Die Illusion vom Eigenheim

Viele Regierungen in Lateinamerika fördern das Wohneigentum. Das freut die Mittelschicht, bringt den Armen aber wenig. Die Politik muss einsehen, dass sie die Wohnungsnot nicht einfach so lösen kann.

Mehr als 50 Millionen Familien leben in Lateinamerika in Behausungen, die aus unstabilem Material zusammengestückelt oder nicht an die Infrastruktur angeschlossen sind. Ärmliche Wohnverhältnisse waren auf dem Land schon immer ein Problem. Und die Abwanderung in die Städte hat dort die ausgedehnten Favelas, Barriadas und Colonias Clandestinas hervorgebracht, über die so häufig berichtet wird.

In den vergangenen Jahren haben viele Regierungen versucht, hier Abhilfe zu schaffen. Doch den meisten Programmen war kein großer Erfolg beschieden. Ob öffentliche Wohnungen gebaut wurden, Investitionen in Immobilien subventioniert, Elendsviertel saniert oder den Bewohnern Eigentumsrechte zugestanden – unterschiedliche Ansätze haben die Lage meist nur geringfügig verbessert. Der einzige Fortschritt in der gesamten Region ist, dass jetzt sehr viel mehr Häuser als zuvor an die Strom- und Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen sind.

Seit Jahren verspricht jede lateinamerikanische Regierung, sie wolle das Wohneigentum fördern; in Kolumbien war das erklärte Ziel gar eine „Nation von Hausbesitzern“. Wenn ich zuständige Beamte in der Region fragte, warum ihre Regierung keine Mietwohnungspolitik hatte, erklärten sie stets, der Wunsch nach einem Eigenheim sei in der lateinamerikanischen Kultur tief verwurzelt. Das stimmt ziemlich sicher nicht – nicht mehr als in England, bevor dort eine Regierung nach der anderen den Wunsch nach Wohnbesitz stimulierte. 1918 wohnten rund 90 Prozent aller Familien in Großbritannien zur Miete und noch 1970 mehr als die Hälfte. Doch übertrieben großzügige Darlehensangebote, die unzureichende Besteuerung von Immobiliengeschäften und die Vernachlässigung von Mietwohnungen heizten das Interesse an, Wohnungen zu kaufen.

Die Regierungen Lateinamerikas verfolgen jetzt dieselbe falsche Strategie. Vielen Familien bringt Wohneigentum nichts und sie würden gern zur Miete wohnen. Menschen ohne festen Job, Studenten, neu Zugezogene und frisch Getrennte oder Geschiedene brauchen befristete Unterkünfte. Familien ohne Kinder mögen lieber da wohnen, wo sie arbeiten, als in einer Vorstadtsiedlung ohne Infrastruktur.

In Lateinamerika können sich Mittelschichtsfamilien in der Regel mit Hilfe eines Darlehens ein Heim kaufen. Aber weniger Begüterte können das nicht, weil reguläre Häuser zu viel kosten und wenige Banken bereit sind, ihnen ein Darlehen zu gewähren. Lange Zeit versuchten die Regierungen dieses Problem mit sozialem Wohnungsbau zu lösen. Das hat nicht viel geholfen, weil mit den vorhandenen Mitteln nicht einmal ein Bruchteil der benötigten Wohnungen gebaut werden konnte.

Die Regierung Pinochet in Chile ging anders vor: Um dem Sozialismus den Boden zu entziehen, das Baugewerbe zu fördern und die ärmere Bevölkerung unterzubringen, führte das Ministerium für Bauwesen 1977 Kapitalzuschüsse ein. Die Planung und der Bau aller Sozialwohnungen wurde dem privaten Baugewerbe überlassen. Um die Nachfrage zu stimulieren, sollten diejenigen armen Familien subventioniert werden, die sich selbst zu helfen versuchten – das heißt, die eigene Ersparnisse ansammelten. Je länger sie gespart hatten und je höher ihre Rücklagen waren, desto eher konnten sie auf einen Zuschuss hoffen. Weil dieser plus die Ersparnisse nicht die gesamten Baukosten deckten, sollten zusätzlich Darlehen aufgenommen werden.

Dieses sogenannte ABC-Modell – von Ahorro (Ersparnisse), Bono (Zuschüsse), Credito (Darlehen) – übernahmen viele lateinamerikanische Länder in modifizierter Form. Das System war einleuchtend: Mit ihren Sparanstrengungen mussten sich die Familien der Zuschüsse würdig erweisen, dank derer sie ein Haus kaufen konnten. Dank der Kredite musste der Staat pro Wohneinheit weniger zuschießen, und mehr Familien konnten berücksichtigt werden.

