Die Provinzstadt Iganga liegt im Osten Ugandas. Dort haben sich in einem Innenhof mehr als hundert Menschen zusammengefunden. Sie sitzen eng zusammengepfercht auf weißen Plastikstühlen, und wer zu spät gekommen ist, muss mit einem Stehplatz an der Mauer vorlieb nehmen. Es sind Männer und Frauen, Alte und Junge; manche sind modisch gekleidet, andere weniger. Etwa die Hälfte trägt einen goldenen Anstecker in Gestalt eines Löwen.
Ein Mann von Ende dreißig schwingt sich auf die Bühne. Doktor Julius, wie er sich nennt, schreitet gravitätisch auf und ab. „Tianshi!“ ruft er plötzlich, und prompt ertönt aus hundert Kehlen die Antwort: „Wir alle!“ Sie hallt von den Betonmauern zurück, und Julius ruft ein zweites Mal: „Tianshi!“, jetzt schon etwas lauter, und donnernd ertönt die Antwort: „Träumen denselben Traum!“ Nun brüllt er ein drittes: „Tianshi!“, und die Menge kreischt: „Den schönsten von allen!“
Autor
James Wan
ist Chefredakteur des Onlineportals Think Africa Press.Da gibt es eine Zahncreme, die sich auch als Hautcreme fürs Gesicht eignet, heilkräftige Slipeinlagen, eine Halskette, die vor radioaktiver Strahlung schützt, und vieles andere mehr. Zwischen Julius’ Lobeshymnen auf die Produkte wird immer wieder rhythmisch geklatscht, vor allem, wenn die Begeisterung bei den Zuhörern nachzulassen scheint – denn alleine das Klatschen, so legt Julius die chinesische Medizin aus, rege den Körper an.
Schließlich überlässt er die Bühne dem jüngeren und charismatischen Wasswa Zziwa Edrisa, „Doktor Wasswa“ genannt. Auf ihn haben die Zuhörer gewartet – denn er weiht sie jetzt in das Geschäftsgeheimnis von Tianshi ein. Und so spitzen sie die Ohren, als Wasswa von seinem Aufstieg erzählt. Früher sei auch er einer von ihnen gewesen, sagt er. Heute nimmt er jeden Monat Tausende von Dollar ein, im Auftrag der Firma bereist er viele Länder, und er fährt einen nagelneuen Dienstwagen. Das, erklärt er, könnten sie auch. Und zwar mit Hilfe von drei Buchstaben, die er auf einen großen Bogen Papier schreibt, der hinter ihm an der Mauer hängt: MLM. Mit bedeutungsvoller Miene sagt Wasswa: „Das hier bedeutet Multi-Level Marketing. So funktioniert Tianshi.“
MLM – auch als Direktvertrieb oder Network Marketing bekannt – ist eine Vermarktungsstrategie, nach der die Mitarbeiter nicht nur Geld verdienen, indem sie selbst Waren verkaufen, sondern auch durch die Verkäufe der von ihnen rekrutierten Vertreter, der sogenannten „Mitglieder“. Bekannte Beispiele für dieses Geschäftsmodell sind Avon, Amway und Herbalife, die Ernährungs- und Kosmetikprodukte vertreiben. Man wirft ihnen vor, dass sie als ausbeuterische Pyramidensysteme funktionieren, bei denen sich einige wenige Leute an der Spitze auf Kosten der Vertreter an der Basis bereichern. In den vergangen Jahren sind solche Unternehmen in Afrika immer häufiger tätig geworden.
Sechs Millionen US-Dollar setzt TIENS jährlich in Uganda um
Oft werden Direktvertriebsunternehmen in der Hoffnung auf schnelles Geld von Afrikanern selbst gegründet. Doch auch viele multinationale MLM-Konzerne machen auf dem Kontinent Geschäfte, und neben den amerikanischen Firmen Forever Living und GNLD gehört Tianshi offenbar zu den größten.
