ibrahim kehrte nach Hause zurück. Zunächst dachte er, es würden einfach verlängerte Ferien werden. Doch dann nahmen die mit al-Qaida verbündete al-Nusra-Front und Brigaden der Freien Syrischen Armee Rakka ein, und auf einmal war er auf „befreitem“ Gebiet. Und nach allem, was er in Deir ez-Zor erlebt hatte, war Abu Ibrahim froh, nun in einer Region zu leben, in der Assad nichts mehr zu melden hatte.


Im kriegszerstörten Rakka konnte man nicht viel tun, und so fing Abu Ibrahim an, mit Freunden herumzuhängen, die sich der al-Nusra-Front angeschlossen hatten. Man erzählte sich Geschichten von den glorreichen Taten der Dschihadisten. Oft war dabei von Leuten wie Scheich Abdallah Yusuf Azzam die Rede, Mitbegründer von al-Qaida und Mentor von Osama bin Laden. Am meisten Eindruck machten auf Abu Ibrahim jedoch die Berichte von den Bombenanschlägen der al-Nusra-Front auf Regierungsgebäude in Damaskus 2012. Er hatte den Eindruck, dass die al-Nusra-Front die entscheidende Kraft war. „Damals überlegte ich ernsthaft, mich ihnen anzuschließen“, sagt er.

Doch bevor es dazu kam, übernahm der Islamische Staat die volle Kontrolle über Rakka, und die al-Nusra-Front musste sich zurückziehen. Einige seiner Freunde zogen mit ihr ab, andere schlossen sich dem Islamischen Staat an; Abu Ibrahim blieb. „Freunde wollten mir erklären, dass Daesh etwas ganz anderes sei als die al-Nusra-Front, aber mir war das alles nicht klar“, erzählt er. „Also begann ich, Daesh-Kurse zu besuchen.“

Dass Abu Ibrahim für den IS das arabische Akronym „Daesh“ benutzt und nicht von „al-dawlah“, „der Staat“, redet, zeigt, wie sehr er sich von der Gruppierung entfremdet hat. Dieser Terminus wird mit dem Unterton der Verachtung und Respektlosigkeit von den Gegnern der Terrororganisation verwendet, um ihr die religiöse und politische Legitimation abzusprechen.

Doch damals war Abu Ibrahim noch auf bestem Weg, zu einem überzeugten Anhänger zu werden. In Kursen über islamischen Glauben und islamisches Recht lernte er, dass jeder, der den Islamischen Staat nicht unterstützt, ein „Kafir“ ist, ein Ungläubiger. Selbst Mitglieder der al-Nusra-Front galten als unzuverlässig, weil sie, so behauptete der Islamische Staat, sich nicht an die Regeln des Islam hielten, Nachsicht gegenüber Zivilisten zeigten und überhaupt schlechte Kämpfer seien. „Das hat mich überzeugt“, sagt Abu Ibrahim, und im Oktober 2014, nachdem sein Kurs zu Ende war, trat er der Terrorgruppe offiziell bei. In den ersten Monaten, in denen er in Rakka und Aleppo stationiert war, lief alles glatt.

Viel Macht und 250 Dollar pro Monat 

Abu Ibrahim hatte noch nie für eine andere Gruppierung gekämpft, das machte ihn in den Augen der Führung der Dschihadisten zum idealen Mitglied. Wer von einer anderen Rebellengruppe wechselt, wird mit Argwohn betrachtet: Man bezweifelt die Entschlossenheit dieser Überläufer, einen wirklich „islamischen“ Staat aufbauen zu wollen. Außerdem hatte Abu Ibrahim sehr gute Beziehungen zu den örtlichen Führern der Dschihadisten, den sogenannten Emiren, und bald trug man ihm an, im Sicherheitsdienst des Islamischen Staats in Rakka zu arbeiten. Das war die wichtigste Organisation der militanten Gruppe, ihre Aufgabe bestand darin, die Kontrolle über das eroberte Territorium zu garantieren und für die Sicherheit der In stitutionen des Islamischen Staats und seiner Führer zu sorgen. „Ich weiß eigentlich nicht genau, warum sie gerade auf mich kamen“, sagt Abu Ibrahim, „aber es war mir egal – es war ein guter Arbeitsplatz.“

Auf einmal hatte er nicht nur viel Macht, sondern erhielt auch ein monatliches Gehalt von
250 US-Dollar. Als Informatiker war es anfangs seine Aufgabe, die Computer verhafteter und gesuchter Leute nach gelöschten Dateien, Botschaften und E-Mails zu durchforsten. Doch schon nach kurzer Zeit schickte man ihn wieder nach Deir ez-Zor zurück. Hier sollte er nicht mehr Computer durchsuchen, sondern Informationen von Menschen sammeln – mit Leuten reden, zuhören, worüber die Einwohner so sprachen, gelegentlich auch mal jemanden verhaften.
„Ich trieb mich in den Friseurläden der Stadt herum und sperrte die Ohren auf“, berichtet Abu Ibrahim. „Ich ging auch außerhalb der Gebetszeiten in die Moscheen und belauschte die Gespräche, während ich so tat, als würde ich im Koran lesen.“

"Alle sorgten füreinander"

Unterdessen zerbrachen über Abu Ibrahims Engagement für den Islamischen Staat die Beziehungen zu seiner Familie. Sein Vater unterstützt bis auf den heutigen Tag nicht die Revolution, und keines seiner Geschwister kämpft im Bürgerkrieg. „Mein Vater sagte mir, er würde alles darum geben, wenn ich von dort wegginge“, sagt Abu Ibrahim. „Er wollte mir sogar helfen, ein nettes Mädchen zu finden, und die Hochzeit bezahlen, aber ich machte mir nichts daraus.“ Abu Ibrahim wollte seine Waffengefährten nicht im Stich lassen.

