Kamel mit vier Rädern

Seit dem Debakel der US-Marines in der somalischen Hauptstadt Mogadischu 1993 haben umgebaute und bewaffnete Pick-ups überragende Bedeutung in afrikanischen Kleinkriegen. Auch die Tuareg in Mali haben bei ihren Kämpfen mit der Regierung seit den 1990er Jahren diese so genannten „Technicals“ eingesetzt. Es handelt sich dabei um eine moderne Version des historischen Streitwagens, der im 2. vorchristlichen Jahrtausend erfunden wurde.

Dessen Grundlage war der relativ plumpe Ochsenkarren mit Scheibenrädern. Er wurde weiterentwickelt zu größerer Leichtigkeit, so dass ab circa 1700 vor Christus eine Holzrahmenkonstruktion mit geflochtener Lederplattform und abnehmbaren Rädern zur Verfügung stand, die weniger als 30 Kilogramm wog. Der historische Streitwagen war als Jagd-, Kampf- oder Prunkwagen etwa tausend Jahre in Gebrauch. Im Krieg diente er entweder als Schlachtentaxi oder als mobile Kampfplattform. Die Tuareg-Rebellen in Mali nutzten für ihre moderne Version des Streitwagens bevorzugt modifizierte Modelle des Toyota Pick-up – denselben Typ, der ab Beginn der 1980er Jahre zum Fahrzeug der saharischen Schmuggler geworden war und dessen Eigenschaften und Mechanik sie genau kannten. Diese Pick-ups erreichen Geschwindigkeiten von 150 Stundenkilometer oder mehr. Schon die Schmuggler hatten die japanische Ingenieurskunst verbessert und an die Gegebenheiten in der Sahara angepasst. So hatten sie zum Beispiel die Reichweite der Wagen mittels Zusatztanks auf bis zu 3000 Kilometer gesteigert. Zu Beginn der Rebellion in Mali sahen die Streitwagen der Rebellen ziemlich genau wie Schmugglerfahrzeuge aus;  die Waren schienen einfach durch Bewaffnete und ihre Ausrüstung ersetzt worden zu sein. Sowohl für die Schmuggler als auch für die Rebellen ist die Möglichkeit hoher Zuladung ohne Beeinträchtigung der Fahreigenschaften wichtig. Dazu wurden die Federung und die Dämpfung verbessert. Eine einfache Möglichkeit, gebrochene Federn zu reparieren, besteht darin, den Federblock mit einem in Streifen geschnittenen Reifenschlauch zu umwickeln, so dass man auch mit gebrochenen Federn bedenkenlos fahren kann.

Autor

Georg Klute

ist emeritierter Professor für Sozialanthropologie und Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth und Vorstandsvorsitzender des Vereins TAMAT, der Projekte zur Selbsthilfe in der Sahelzone unterstützt.

Bei Fahrten im Gelände sind Reifenpannen häufig. Deshalb werden Schlauchreifen benutzt, die sich einfacher als schlauchlose flicken lassen. Auch die Motoren wurden verbessert: Bis die japanischen Ingenieure auf die Idee kamen, den Ansaugstutzen des Luftfilters außerhalb des Motorraums zu führen, filterten die Tuareg die angesaugte Luft mit einem Stück Turban. Und die originalen Dieselfilter, die durch Partikel in schlechtem Treibstoff verstopfen können, wurden durch größere Filter aus LKW ersetzt. In der offenen Wüste sind Fahrzeuge auf große Entfernungen wahrnehmbar. Schmuggler und Rebellen bevorzugen deshalb Tarnanstriche, um Umrisse mit der Umgebung verschwimmen zu lassen. Besonders verräterisch sind Lichtreflexe, die man häufig bemerkt, bevor die Konturen eines Fahrzeugs sichtbar werden. Daher werden blinkende Teile abgebaut und die Lackierung und die Scheiben mit Sand geschliffen und stumpf gemacht. Zur Tarnung gehört auch der Blick für das Gelände. Man muss sehen können, wo der Boden abfällt oder Wellen bildet, hinter denen man ein Fahrzeug verbergen kann.

