Wir waren sehr wohl gewarnt

Europäische Wissenschaftler haben schon vor Jahrzehnten festgestellt, wie verbreitet das Ebola-Virus in Westafrika ist. Doch diese Einsicht wurde unbeachtet in Fachgazetten begraben.

Das Ebola-Virus, das in Liberia, Sierra Leone und Guinea mindestens 10.000 Menschen getötet hat, hat es vor 2013 in Westafrika nicht gegeben – so lautet die landläufige Meinung der Gesundheitsbehörden. Als einzige Ausnahme gilt der sonderbare Fall in Côte d'Ivoire 1994, als ein Schweizer Primatenforscher sich bei der Autopsie eines Schimpansen mit Ebola infizierte.

Doch die verbreitete Meinung ist falsch. Wir waren fassungslos, als wir neulich über einen Artikel europäischer Forscher in der wissenschaftlichen Zeitschrift Annals of Virology stolperten: „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Liberia zu den Ebola-endemischen Gebieten gezählt werden muss.” Die Autoren des Artikels behaupteten weiter, künftig müsse sich „medizinisches Personal in liberianischen Gesundheitszentren bewusst sein, dass sie auf aktive Fälle stoßen könnten, und sich darauf vorbereiten, um eine nosokomiale Epidemie zu verhindern“ – das heißt eine Epidemie, die von Infektionen in Krankenhäusern ausgeht. Nicht die Worte selbst bestürzten uns, sondern das Datum: Der Artikel war von 1982.

Als Mitglieder eines Teams, das einen Erholungsplan für Liberia nach Ebola entwarf, sichteten wir systematisch die Literatur über Ebola-Kontrollen seit Entdeckung des Virus in Zentralafrika 1976. Wir erfuhren, dass die deutschen Virologen, die den Bericht geschrieben hatten, gefrorene Blutproben von 1978 und 1979 analysiert hatten. Die Proben stammten von 433 Liberianern. Bei 26 von ihnen, also bei sechs Prozent, fanden sie Antikörper gegen das Ebola-Virus. Drei andere Studien von 1986 dokumentierten, dass zwischen 10 und 14 Prozent Probanden in Nordwestliberia, nahe der Grenze zu Sierra Leone und Guinea, Antikörper gegen Ebola aufwiesen. Die Artikel nähren zusammen mit anderen vergessenen Berichten aus den 1980er Jahren zur Häufigkeit von Antikörpern in den Nachbarländern einen Verdacht: Es gibt möglicherweise andauernde Ebola-Infektionen bei Menschen, auch wenn die Krankheit nicht ausbricht – „Schutzgebiete“ für das Virus, wie manche es nennen.

Medizinische Kenntnisse wurden abgefischt

Im Gesundheitssektor gibt es ein Sprichwort: „Die Straße zur Untätigkeit ist mit wissenschaftlichen Studien gepflastert.”  Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dasselbe Labor, das vergangenes Jahr die ersten Ebola-Fälle in Guinea bestätigt hat, auch die Annals of Virology herausgibt. Dennoch steht im Bericht des Pasteur Instituts von April 2014: „Diese Subregion galt nicht als eine, in der Ebola endemisch ist.”

Keiner der frühen Artikel wurde gemeinsam mit liberianischen Wissenschaftlern verfasst, und das ist Teil des Problems. Forscher sammelten Proben, fuhren wieder nach Hause und veröffentlichten die verblüffenden Ergebnisse in europäischen Medizin-Zeitschriften. Aber nur wenige Liberianer wurden dann ausgebildet, das Virus oder Epidemien festzustellen. Selbst heute kostet es einen Arzt in Liberia 45 US-Dollar – ungefähr ein halbes Wochengehalt –, eines der Papiere herunterzuladen.

Das Ganze ist nicht ungewöhnlich. Wie der Zufall es will, arbeiteten die Menschen, die in der Studie von 1986 untersucht wurden, auf der weltgrößten Kautschukplantage. Damals deckte sie rund 40 Prozent des Latex-Bedarfs der USA. Während des jüngsten Ebola-Ausbruchs sahen wir im Umkreis der Kliniken im ländlichen Landkreis Margibi Gummibäume, soweit das Auge reichte. Doch die Kliniken waren geschlossen, nachdem der Nachschub an Latex-Handschuhen und anderer Schutzausrüstung ausgegangen war und Krankenschwestern gestorben waren. Die Art, wie man in diesem Teil Liberias entscheidendes medizinisches Wissens abgefischt hat, ist ein Spiegelbild der Art, wie der Westen den benötigten Kautschuk herausgezogen hat.

