Palmengesäumte Strände, azurblaues Meer und hochsommerliche Temperaturen auch im Winter – das Urlaubsparadies Goa im Südwesten Indiens ist bei Reisenden aus Europa und Nordamerika sehr beliebt. Doch nur 50 Kilometer vom Strand entfernt, in den ehemals dicht bewaldeten Western-Ghats-Bergen, findet ein Raubbau an der Natur in gewaltigem Ausmaß statt. Mit schweren Maschinen werden dort Löcher in den immergrünen Dschungel gerissen. Lastwagen transportieren die rotbraune Erde zur Küste, wo Eisenerz daraus gewonnen wird. Mit dem Export von Eisenerz nach China verdient Goa fast ebenso viel Geld wie mit dem Tourismus. Doch das fordert einen hohen Preis.
Den haben zum Beispiel die Einwohner des Dorfes Cauverim gezahlt: „Bevor die Minen in unser Dorf kamen, waren wir selbstständig und konnten vom Hirse- und Reisanbau und vom Fischfang gut leben“, sagt Ravindra Velip. Vor etwa zehn Jahren rollten die Bagger an und wühlten die Erde auf, bald waren in dem Dorf und seiner Umgebung drei Eisenerz-Bergwerke entstanden. „Zuerst hatten wir keine Ahnung, was der Bergbau bedeutet“, gesteht Velip. „Aber als unsere Wälder verwüstet wurden und die Bäche austrockneten, wachten wir auf.“ Das ganze Dorf habe sich zusammengetan und am Ende mit Straßenblockaden die Schließung der Minen erzwungen.
Indien will wachsen. Premierminister Narendra Modi hat jüngst bei der Eröffnung der Industriemesse in Hannover ein Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent versprochen und deutsche und internationale Firmen aufgefordert, in seinem Land zu investieren. Doch Indien braucht nicht nur ausländisches Kapital und technisches Know-how, um die Vision der Regierung Wirklichkeit werden zu lassen. Die Wirtschaft benötigt auch einheimische Naturressourcen wie Land, Wasser, Energie. Und die sind selbst in einem Riesenland wie Indien nicht unbegrenzt verfügbar. Bevor etwa ein neues Bergwerk geöffnet wird, müssen Bauern ihre Reisfelder aufgeben, Hügel abgetragen und Wälder gerodet werden.
Jede neue Fabrik benötigt Bauland, muss mit Energie und Brauchwasser versorgt werden. Indien muss auf knapp 2,5 Prozent der Landfläche der Erde rund 17 Prozent der Weltbevölkerung ernähren. Da bleibt kaum ein Fleckchen Land ungenutzt. Die Folge: Wo große Mengen Land oder Wasser für ein neues Industrieprojekt benötigt und staatlich „akquiriert“ werden, brechen soziale Konflikte aus. Einer der Brennpunkte ist der etwa 1400 Kilometer lange und bis zu 2700 Meter hohe Gebirgszug der Western Ghats, der sich über fünf Unionsstaaten entlang der indischen Westküste von Nord nach Süd erstreckt. In seinen bereits stark zerschnittenen Wäldern entspringen die Flüsse, die das gesamte südliche Indien bewässern.
Der Dschungel der Western Ghats gilt als einer der artenreichsten Lebensräume der Erde. In entlegenen Regionen halten sich Tiger und Leoparden auf, wilde Elefanten streunen in großen Herden durch den Wald. Die grüne Wildnis beherbergt außerdem wilde Verwandte vieler Kulturpflanzen: Mango, Brotfrucht, Ingwer, Kardamom zum Beispiel. Sie ist die ursprüngliche Heimat der Pfefferranke, die eine herausragende Rolle in der Geschichte Keralas spielt. Denn der profitable Handel mit Pfeffer lockte im Mittelalter portugiesische Seefahrer an die indische Westküste und läutete das Zeitalter des Kolonialismus in Asien ein.