Schließlich fallen die Kompetenzen des Fahrers bei Fahrten im Gelände noch schwerer ins Gewicht als sonst – schon deshalb, weil es in der Wüste keine Werkstätten gibt. Mechanische Kenntnisse, Orientierungssinn und die Fähigkeit, sich in der Natur einzurichten, entstammen zum einen aus dem nomadischen Hintergrund der Tuareg, zum anderen aus Schmuggelfahrten. Ähnlich wie bei Tierspuren werden auch Reifenspuren gelesen. Der Kenner kann Zeitpunkt, Zahl, Typ, Richtung oder Ladung vorbeigefahrener Fahrzeuge erlesen. Für die Tuareg protokolliert der Boden gewissermaßen die Bewegungen von Fahrzeugen der vergangenen Tage. Ja, sie können sogar bekannte von unbekannten und befreundete von feindlichen Wagen unterscheiden.

Das zweite Element des Tuareg-Streitwagens ist die Waffentechnik. In der Regel wird ein Wagen mit zwölf bewaffneten Männern besetzt, die mit einem Maschinengewehr, einer Panzerfaust und mit Sturmgewehren bestückt sind. Drei Kombattanten sitzen in der Kabine, die übrigen auf der Ladefläche. Das Maschinengewehr ragt über das Kabinendach; sein Fuß wird in ein am Karosserierahmen angeschweißtes Rohr gesteckt. Die „Erfindung“ des Tuareg-Streitwagens basierte nicht auf einer technischen Blaupause. Vielmehr wurde der Wagen nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ im Laufe der Zeit immer wieder erneuert und verändert. Der moderne Streitwagen ist eine Erfindung von unten – geschaffen von anonymen Bastlern.

Die malische Armee hingegen hat lange nur industriell gefertigte Militärfahrzeuge genutzt. Doch in den 1990er Jahren wandelte die Regierung die Tuareg-Erfindung „von unten“ in eine Erfindung „von oben“. Vier Jahre nach Beginn der Auseinandersetzungen setzte sich auch bei der Armee die Idee des Streitwagens durch und sie kaufte 70 zivile Pick-ups, um sie entsprechend umzurüsten. Zugleich bemühte sie sich um Standardisierung und einheitliche Form: Die Armee-Streitwagen sollen einander gleichen. Sie werden zu Objekten, die von allen Soldaten in gleicher Weise bedient werden können. Was für Fahrzeuge gilt, gilt auch für die Fahrer: Diese werden so ausgebildet, dass sie jedes einzelne Fahrzeug des gleichen Typs in immer gleicher Weise beherrschen. Die Ausbildung zielt darauf, aus Soldaten Quasi-Maschinen zu machen, die mit anderen Maschinen umgehen.

Die Tuareg gehen völlig anders mit ihren Streitwagen um: Bei ihnen werden die Wagen nicht objektiviert, sondern individualisiert. Die Streitwagen sind nicht einfach ein Mittel zum Zweck der Kriegführung, sondern Fahrer und Wagen interagieren miteinander. Viele Tuareg etwa taufen ihre Fahrzeuge mit Namen, die einen Bezug zum Besitzer aufweisen. Fahrzeuge gleichen Typs haben unterschiedliche Eigenschaften, denen man Rechnung trägt: „Mein Wagen mag nicht, wenn ich dies und das tue.“ „Gestern hat sich mein Wagen geweigert, dies und das zu tun.“ Es scheint, als hätten die Tuareg den interaktiven Umgang mit Reittieren auf ihre Fahrzeuge übertragen. Dem entspricht, dass einige Autos wie bestimmte Reittiere wegen ihrer sagenhaften Leistung zu regionaler Berühmtheit gelangen. Dem entspricht auch, dass bei Tieren und bei Fahrzeugen die gleichen magischen Mittel angewandt werden.

Bei der jüngeren Generation der Tuareg jedenfalls steht immer weniger das Kamel und immer mehr der Pick-up im Zentrum des Denkens. In einer nomadischen Kultur, die Mobilität bislang mit dem Kamel assoziiert und dieses Tier in ihrer Literatur ästhetisierend besungen hat, wird dieser Wechsel dadurch befördert, dass Kamel und Pick-up austauschbar scheinen: Beide sind wüstentauglich, haben eine große Reichweite, dienen als Transport- und Kriegsmittel und können bei einem Raub schnell weggeführt, einfach verkauft und gut für neue Handels- oder Kriegsunternehmungen genutzt werden.

Tier und Fahrzeug sind aber nicht nur in Bezug auf ihre Funktionen austauschbar. Bei Tuareg-Festen umkreisen Pick-ups zuweilen in der gleichen Art wie Kamele die Gruppe der Frauen oder „tanzen“ zu moderner Gitarrenmusik. Das belegt, wie flexibel sich Kultur technische Veränderungen anzueignen vermag.

 

erschienen in Ausgabe 3 / 2010: Mobilität - Die täglichen Wege

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