Die allgemeine Abscheu vor der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) geht nicht allein auf ihre übermäßige Grausamkeit zurück. Lang anhaltende Bürgerkriege führen unweigerlich zu den entsetzlichsten Verbrechen. Aber während die Täter in der Regel versuchen, ihre Taten vor der Öffentlichkeit zu verbergen, ist es bei den Schergen des Islamischen Staates genau umgekehrt, die via Internet offenbar nicht genug mit ihren Verbrechen prahlen können und demonstrieren, dass sie aus islamischen Beweggründen heraus morden und zerstören.
Das hat eine Debatte über das Verhältnis des IS zum Islam entfacht. Zwei Parteien stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite wissen diejenigen, die es eigentlich schon immer gewusst haben, dass der IS das wahre Gesicht des Islams enthüllt, das zeige sich ja schon im Koran. Auf der anderen Seite werden Vertreter muslimischer Verbände nicht müde, zu behaupten, dass das, was die Terroristen tun, nichts mit dem Islam zu tun habe – ganz so, als ob sie Außerirdische wären, die per Zufall in der mesopotamischen Steppe gelandet sind. Es scheint wenig Interesse daran zu bestehen, den IS ernst zu nehmen als das, was er zu sein vorgibt: eine Organisation, die in ihrem Herrschaftsbereich ihre Auffassung vom Islam verwirklichen will.
Der Grund für diesen Mangel an Interesse kann nicht die Quellenlage sein. Auf den zahllosen Internetseiten der IS-eigenen Propagandaabteilung und des breiten Umfelds von Sympathisanten wird die eigene Position ausführlich theologisch begründet. Beim Betrachten dieser Texte zeigt sich, dass der IS sein Wirken in eschatologischer Perspektive sieht – also mit Blick auf den Endkampf um die Erlösung der Welt – und für sich eine Schlüsselrolle im göttlichen Plan für die Endzeit behauptet. Für dieses Selbstverständnis ist ein Text aufschlussreich, der dem Propheten Mohammed zugeschrieben und im „Dabiq“, dem Hochglanzmagazin des IS, zitiert wird.
Militante Bewegungen wie der IS sind an sich nichts Neues
Dort heißt es, dass noch vor der Einnahme von Konstantinopel, dem anschließenden Auftritt des Antichristen und dessen Tötung durch Jesus die Muslime nach hartem Kampf die Byzantiner bei der Ortschaft Dabiq nördlich von Aleppo besiegen werden. Die weiteren Ausführungen im Magazin machen klar, dass der IS diese Prophezeiung auf sich bezieht und seine Aktivitäten in Nordsyrien als Versuch versteht, den Westen, „die Byzantiner“, zu einer militärischen Intervention, zur verheißenen Endschlacht, zu nötigen, um danach „das Banner an den Mahdi weiterzureichen“, auf dass dieser das endzeitliche Friedensreich errichte.
Das mag wirr scheinen, ist aber ernst gemeint. In der Geschichte des Islams hat es immer wieder eschatologisch motivierte militante Bewegungen gegeben. Konkret aber scheint der IS vor allem durch den Wahhabiten Juhaiman al-Utaibi inspiriert zu sein, der im November 1979, zu Beginn des islamischen Jahres 1400, mit seinen Anhängern zwei Wochen lang die Kaaba, das zentrale Heiligtum des Islam in Mekka, besetzt hielt, um die Ankunft des Mahdi vorzubereiten. Erst nach mehr als zwei Wochen konnten Sicherheitskräfte Saudi-Arabiens sie besiegen.
