Die Träume der „Illegalen“

Fabrizio Gatti
Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa
Verlag Antje Kunstmann, München 2010, 458 Seiten, 24,90 Euro

In deutschen Ausländerbehörden wird mit hohem Personal- und Finanzaufwand alles getan, um Flüchtlinge, Asylbewerber und Menschen ohne Papiere abzuschieben. Für die Angestellten dieser Behörden, aber auch für viele Politiker, sind das „Fälle“, „Illegale“ oder gar „Schmarotzer am deutschen Sozialstaat“. Der italienische Journalist Fabrizio Gatti gibt in seinem spannend geschriebenen Buch diesen „Illegalen“ ihr Gesicht zurück und identifiziert sie als eine neue soziale Schicht im Europa des 21. Jahrhunderts.

Gatti, Chefreporter bei der italienischen Wochenzeitung L’Espresso, bewegt sich unter dem Pseudonym Bilal im Flüchtlingsstrom von Dakar bis in die Sahara. Es gelingt ihm, die Schicksale der Migranten anschaulich zu machen, ihre Hoffnungen und Träume lebendig werden zu lassen. Auf einmal merkt der Leser, dass sie seinen Hoffnungen und Träumen ähneln. Bilal sieht und erlebt, wie die Flüchtlinge gedemütigt, bestohlen, ausgeraubt werden, wie Polizisten, Militärs, Beamte und Zöllner bestochen werden wollen und sie ausplündern. Aber er beschreibt sie auch als Helden, die für ihre Sehnsüchte einstehen, Schwierigkeiten meistern und trotz aller Hemmnisse immer weiter gehen.

Die Verstrickung Europas mit diesen Schicksalen wird an vielen Stellen deutlich, besonders, wenn der Flüchtlingsstrom auf die „Sklavenroute“ in der Sahara einbiegt. Wie in einem Krimi deckt hier Bilal auf, wie Zigaretten-, Kokain- und Waffenschmuggel verwoben sind mit illegaler Auswanderung und Prostitution. Das alles ist eingebettet in eine fast poetische Beschreibung der Wüste, deren Geruch und Licht man an vielen Stellen zu spüren glaubt. An der Grenze Libyens kehrt Gatti um. Er fliegt nach Nordafrika, um den Weg über das Mittelmeer zu nehmen. Es gelingt ihm zwar nicht, als Bootsflüchtling in Italien zu landen, doch er lernt in Nordafrika das Netzwerk der Menschenschleuser kennen. Welche Folgen die Aufwertung des Despoten Muammar al-Gaddhafi durch Italien und die Europäische Union hat, lässt sich an der gestiegenen Todesrate bei den Flüchtlingen ablesen. Zurück in Italien, lässt Bilal sich am Strand von Lampedusa aus dem Mittelmeer „retten“. Denn Journalisten, Menschenrechtsbeauftragte, Anwälte oder Abgeordnete des EU-Parlaments haben sonst keine Möglichkeit, in die Auffanglager zu gelangen und die Lage dort mit eigenen Augen zu sehen. Was Gatti hier erlebt, möchten wir eigentlich gar nicht so genau wissen: Rassismus bei Angestellten und der Polizei, Korruption und Verachtung der Menschenwürde, Beugung des Rechts und das alles im Europa der Aufklärung und der Menschenrechte. Empfehlen kann ich dieses Buch allen, die sich haupt- und ehrenamtlich in der Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit engagieren. Hier erfahren sie vieles sehr präzise, was sie schon immer vermutet haben. Und auch wenn es verrückt klingt: Ich empfehle es allen Wüstenfans. Fabrizio Gattis Beschreibungen aus der Sahara haben Stil und lassen die Bilder und Erinnerungen daran wieder hochkommen.  Gerd Riepe

 

erschienen in Ausgabe 4 / 2010: Globale Eliten - Von Reichtum und Einfluss
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