Es kam genauso, wie es deutsche Forscher vorausgesagt hatten

Die Bürgerkriege in Sierra Leone und Liberia erschwerten es, den Ausbruch der Krankheit zu bestätigen. Die Labore des öffentlichen Gesundheitswesens funktionierten in keinem der beiden Länder. Es vergingen Monate, bis Ebola als der Krankheitserreger identifiziert war. Das machte es für die wenigen Ärzte und Krankenpfleger in der Region unmöglich, für wirksame Hilfe zu sorgen.

In allen bisher bekannten Ebola-Epidemien wurde das Virus vor allem bei der Krankenpflege oder bei Begräbnissen übertragen – daher die Warnung der Studie von 1982 vor der Ansteckung in Krankenhäusern. Es kam genauso, wie die deutschen Forscher es vorausgesagt hatten: Liberias unterausgestattete Gesundheitseinrichtungen wurden zur Sollbruchstelle, an der Ebola in der Region ausbrach.

Soweit wir wissen, hat kein Regierungsbeamter, der jetzt in Liberias Gesundheitsministerium arbeitet, jemals von den Antikörper-Studien gehört. Genauso wenig wie die Führungskräfte in internationalen Organisationen, die den Kampf gegen Ebola so wacker unterstützen, einschließlich der UN-Agenturen und ausländischen Ärzte-Teams. Wen die Geschichte dieser Epidemie geschrieben wird, wird sie die unzähligen Stellen aufzeigen, an denen wir nicht vorbereit waren – von Guéckédou und Monrovia bis nach Genf und Dallas. Aber keiner von uns kann mit gutem Gewissen sagen, es hätte keine Warnung gegeben.

Ebola war schon da. Die personell und materiell unterversorgten Kliniken mussten einen großen Ausbruch befördern, statt ihn zu stoppen. Und zu ihren ersten Opfern gehörte Gesundheitspersonal. Hätten die alten Befunde der Virologen dazu geführt, dass man Liberianer langfristig ausbildete, um selbst zu forschen, Epidemien zu erkennen, sie zu stoppen und gute medizinische Versorgung bereitzustellen – das Ergebnis wäre anders ausgefallen.

Wir alle hatten Freunde und Mitarbeiter, die während der Epidemie erkrankten. Doch auch die Schicksale der Betroffenen spiegeln groteske Diskrepanzen. Von zehn mit Ebola infizierten Amerikanern wurden alle in Spezialkliniken mit exzellenter medizinischer Versorgung in die USA ausgeflogen. Neun haben sich erholt. Der zehnte Patient ist, so hoffen wir, auf dem Weg zur vollständigen Genesung. Dagegen sind alle elf Liberianer, die sich zu Beginn der letzten großen Übertragungswelle im städtischen Liberia angesteckt hatten, gestorben.

Die Lehre aus dieser schrecklichen Krise muss eine neue Architektur für die globalen Gesundheitssysteme sein. Sie muss sich auf den Aufbau lokaler Kräfte konzentrieren, um auf solche Krisen reagieren zu können. Gleichbehandlung muss ein Ziel sein für den Schutz vor Gefahren wie Ebola und für die Qualität der Hilfe, wenn die Vorsorge versagt. Nur dann können wir im internationalen Gesundheits-Einsatz das Plantagen-Modell hinter uns lassen und uns auf die Wissenschaft stützen, die diesem Einsatz zugrunde liegen muss.

Bernice Dahn und Vera Mussah arbeiten beim liberianischen Gesundheitsministerium. Cameron Nutt ist Ebola-Berater bei der Non-Profit-Gruppe Partners in Health.

Aus dem Englischen von Hanna Pütz. Das Original ist im April in der New York Times erschienen; © New York Times.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2015: Indien: Großmacht im Wartestand
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