„Was mich am meisten an Daesh band, war die Kameradschaft unter den Kämpfern“, sagt er. „Es gab Gruppen von Amerikanern, Franzosen und Arabern, alle sorgten füreinander, und es gab keinerlei Diskriminierung.“ Interessanterweise war die Grundlage dieser Verbundenheit gar nicht so sehr der Glaube. Zwar gab es auch einige sehr religiöse Kämpfer beim Islamischen Staat, aber etliche schlossen sich ihm aus finanziellen Gründen an, und viele, so Abu Ibrahim, „wären für genug Geld auch zum Christentum konvertiert“.

Zum IS aus schierer Verzweiflung

Man stellt sich die Kämpfer des Islamischen Staats in der Mehrheit als religiöse Eiferer vor, doch so einfach ist es nicht, wie Abu Ibrahims Bericht offenbart. Viele, so erklärt er, schlossen sich den Dschihadisten aus schierer Verzweiflung an. Manche syrische Mitglieder des Islamischen Staats hatten zuvor jahrelang in Brigaden gekämpft, die der Freien Syrischen Armee nahestanden, waren aber durch die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen und Opfer desillusioniert worden. Der Islamische Staat bot diesen Männern einen Teufelspakt an – wenn sie Assad besiegen wollten, mussten sie nicht bloß das Geld der Terrororganisation, sondern auch ihre Ideologie annehmen. Abu Ibrahim war es gleich, unter welchem Banner er focht, solange es gegen Assad ging und Aussicht auf Sieg bestand. Also schloss er sich dem IS an.

Aber was er dort erlebte, verunsicherte ihn zutiefst. Besonders missfiel ihm, wie man mit der ansässigen Bevölkerung umsprang. Die IS-Kämpfer – besonders die Ausländer – behandelten die Einwohner mit äußerster Geringschätzung. „Ich fand es furchtbar“, sagt Abu Ibrahim, „und ich fand es furchtbar, dass die Leute mich hassten, weil ich zu Daesh gehörte.“

Allmählich wurde ihm klar, dass er zwar denselben Feind wie der IS hatte, aber keineswegs seine Philosophie teilte. Viele syrische Kämpfer denken so, meint er, aber sie seien machtlos gegen die Missstände. Sie würden daher häufig ihren Kampfnamen wechseln, damit die Zivilisten sich nicht so einfach an sie erinnerten, „weil sie Angst davor haben, was nach dem Krieg kommt“.

Dann verhaftete der Islamische Staat Mitglieder der al-Nusra-Front, steckte sie in Rakka ins Gefängnis und richtete sie öffentlich hin. Darunter waren auch Freunde von Abu Ibrahim, manche kannte er schon aus der Zeit vor dem Krieg. „Ich war fassungslos“, sagt Abu Ibrahim. „Als ich sah, wie sie meinen Freund von der al-Nusra-Front köpften, war mir klar, du musst hier weg.

Autoren

Ahmet Mhidi

ist freier syrischer Journalist.

Sam Whitt

ist Hochschulassistent an der High Point University in North Carolina.

Vera Mironova

ist wissenschaft-liche Mitarbeiterin am Belfer Center der Harvard Kennedy School.
Doch so einfach kann man dem Islamischen Staat nicht den Rücken kehren. Wer sich bei einem Fluchtversuch erwischen lässt, wird auf der Stelle getötet. Abu Ibrahim brauchte einen guten Plan, um durch die Checkpoints zu kommen. Schließlich besorgte er sich einen gefälschten Ausweis, und so gelang ihm die gefährliche Reise über die Grenze in die Türkei.

Heute lebt Abu Ibrahim in der türkischen Stadt Urfa. Er denkt darüber nach, sein Studium fortzusetzen – doch angesichts all der arbeitslosen, gut ausgebildeten Syrer zweifelt er am Sinn. Er hat keinerlei Verbindungen mehr zum Islamischen Staat, aber neue Freunde hat er auch nicht gefunden. „Hier brauche ich keine Angst um mein Leben zu haben“, sagt er. „Das Einzige, worunter ich leide, ist die Langeweile.“

Solange er in der Türkei ist, muss er nicht befürchten, dass der IS sich für seine Desertion rächt. Trotzdem verhält er sich möglichst unauffällig, zumal die türkische Regierung ihre Zusammenarbeit mit den USA im Krieg gegen den Islamischen Staat ausbaut und verstärkt gegen Dschihadisten auf türkischem Boden vorgeht.

Wenn man ihn fragt, ob er noch einmal in den Kampf ziehen würde, muss er nicht lange überlegen. „Davon habe ich genug“, sagt er. Seine Erfahrungen mit dem Islamischen Staat haben ihm sämtliche religiösen und politischen Überzeugungen genommen. „Ich trinke keinen Alkohol“, sagt Abu Ibrahim, „aber ich bete auch nicht mehr.“

Abu Ibrahim versucht, in ein normales Leben zurückzufinden, doch das ist nicht so einfach. Wenn man sich dem Islamischen Staat anschließt, sagt er, „wird Kampf der Lebensinhalt“. Nun muss er etwas anderes finden, für das es sich zu leben lohnt.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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