Die chinesische Firma – auch unter dem Namen TIENS bekannt – ist ein multinationales Unternehmen, das von der über 15.000 Kilometer entfernten chinesischen Metropole Tianjin aus operiert. Sie wurde 1995 von Li Jinyuan gegründet, der inzwischen Milliardär ist. Die Firma hat Zweigunternehmen in 110 Ländern, darunter 16 in Afrika. Sie beschäftigt weltweit mehr als 10.000 Menschen und erzielt angeblich jedes Jahr Nettogewinne im Umfang von mehreren hundert Millionen US-Dollar.
2003 kam TIENS nach Uganda und hat sich dort immer stärker ausgebreitet. Inzwischen gibt es im ganzen Land etwa 30 Läden, die TIENS-Vertreter betreiben regelmäßig Werbekampagnen, mit denen sie die ländlichen Gemeinden erreichen wollen. Laut Kibuuka Mazinga Ambrose, dem Vorstandsvorsitzenden von TIENS-Uganda, werden hier jedes Jahr etwa sechs Millionen US-Dollar umgesetzt. Die Firma hat sich sogar in die publikumswirksame Werbefläche auf dem Kalender des Gesundheitsministeriums eingekauft – ein besonders dreistes Manöver, denn keiner der Läden ist als Einrichtung des Gesundheitswesens registriert.###Seite2###
Auf der Webseite von Tianshi erfährt man, dass mehr als 200.000 Ugander „Mitglieder“ sind und die Produkte vertreiben – demnach gibt es in Uganda mehr Tianshi-Vertreter als Lehrer an öffentlichen Schulen. Wasswa behauptet, dass darunter auch zehn Parlamentsabgeordnete seien. Der ugandische Vizepräsident Edward Ssekandi nahm offiziell an einer Tianshi-Veranstaltung teil und traf sich mit chinesischen Managern der Firma.
Angesichts der hohen Arbeitslosenquote in Uganda – laut Schätzungen sind vier von fünf Jugendliche ohne Job – ist es leicht nachzuvollziehen, dass viele gern Tianshi-Vertreter werden wollen. Anständige Jobs werden kaum angeboten und Erfolgsgeschichten wie die von Wasswa Zziwa Edrisa sind noch viel seltener. Außerdem sind die Versprechungen der Tianshi-Werber sehr verführerisch. „Wenn man eine gewisse Stufe erreicht, fängt man an Gewinne zu machen“, versichert Wasswa seinen Zuhörern und erklärt ihnen, dass die Firma Geldprämien und Autos verteilt, wenn man in die höheren Ränge der internen Verkäuferhierarchie aufsteigt. Und dass man auf Kosten der Firma in andere Länder fliegen darf.
Doktor Wasswa verspricht ein Ende aller Geldsorgen
„Es macht gar nichts, wenn man keine Vorkenntnisse und keine Abschlüsse hat“, erklärt er weiter. „TIENS interessiert sich nicht für eure Ausbildung, sondern nur dafür, wie viele Produkte ihr kauft und wie viele neue Mitglieder ihr rekrutiert.“ Deshalb bedeutet die Mitarbeit bei TIENS „das Ende aller Geldsorgen“, denn „das Verlustrisiko ist gering“, und „wenn man fünf Jahre dabei war, kann man sich zur Ruhe setzen“ – so steht es in der Informationsbroschüre der Firma.
Die Mitgliederwerbung in den TIENS-Seminaren scheint gut anzukommen. Doch Karrieren wie die von Wasswa Zziwa Edrisa, der aus einer Bauernfamilie stammt, als Dorfschullehrer angefangen hat und jetzt ein nobler Großverdiener geworden ist, sind die große Ausnahme. In Wirklichkeit scheint es eher normal zu sein, dass man auf seinen Unkosten sitzen bleibt. In der Firmenzentrale von Tianshi-Uganda in Kampala können die Mitglieder ihre betriebsinternen Konten ausdrucken, und viele verlassen das Gebäude mit Tabellen in der Hand, aus denen hervorgeht, dass sie kaum etwas eingenommen haben. Auch in Iganga müssen selbst besonders überzeugte Fans der Firma zugeben, dass sie große Mühe hatten, überhaupt Verdienste zu erzielen.