Doch leider lag hier ein entscheidender Fehler: Die meisten Familien waren zu arm, um genügend sparen zu können, und ihr Einkommen war zu gering, als dass die Banken ihnen ein Darlehen gewährt hätten. Manche Regierungen erhöhten deshalb für Arme die Zuschüsse stark, und einige stellen den Ärmsten jetzt Wohnraum kostenlos zur Verfügung. In Venezuela sorgte Hugo Chávez dafür, dass die Opfer von Naturkatastrophen Wohnungen bekamen, für die sie zunächst gar nichts zahlen mussten – auch keine Miete. Und 2012 gab die kolumbianische Regierung bekannt, sie werde pro Jahr für 100.000 Familien kostenlose Wohnungen bereitstellen. Diese Politik war natürlich sehr populär: Die erste Begünstigte kniete weinend vor dem Bauminister nieder und dankte Gott für ihre neue Unterkunft.

Wenn man Häuser kostenlos verteilt, macht man sich beliebt und schafft Arbeitsplätze im Baugewerbe. Doch die Nutznießer bleiben so arm wie zuvor. Oft haben sie Probleme, Steuern und Dienstleistungen zu bezahlen, ganz zu schweigen von der Instandhaltung ihrer Wohnungen. Es gibt Hinweise darauf, dass Arme öfter krank werden, nachdem sie in regulären Wohnungen untergebracht wurden: Sie müssen mehr für die Miete oder die Abzahlung ihres Darlehens ausgeben und behalten für Lebensmittel und für die medizinische Versorgung weniger übrig. Wenn man Wohnungen scheinbar umsonst anbietet, ist dies der Knackpunkt: Die Ursache des Problems ist die Armut, und an der ändert sich nichts.

In jedem Fall ist der Mangel an Wohnraum zu groß, als dass er durch kostenlose Wohnungen wesentlich gelindert werden könnte. In Kolumbien sind rund 1,2 Millionen Familien ohne angemessene Unterkünfte. Selbst wenn die Nachfrage konstant bliebe, würde es zwölf Jahre dauern, den Mangel zu beheben. Doch alljährlich suchen zusätzlich 300.000 Haushalte eine Wohnung, weil immer mehr Menschen in den Städten Arbeit suchen und die Veränderung der Lebensgewohnheiten es mit sich bringt, dass viele allein leben wollen. Hierzu trägt auch die Zunahme an Scheidungen und Trennungen bei.###Seite2###

In einer idealen Welt müssten die Armen ihre Behausungen nicht selbst errichten, wie es so viele in Lateinamerika tun. In einem Verschlag zu leben, bis das Haus fertig ist, und jahrelang auf reguläre Infrastruktur und leicht erreichbare Schulen, medizinische Einrichtungen und Verkehrsmittel zu verzichten, ist schlimm genug. Noch dramatischer wird es in einer Umgebung, in der man ständig von Stürmen, Erdbeben und Überschwemmungen bedroht ist. Und doch haben zahllose Lateinamerikaner mangels besserer Alternativen genau das geschafft und sind zum Erstaunen Vieler gut zurechtgekommen. In den meisten Städten haben sie solide gemauerte Häuser mit mindestens zwei Stockwerken errichtet. Die nachträglich sanierten Siedlungen an den Hängen von Bogotá, Caracas und Rio de Janeiro zeugen von dem Fleiß und der Eigeninitiative ihrer Erbauer.

Diese Leistung haben die meisten lateinamerikanischen Regierungen in der Vergangenheit nicht anerkannt. Vor allem die autoritären Regime in Argentinien, Brasilien und Chile versuchten, Siedler zu vertreiben. Inzwischen haben die meisten Regierungen widerstrebend eingesehen, dass es besser ist, solche Siedlungen zu sanieren und nur die zu räumen, die an besonders gefährdeten Orten errichtet wurden. Deshalb wurde in die Infrastruktur und in verbesserte Dienstleistungen investiert. In Bogotá und Medellín hat fast jeder Zugang zu Strom, Wasser und Kanalisation, und auch in den meisten kleineren kolumbianischen Städten verbessert sich die Situation zusehends.

Die nachträgliche Sanierung ist wie ein Wundpflaster, während die Lateinamerikaner eigentlich weniger Wunden brauchen. Leider haben zu wenige Regierungen begriffen, dass aus notdürftigen Behausungen reguläre Häuser werden können und das Bauen in Eigenregie eine zwangsläufige Folge der Armut in den Städten ist. Sie sollten die weitere Zunahme der spontanen Ansiedlungen in die Planung aufnehmen.

Dabei müssen sie erstens illegale Landbesetzungen verhindern, vor allem dort, wo Gefahren für Wohnsiedlungen drohen, wo die Infrastruktur zu kostspielig wäre oder wo bereits eine öffentliche Nutzung vorgesehen ist. Zweitens sollten sie alternative Standorte für spontane Besiedlung anbieten. Sie müssen noch nicht komplett erschlossen sein, sollten aber die Voraussetzung bieten, um alle Infrastruktur-Dienste nachträglich kostengünstig aufzubauen. Dann könnten arme Familien ordentliche Unterkünfte billiger und schneller errichten als bisher, vor allem wenn man ihnen technische Beratung und Kleinkredite zur Verfügung stellt und die Kosten des Baumaterials niedrig gehalten werden.