Der IS teilt nicht nur die Endzeiterwartung von Utaibi. Dessen Anhänger Abu Muhammad al-Maqdisi Maqdisi war auch Mentor des 2006 getöteten Terroristen Abu Musab al-Zarqawi Zarqawi, der wiederum vom IS als „Erneuerer des Glaubens“ betrachtet wird. Jeder der bisherigen „Dabiq“-Ausgaben ist als Motto Zarqawis Ausspruch vorangestellt: „Der Funke wurde hier im Irak entzündet, seine Hitze wird beständig zunehmen – mit Gottes Erlaubnis -, bis er die Armeen der Kreuzfahrer in Dabiq verbrennt.“ In eschatologischer Perspektive geht es immer ums Ganze; wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Und so führt der IS auch einen Vernichtungskampf gegen die Muslime, die sich nicht seinen Vorstellungen unterwerfen. Die Anwendung von Gewalt legitimiert er mit dem Vorwurf des Abfalls vom Islam (Apostasie), auf den im islamischen Recht die Todesstrafe steht. Der Tatbestand der Apostasie ist jedoch schwer festzustellen. Denn bereits die Definition des Islams durch die „Fünf Säulen“ (Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosensteuer, Fasten, Pilgerfahrt) ist ein Kompromiss, der im frühen Islam erst nach erbittertem Streit um die Gewichtung von Glauben und Werken formuliert wurde. Um den innerislamischen Frieden zu wahren, hat man sich meist darauf zurückgezogen, dass als Muslim gelte, wer sich selbst als solcher bezeichne und ansonsten dem äußeren Anschein Genüge leiste.
Der IS geht jedoch in der Praxis des Exkommunizierens von der Lehre der Wahhabiten aus und radikalisiert sie. Für deren Gründer, Ibn Abd al-Wahhab, hatte der Grundsatz von Gottes Einzigkeit (tauhid), weitreichende Folgen: Ein Muslim, der etwa am Grab eines Heiligen um Fürsprache bittet, bete dort zu jemand anderem als zu Gott; er verlasse somit den Islam, sei Apostat und müsse getötet werden. Unter al-Wahhabs Nachfolgern wurde dieser Ansatz so ausgeweitet, dass praktisch jeder Verstoß gegen den „tauhid“, bei dem sich Absicht unterstellen lässt, zum Ausschluss aus dem Islam führen kann. Was dabei als Verstoß gelten kann, ist weit gefasst: So wird der, der nicht betet, ebenso zum Apostaten wie der, der sich zur Demokratie bekennt. Legt man solche Maßstäbe an, sind die Muslime weltweit in der Mehrzahl in Wirklichkeit Polytheisten und können von den wahren Muslimen enteignet und getötet werden.
Das wahhabitische Establishment in Saudi Arabien bleibt stumm
Im September 2014 hat eine Gruppe prominenter Islamgelehrter in einem offenen Brief an Abu Bakr al-Baghdadi, den „Kalifen“ des IS, dessen religiöse Positionen in 24 Punkten kritisiert. Sie halten den IS-Theologen fehlerhaften Sprachgebrauch und methodische Mängel im Umgang mit Quellentexten vor. Die Tötung von Zivilisten, Versklavung von Frauen, Zerstörung von Heiligtümern und Schändung von Leichen werden als unentschuldbare Verbrechen bezeichnet. Der IS habe ein falsches Verständnis vom Dschihad; und zur Exkommunizierung erklären die Gelehrten bündig: „Es ist Grundlage im Islam, dass derjenige, der ‚Es gibt keinen Gott außer Gott, Muhammad ist der Gesandte Gottes‘ sagt, Muslim ist und nicht exkommuniziert werden darf.“
Autor
Matthias Radscheit
ist Islamwissenschaftler mit Schwerpunkt Koranforschung in Bonn und lehrt Hocharabisch sowie ostarabische Dialekte am Bundessprachenamt.Es ist ein Allgemeinplatz, dass es den einen Islam eigentlich gar nicht gebe. Wir haben es hier ganz offenbar mit zwei Ausprägungen zu tun, die sich in zentralen Punkten widersprechen. In der Frage der Islamzugehörigkeit des IS steht der Azhar-Islam vor einem Dilemma, das an das Paradoxon vom Barbier erinnert, der alle Männer des Ortes rasiert, die sich nicht selbst rasieren: Wenn es Grundlage des Islams ist, dass derjenige, der sich zum Islam bekennt, nicht exkommuniziert werden darf, wie tritt man dann einer Gruppierung entgegen, die sich als islamisch versteht, deren verbreitete Praxis aber pauschales Exkommunizieren ist? Der IS hat hier die einfachere Position. Er hält sich an die Weisheit von Groucho Marx: „Ich würde niemals einem Club beitreten, der bereit wäre, Leute wie mich aufzunehmen“ und exkommuniziert kurzerhand 99 Prozent aller Muslime weltweit.
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