Ein 30-jähriger Mann namens Robert erzählt, dass er vor sechs Monaten Mitglied wurde. Seitdem hat er an allen 14-tägigen Sitzungen teilgenommen und Produkte im Wert von 180 Dollar gekauft. Dank dieser Käufe ist er in die dritte von acht Rangstufen aufgestiegen. Außerdem ist es ihm gelungen, neun neue Mitglieder anzuwerben. Dennoch hat er selbst bisher kaum Geld verdient. „Meine Bilanz ist noch nicht gut“, sagt er. Anderen Tianshi-Vertretern, von denen viele keinen anderen Job haben, erging es ebenso. Viele scheinen wieder abzuspringen, wenn sie merken, dass das System bei ihnen nicht funktioniert.
Hochrangige festangestellte Mitarbeiter, für die sich ihre Tätigkeit auszahlt, und andere Tianshi-Vertreter, bei denen das nicht der Fall ist, sehen den Grund für Misserfolge in mangelnder Anstrengung. Die 25-jährige Sarah muss auf die Frage, woran es ihrer Meinung nach liegt, dass sie nach fünfmonatiger Mitgliedschaft noch nichts verdient hat, erst einmal überlegen. Da antwortet Robert bereits für sie: „Der Grund ist, dass sie zu wenig Leistung bringt“ – obwohl er selbst nicht viel besser dasteht.
Nach dem Seminar frage ich Wasswa, wie lange man braucht, um aus der Verlustzone herauszukommen. Drei Männer, die bereits seit Monaten als Tianshi-Vertreter arbeiten, ohne nennenswerten Einkünfte zu erzielen, hören interessiert zu. „Manchmal dauert es einen Monat, gelegentlich auch zwei“, antwortet er. Ich frage weiter: „Was ist, wenn jemand sein Bestes tut, aber nach sechs Monaten immer noch kein Plus macht?“ „Nach sechs Monaten?“, ruft Wasswa. „Nein, das ist eine Ausnahme. Das kommt sehr selten vor. Wenn jemand ernsthaft rangeht, sollte er nach sechs Monaten eine hohe Rangstufe erreicht haben und gut verdienen.“ Die drei Männer schauen verlegen zu Boden. Sie scheinen sich zu schämen.###Seite3###
In Wirklichkeit liegt es offenbar nicht nur an den einzelnen Mitgliedern, wenn sie bei Tianshi keinen Erfolg haben. Zwar behaupten die Anwerber, man brauche als Voraussetzung nicht mehr als die 20 US-Dollar, die für die Mitgliedschaft fällig werden. Aber das ist nur der erste Schritt. Um in die höheren Ränge aufzusteigen, muss man Produkte kaufen. Theoretisch lässt sich durch den Verkauf Geld verdienen. Aber dabei konkurriert man nicht nur mit all den anderen Direktverkäufern, sondern auch mit den 30 erfolgreichen Tianshi-Filialen im ganzen Land. Außerdem lohnt es sich für potenzielle Kunden nicht, den Vertretern Waren abzunehmen. Sie können genauso gut selbst TIENS-Mitglieder werden– dann bekommen sie die Produkte nämlich billiger.