Die Regierungen armer Länder können die Wohnungsnot nicht beheben, weil die Armut insgesamt zu groß ist. Überdies verwenden die lateinamerikanischen Regierungen einen zu kleinen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für die Schaffung von Wohnraum; in den Jahren 2008 und 2009 gaben nur Brasilien und Nicaragua mehr als zwei Prozent davon für den sozialen Wohnungsbau aus.

Das wird üblicherweise mit dem Mangel an Geld begründet. Das überzeugt nicht ganz, weil die meisten lateinamerikanischen Länder wenig Steuern eintreiben und es beträchtliche Spielräume für ein höheres Steueraufkommen gibt. Steuern auf Wertzuwächse und Kapitaleinkommen könnten die öffentlichen Kassen füllen, werden aber selten erhoben. Zum Beispiel erklärte mir der damalige Bürgermeister von Quito, dass die Grundsteuer im Jahr 2011 im Schnitt nur 25 US-Dollar pro Haushalt eingebracht habe. Es liegt auf der Hand: Die Landflucht macht Immobilienbesitzer reich, und zu wenig von ihren Kapitalgewinnen wird besteuert. Wenn die Regierungen wirklich mehr in den sozialen Wohnungsbau investieren wollten, hätten sie die Möglichkeit dazu.

Viele glauben, der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto habe die Lösung für die Probleme der Wohnungsnot und sogar der Arbeitslosigkeit und des Entwicklungsrückstands in Lateinamerika gefunden. In seinem 2000 erschienenen Buch „Freiheit für das Kapital“ erklärt er, dass die Armen in der Lage sind zu sparen. Aber ihre Werte seien juristisch schlecht abgesichert: „Ihre Häuser stehen auf Grundstücken, für die sie keinen Besitzanspruch nachweisen können, ihre Unternehmen sind nicht registriert und die Haftung ist nicht geklärt, ihre Produktionsstätten bleiben für Geldgeber und Investoren unsichtbar.“ Weil ihr Besitz nicht adäquat dokumentiert sei, könnten sie ihn nicht leicht zu Kapital machen und produktiv einsetzen. Laut de Soto belief sich das tote Kapital, über das die Armen in zwölf lateinamerikanischen Ländern verfügen, auf satte 1,2 Billionen US-Dollar.

Er hält es für die wichtigste Aufgabe der Regierungen, den informellen Sektor auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Wenn die Häuser in den spontan errichteten Siedlungen im Grundbuch eingetragen wären, könnten sie gekauft und verkauft werden und ihre Eigentümer könnten Bankkredite aufnehmen. Doch obwohl Eigentumsnachweise manchmal die Lage der Armen verbessern können, ist de Soto zu optimistisch. Besitztitel können die Wohnungssituation in der Dritten Welt nicht grundsätzlich verändern, denn es gibt ganz einfach zu viele sehr arme Familien, die sich keine regulären Wohnungen leisten können und klug genug sind, keine großen Kredite aufzunehmen. Wo bittere Armut herrscht, hilft es den Hausbesitzern wenig, wenn ihr Eigentum legalisiert wird, und den Millionen von Mietern nützt es gar nichts.

Autor

Alan Gilbert

ist emeritierter Professor für Geografie am University College London und Experte für Stadtentwicklung in Lateinamerika.
Dass in armen Ländern mit hoher sozialer Ungleichheit die Wohnungsnot beseitigt werden könnte, ist eine völlig verfehlte Vorstellung. Mit vernünftigen Maßnahmen können Regierungen die Lage verbessern helfen, aber populistische Versprechen, den Mangel an Wohnraum zu beenden, sind illusorisch. Genau dies behaupten aber viele lateinamerikanische Regierungen: Schon bald werden alle in schönen Häusern wohnen, die ihnen gehören!

Es ist an der Zeit, dass die Regierungen mutiger und ehrlicher werden. Sie müssen die Immobilienspekulation erschweren und die Gewinne aus Grund- und Wohneigentum höher besteuern. Mit den höheren Einnahmen könnten mehr informelle Siedlungen an die Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen werden. Doch die Regierungen sollten zugeben, dass der Mangel an Wohnraum in Lateinamerika und mehr noch in Afrika und großen Teilen Asiens ein unüberwindbares Problem darstellt. Sie sollten nicht länger vorgeben, dass ihre Programme – auch wenn manche durchaus Anerkennung verdienen – mehr erreichen können, als die Wohnungsnot und den informellen Siedlungsbau in Grenzen zu halten.

In Wirklichkeit brauchen die Armen Lebensmittel und medizinische Versorgung dringender als hochwertige Wohnungen. Die ganz Armen sind für ihr Überleben sogar auf einfachste Unterkünfte angewiesen, die nicht viel kosten. Gibt es die nicht, dann werden sie entweder obdachlos, oder sie drängen sich in hoher Zahl in den preiswertesten Wohnungen zusammen. Manchmal steht die Verbesserung der Wohnqualität im Widerspruch zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen. Slums zu beseitigen hilft nicht gegen die Armut. Doch die Armut zu lindern, wird mit ziemlicher Sicherheit auch die Wohnungssituation der Armen verbessern.

 

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erschienen in Ausgabe 2 / 2015: Wohnen: Alle ab ins Hochhaus?
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