Tourismus ohne Rücksicht auf Naturschutzgebiete
Die Western Ghats gelten als einer von weltweit 18 Hotspots der Artenvielfalt, wie der Ökologie-Professor Madhav Gadgil erklärt. Und er warnt: Die Zerstörung der Natur durch Infrastrukturprojekte, Bergwerke und Industrieansiedlungen nehme bereits bedrohliche Ausmaße an. Die Bergkette liegt im Einzugsbereich mehrerer Millionenstädte, unter anderem von Mumbai mit rund 20 Millionen Einwohnern. Viele der smog- und lärmgeplagten Stadtmenschen suchen in der Bergen Erholung. Neue Siedlungen und Touristenresorts entstehen in bislang kaum erschlossenen Waldregionen. Die Regierung unterstützt diesen Trend und plant neue Straßen und Eisenbahnverbindungen, die teilweise durch Naturschutzgebiete führen.
Mitten in der Wildnis entstehen Städte vom Reißbrett mit allen Annehmlichkeiten, die die Moderne zu bieten hat: Geschäfte, Hotels, Kinos, Krankenhäuser und Schulen, Mobilfunk und Internet. Lavasa heißt solch eine Retortenstadt, zwischen Mumbai und Pune gelegen. Mayuri Phadnis, eine Lokalreporterin bei der Tageszeitung „Pune Mirror“, hat sie sich angesehen: „Alle Häuser sehen ähnlich aus, sind nach demselben Plan gebaut. Sie haben die Landschaft planiert und einen künstlichen See für Wassersport angelegt. Große Firmen bauen jetzt dort ihre Fortbildungsstätten, es entstehen Fünf-Sterne-Hotels, sogar ein Sportstadion ist geplant.“
Der Bau von Straßen und Stromleitungen, von Staudämmen und Siedlungen stelle einen massiven Eingriff in die Umwelt dar, meint Mayuri Phadnis. Die Zeche zahle die alteingesessene Bevölkerung: „Die Bauherren kauften den Dorfbewohnern ihr Land für wenig Geld ab und versprachen ihnen Arbeitsplätze in der neuen Stadt. Sie wurden kurzerhand umgesiedelt und merken jetzt, dass es in ihrem neuen Dorf zu wenig Wasser gibt. Die Versprechen auf Arbeitsplätze haben sich als Augenwischerei erwiesen.“ Für die Investoren hingegen hat sich der Bau von Lavasa offenbar gelohnt. Mayuri Phadnis kennt Pläne, laut denen an weiteren Orten ähnliche Luxussiedlungen angelegt werden sollen.
Die Nähe zur Meeresküste verlockt Unternehmer und Regierungen, am Fuße der Berge Kraftwerke und Industrieparks anzulegen. Südlich von Mumbai soll nahe dem Fischerdorf Jaitapur das größte Atomkraftwerk der Welt entstehen. Alle größeren Flüsse, die in den Western Ghats ihre Quellen haben, werden noch im Gebirge aufgestaut, um Wasser für die Landwirtschaft und Strom für Städte und Industrie zu gewinnen. In Kerala und Karnataka fielen riesige Gebiete tropischen Regenwaldes der Plantagenwirtschaft zum Opfer, die hier Tee und Kaffee, Naturkautschuk und Gewürze produziert.
Der Ayurveda-Arzt fürchtet um seine Kräuter
Sorgen um den Fortbestand der artenreichen Wälder macht sich auch Ashok Wali. Der 50-Jährige betreibt in der Stadt Kolhapur eine ayurvedische Heilpraxis. Viele Kräutermedikamente stellt er selbst her. „Ich nutze 60 bis 70 Heilkräuter. Der Ayurveda kennt etwa 3600 Heilpflanzen, davon kommen etwa 1200 in den Western-Ghats-Bergen vor“, erzählt Wali. Doch nun werden die Kräuter knapp, die Bestände schrumpfen in beängstigendem Tempo, wie Wali sagt. Mit dem Bau neuer Straßen gelangen immer mehr Menschen in bislang unberührte Gebiete und richten Schaden an.