Wasswa und andere Anwerber gehen möglicherweise deshalb nur am Rande auf den Verkauf von Produkten ein. Stattdessen betonen sie, dass die Vertreterinnen und Vertreter ein umfangreiches „Netzwerk knüpfen“ müssen. Die Rekrutierung neuer Mitglieder zahlt sich besser aus als der Verkauf der Produkte, und in den Fortbildungskursen lernen die Neulinge vor allem etwas darüber, wie sie weitere Frauen und Männer anwerben. Im Handbuch mit praktischen Anleitungen für die Mitglieder liegt der Schwerpunkt auf einem Sechs-Punkte-Plan, der einem „in möglichst kurzer Zeit zu einer Liste von mindestens hundert Namen“ verhelfen soll.
Die Mitglieder bezahlen die teuren Autos der Chefs
Doch wenn die Einnahmen bei Tianshi nicht in erster Linie aus dem Verkauf der Produkte stammen, können sie nur von den Mitgliedern kommen: Sie müssen bezahlen, um aufgenommen zu werden, um in höhere Ränge aufzusteigen und um ihre Konten offen zu halten. Wenn dies zutrifft, speisen sich die enormen Gehälter an der Spitze der Pyramide aus den Beiträgen der Mitglieder an der Basis, die für die schicken neuen Autos und die Geschäftsreisen rund um die Welt aufkommen müssen. Dass eine kleine Elite im Unterschied zur Mehrheit der Mitglieder viel Geld verdient, liegt nicht daran, dass diese Leute mehr arbeiten oder mehr Glück haben, sondern einfach daran, dass die übrigen 200.000 Mitglieder in Uganda leer ausgehen.
Ich habe Wasswa, Jamba George (einen weiteren Spitzenmanager, der jede Woche Seminare abhält) und Kibuuka Mazinga Ambrose, den Vorstandsvorsitzenden von TIENS-Uganda, mehrfach gefragt, was sie von dieser Analyse des Geschäftsmodells ihrer Firma halten. Keiner wollte einen Kommentar abgeben. Trotz wiederholter Aufforderungen waren weder der chinesische Manager von TIENS-Uganda noch die Firmenzentrale in Tianjin zu einer Stellungnahme bereit.
In dem Innenhof in Iganga, in dem das Seminar stattgefunden hat, erzählt Robert derweil von seinen fünf Kindern. Es trifft sich gut, sagt er, dass zwei davon noch nicht zur Schule gehen, denn das Schulgeld für die anderen drei aufzubringen, ist schon schwierig genug. Robert hat keinen regulären Job, und als er vor einem halben Jahr Tianshi-Vertreter wurde, hoffte er, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Doch jetzt steckt er noch tiefer in den Schulden als zuvor.
„Mit dem Geld habe ich Probleme”, sagt er. „Neue Mitglieder zu werben ist nicht einfach, und ich brauche jede Woche fünf Dollar, um zu den Seminaren anzureisen.“ Ich frage ihn, warum er immer noch dabei ist, obwohl er ständig draufzahlt. Er überlegt kurz, bevor er antwortet: „Ich glaube, dass ich bald so weit bin, meine Konten bei Tianshi auszugleichen. Und demnächst kann ich in eine höhere Stufe aufsteigen, in der ich mehr verdienen kann.“ Dass dieser Aufstieg sich verzögert hat, erklärt er, liege an einem organisatorischen Missverständnis. Das würde aber geklärt.
Doch selbst wenn er aufsteigt und ein bisschen mehr verdient, wird er nur einen Bruchteil von dem einnehmen, was er bereits investiert hat, gebe ich zu bedenken. Darauf nickt er zustimmend, versichert mir jedoch mit der Andeutung eines Lächelns: „Aber bei TIENS arbeitet die Zeit für uns.“ „Und wenn es auf die Dauer trotzdem nicht funktioniert?“, insistiere ich. Was, wenn Wasswa eine Ausnahme ist? Was, wenn es nie klappt? Robert schaut mir kurz in die Augen und dann in den Hof, in dem noch ein paar Seminarteilnehmer herumstehen und plaudern. „Wenn ich es mit dem Geld nicht auf die Reihe kriege“, sagt er leise, „dann verschwinde ich.“
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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