Ethik hat kein Verfallsdatum

Unternehmen, die im internationalen Geschäftsverkehr ethisch verantwortlich handeln wollen, brauchen entsprechend sensibilisierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese müssen über Gesetze und Verbote informiert werden, sie müssen aber auch darin geschult werden, was ethisch geboten ist. Eine Chance für die Zivilgesellschaft.

Ich schulde ihm eine Million für seine freiwilligen Dienste, scherzte mein Mitgründer einer Stiftung für wirkungsorientiertes Management. Das einzige, was wir verhandeln müssten, sei das Valutadatum, also das Datum, an dem der Betrag fällig werde. Und die Währung, fügte ich bei. Wir mussten uns nie einigen: Unsere jahrzehntelange Zusammenarbeit in oft schwierigsten Situationen hat ein grundtiefes Vertrauen und gegenseitige Solidarität geschaffen.

Dem Valutadatum verwandt ist das Verfallsdatum. Das gibt es nicht nur bei Lebensmitteln. So ist etwa das Verfallsdatum einer Geschäftspraxis seit mehr als einem Jahrzehnt abgelaufen, die ich Ende der 1980er Jahre bei renommierten Buchhaltungsprofessoren gelernt habe: nämlich dass auf der linken Seite der Buchhaltung alle geschäftsrelevanten Aufwände inklusive Bestechungsgelder im Ausland aufgeführt werden können. Ende der 1990er Jahre nahmen die OECD-Mitglieder die Konvention gegen Bestechung von ausländischen Amtsträgern im internationalen Geschäftsverkehr an. Die Mitgliedstaaten wurden verpflichtet, die Konvention in der nationalen Gesetzgebung zu verankern.

Autor

Patrick Renz

ist seit April Direktor des Hilfswerks Fastenopfer in Luzern.
Ethik kennt weder Valuta- noch Verfallsdaten. Im Gegenteil: Ethisch zu handeln heißt oft, Spannungen über eine längere Zeit auszuhalten, Handlungsoptionen abzuwägen und nicht einfach davonzulaufen. In der Unternehmensethik bietet die Unterscheidung von Compliance und Integrität Hilfe. Compliance-Programme haben zum Ziel, von außen vorgegebene Standards und Gesetze einzuhalten. Sie gehen davon aus, dass der Mensch von materiellen Interessen motiviert wird; das Ziel solcher Programme ist es, das Verhalten von Mitarbeitenden durch Schulung, Einschränkung der Handlungsspielräume, Kontrollen und Strafen zu beeinflussen. Integritätsprogramme zielen hingegen auf die moralische Selbststeuerung der Mitarbeitenden. Sie sollen befähigt werden, ethisch reflektiert zu handeln.

Es braucht beides: Compliance-Programme, etwa um innerbetrieblich über gesetzliche Regelungen aufzuklären und diese durchzusetzen, und Integritätsprogramme, um die moralische Kompetenz der Mitarbeitenden in Dilemma-Situationen zu fördern.

Gerade in großen, multinationalen Unternehmen ist Förderung von Integrität nicht leicht. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir: Erstens, je größer die geographische und kulturelle Distanz vom Mutterhaus zu dessen Niederlassungen, desto größer ist die Gefahr von sogenannten Governance-Gaps: Gemeint ist, dass Steuerungsvorgaben aus der Zentrale unten in den Niederlassungen nicht umgesetzt oder umgekehrt dass  lokale Besonderheiten oben in der Zentrale nicht reflektiert werden. Zweitens, ein Großteil der Führungskräfte nennt „Vertrauen haben“ als wichtigstes Kriterium in der Führung von Niederlassungen.

Letztere erfreuliche Aussage hat zugleich etwas Fatalistisches: „Ich kann gar nicht anders, als nur Vertrauen haben.“ Das bedeutet: Unternehmen sind gefordert, ihre gesellschaftliche Verantwortung über Compliance hinaus wahrzunehmen, indem sie die Integritätskompetenz der Mitarbeitenden stärken. Compliance oder Integrität? Die Unterscheidung  lässt auch erkennen, welche Organisationen gesellschaftliche Verantwortung wirklich ernst nehmen und welche bloße Konformität zu ihrem ethischen Ziel machen und damit ihre Verantwortung so klein wie möglich halten. Vorsichtig zuversichtlich stimmt mich die Erfahrung als langjähriger Ausbilder von Führungspersonal: Bei vielen Führungsleuten auf mittlerer Ebene habe ich ein sehr kritisches, ethisch ringendes Bewusstsein entdeckt, auch gegenüber den Praktiken der eigenen Arbeitgeber.

Uns als Zivilgesellschaft ist damit die Möglichkeit gegeben, neue „Spielvarianten“ im Austausch mit dem Privatsektor auszuarbeiten, etwa die mittlere Managementebene als Eingangstür hin zu verantwortlicherem Handeln anzusprechen. Oder denen, die Korruption für unvermeidlich halten, mit dem Argument zu begegnen, dass das früher oder später hart bestraft werden wird. Von ethisch handelnden Unternehmen – von der Zentrale bis zur Niederlassung – profitiert nicht nur die Zivilgesellschaft; auch die Unternehmen selbst werden effizienter.

Neue Gedanken, bereits verfallene oder liegt ihr Wert erst in der Zukunft? Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen ein verantwortungsvolles Jahr 2015!

 

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erschienen in Ausgabe 2 / 2015: Wohnen: Alle ab ins Hochhaus?
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