„Sogenannte Öko-Touristen zertrampeln die Wälder. Bodenspekulanten kaufen große Ländereien, um sie als Erholungsgebiete zu vermarkten“, beschwert sich Wali. Die Forstbeamten, die eigentlich den Wald und die Kräuterbestände schützen sollten, verfügten nicht über das nötige Fachwissen, um bedrohte Pflanzenarten zu identifizieren. Der Professor für Pflanzenheilkunde blickt düster in die Zukunft: „Mit den Wäldern wird auch die jahrtausendealte Heilkunde des Ayurveda untergehen.“
Die Einwohner von Cauverim in Goa hingegen haben erfolgreich gegen die Zerstörung ihrer Umgebung gekämpft. 2012 stellte das oberste Gericht des Landes zahlreiche Gesetzesverstöße und Korruptionsaffären fest und verfügte zunächst die Schließung aller Bergwerke im Staat Goa. Die Flüsse wurden wieder sauber, die Fischbestände erholten sich. Im April 2014 hoben die hohen Richter den Produktionsstopp zwar wieder auf, erließen jedoch strenge Umweltauflagen für den Minenbetrieb. Wie lange die Bagger noch schweigen, weiß niemand. Die mächtige Lobby der Bergbaufirmen, unterstützt von führenden Politikern, arbeitet hinter den Kulissen fieberhaft an einer Wiederaufnahme des Bergbaus. Es gehe schließlich um zahlreiche Arbeitsplätze, wird argumentiert.
Schon kurz nach der Jahrtausendwende machten Umweltschützer auf die alarmierende Zerstörung der Western Ghats aufmerksam. Vielerorts demonstrierten Dorfgemeinschaften gegen geplante Kraftwerke, Eisenerzminen und Staudämme. Das Umweltministerium in Neu-Delhi beauftragte ein Expertenteam unter Leitung von Madhav Gadgil mit einer ökologischen Bestandsaufnahme des gesamten Gebirgszuges. Die Experten legten im August 2011 einen mehr als 500 Seiten starken Bericht vor und schlugen vor, um besonders wichtige Naturreservate Pufferzonen einzurichten, in denen die Industrietätigkeit stark eingeschränkt würde. Dann müssten beispielsweise viele der Eisenerzminen in Goa den Betrieb einstellen.
„Die Anwohner werden einer Gehirnwäsche unterzogen“
Der Bericht rief Proteste einflussreicher Interessengruppen hervor und verschwand rasch in den Schubladen des Ministeriums. Bürgergruppen veröffentlichten das Dokument jedoch im Internet und machen sich jetzt dafür stark, die Empfehlungen umzusetzen. In den betroffenen Unionsstaaten werden Schutz und Nutzung der Berglandschaft heftig debattiert. Das Umweltministerium in Neu-Delhi setzte ein weiteres Gremium unter der Leitung des ehemaligen Chefs der indischen Raumfahrtbehörde K. Kasturirangan ein, dessen Bericht die Empfehlungen seines Vorgängers Madhav Gadgil relativiert und verwässert.
Doch die Debatten und Proteste gehen weiter, denn die Bemühungen um den Schutz der Western Ghats treten nun in eine entscheidende Phase: Im Juni sollen die fünf Unionsstaaten, durch die sich der Gebirgszug zieht, Pläne zur Ausweisung von Schutzgebieten vorlegen. Bei der Markierung sogenannter „ökologisch sensibler Zonen“ müssten laut beiden Expertenberichten die Bewohner der Dörfer ein Mitspracherecht genießen. Das sei jedoch vielerorts noch nicht der Fall, sagt die Umweltschützerin Saili Palande-Datar, die in den Bergdörfern des Staates Maharashtra arbeitet.
Autor
Rainer Hörig
war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig und dann Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“. Rainer Hörig ist im Mai 2024 verstorben.Für viele Dorfbewohner, die meist keine oder nur wenig Schulbildung besitzen, sind die komplizierten Sachverhalte nur schwer zu durchschauen. Saili Palande-Datar hat jedoch erfahren, dass sie den Schutz der Bergwildnis befürworten, solange ihnen dadurch keine Nachteile entstehen. Die Zukunft der Western Ghats hängt davon ab, ob sich Bewohner und Regierungen auf eine nachhaltige Nutzung der Naturschätze einigen können.
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