Die Kuh bleibt heilig

Fleischkonsum in Indien:
Manche Inder sterben lieber, als einem Tier etwas zuleide zu tun oder es gar zu verspeisen. Andere essen möglichst viel Fleisch, als gelte es, etwas aufzuholen.

Die vegetarische Kultur hat in Indien eine lange Tradition. Drei Religionen, die in Indien ihren Ursprung haben, kennen starke Bezüge zur fleisch-, fisch- und eierlosen Ernährung: der Hinduismus, der Buddhismus und der Jainismus. Der Verzicht auf getötete Tiere in der täglichen Kost wird nicht wie vorwiegend im modernen Vegetarismus mit der Gesundheit und der Ökologie begründet, sondern geht auf Konzepte der Gewaltlosigkeit (ahimsa) zurück. Der Hinduismus und der Buddhismus predigen keineswegs einheitlich das Nichttöten von Tieren, doch schreiben  zahlenmäßig starke Gruppen in beiden Religionen, etwa der Vishnuismus des Hinduismus, eine strenge vegetarische Kost vor. Der Jainismus, der heute eine kleine religiöse Minderheit darstellt, die vor allem im westlichen Bundesstaat Gujarat angesiedelt ist, vertritt auf extreme Weise das Nichttöten von Tieren als zentrale Glaubenspraxis. Selbst tierische Schädlinge dürfen nicht vernichtet werden. In letzter Konsequenz ist der Jainismus eine religiöse Praxis, die ohne Abstufung und Differenzierung dem Leben einen so hohen Wert zumisst, dass sie zur Verneinung des eigenen Lebens führt. Ihre glühenden Vertreter ziehen ihren eigenen Hungertod der Vernichtung von kleinsten Lebewesen vor.

Im Weltvergleich ist der Fleischkonsum in Indien denkbar gering. Laut den Zahlen der Welternährungsorganisation FAO für 2009 verbraucht ein US-Amerikaner durchschnittlich 120 Kilogramm Fleisch im Jahr (gerechnet aufs ganze Tier), ein Inder dagegen nicht mehr als 4,4 Kilo. Zum Vergleich: In Nicaragua und den Philippinen, Länder mit ähnlichem Pro-Kopf-Einkommen wie Indien, liegt der Verbrauch im Schnitt bei 25,3 beziehungsweise 33,6 Kilo Fleisch pro Kopf im Jahr; in Deutschland sind es 88 Kilo. Die Tendenz ist jedoch auch in Indien deutlich steigend.

Die Traditionen des Vegetarismus im Hinduismus haben viel damit zu tun, wie die Menschen die Welt und ihren Platz darin erfahren. Im Hinduismus gelten alle Lebewesen als beseelt; sie existieren in einer Hierarchie der Beseelung, in der alle Lebewesen aktiv zur kosmischen Wohlfahrt beitragen. Dieses Gefühl der kosmischen Solidarität ist unter frommen Hindus bis heute ausgeprägt. Aus dieser Glaubenshaltung heraus konnte die Tradition des Vegetarismus entstehen. In der christlich geprägten abendländischen Kultur dagegen sind die Menschen die Beherrscher der Schöpfung und machen sie sich „untertan“.  

Auch bestimmte Gemüsesorten sind verboten

Der Hinduismus ist in seiner täglichen Praxis von Riten und symbolischen Werten geprägt. Das gilt auch in Bezug auf Nahrung: Idealerweise soll davon zuerst der Gottheit in einer „Puja“, einem rituellem Gottesdienst, geopfert werden. Doch gibt es Unterschiede in der „Reinheit“ der Speisen: Reis, Früchte und viele Arten Gemüse gelten als „rein“ oder „satvisch“, weil sie leicht bekömmlich, kaum gewürzt und natürlich sind. Ihnen wird nachgesagt, dass sie die positiven und geistigen Kräfte des Menschen anregen. Mönche, fromme Hindus, Asketen und vor allem die Vishnuiten ziehen es vor, nur satvische Speisen zu essen. Fleisch gehört nicht dazu.

„Schwere“ Speisen, die entweder „feurig“ oder „träge“ machen, sollten vermieden werden. Dazu gehört Fleisch, wobei dunkles Fleisch, etwa Schweinefleisch, noch unerwünschter ist als helles wie Hühnerfleisch. Zu den verbotenen Gemüsesorten gehören jene, die unter der Erde wachsen wie Kartoffeln, Karotten und vor allem Zwiebeln und Knoblauch. Was in der dunklen Erde wächst, wird mit geistiger und körperlicher Trägheit assoziiert; Zwiebeln und Knoblauch wird eine „feurige“ Qualität zugeschrieben, die Menschen angeblich reizt und zum Zorn verleitet. Alle, die nicht den Zölibat leben, sowie asketisch oder vishnuitisch ungebundene Menschen können außer Kalbfleisch jede Fleischart und Fisch essen, auch jegliches Gemüse. Sie werden aber in der Hierarchie der religiösen Werte nicht so hoch geachtet wie jene, die sich streng des Fleischs enthalten.

Dies sind einige Faustregeln, wie Nahrungsmittel in den geistig-religiösen Kosmos eingeordnet werden. Es gibt jedoch viele Ausnahmen und Differenzierungen. Vor allem bestehen regionale Unterschiede: Südindische Hindus sind überwiegend Vegetarier und rühren kein Fleisch an. Dagegen essen Hindus in Bengalen im Osten des Landes oft Fisch, auch wenn sie sich als Vegetarier bezeichnen. Und Hindus im nordindischen Panjab verzichten ungern auf Fleisch.

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Obere Kasten beachten tendenziell die Reinheitsbestimmungen strenger  als niedere Kasten, verzichten also eher als diese auf Fleisch. Die arme Landbevölkerung isst schon deshalb kein oder wenig Fleisch, weil sie es sich nicht leisten kann, während die städtische Mittelklasse, immerhin zwischen 300 und 400 Millionen Menschen, zu jeder Mahlzeit ein Stück Fleisch oder Fisch verzehrt. Fleischkonsum gehört zum Statussymbol, besonders gegenüber Gästen oder Verwandten. Ihre Wertschätzung kommt darin zum Ausdruck, wie viel und welches Fleisch der Gastgeber ihnen vorsetzt.

So sehr aus religiösen Gründen der Fleischverzehr verachtet wird, gehören paradoxerweise Tieropfer bis heute zur weitverbreiteten Praxis bestimmter Hindugruppen. Einigen Gottheiten dürfen Tiere – Ziegen, Lämmer, Hühner, Büffel – rituell geopfert werden. Dazu zählt  vor allem die Göttin Kali, deren Kult im ganzen Land verbreitet ist, vor allem in West-Bengalen. Die Tiere werden öffentlich in den Tempeln geschlachtet, ihre Körper vor die Statue oder das Bild Kalis gebracht, dann wird ihr  Fleisch von denen, die die Tiere gebracht haben, im Tempel oder zu Hause verzehrt. Ein kleiner Teil bleibt den Priestern vorbehalten. An besonderen Kali-Feiertagen schlachten die Priester Hunderte von Ziegen. Die Logik ist offenbar, dass die Tiere zu Ehren der Gottheit geopfert werden dürfen – denn sie „verlangt nach Opfern“ – und ihr Konsum eine heilige Handlung ist.

Eine solche Opfermentalität ist vor allem im einfachen Volk unvermindert populär. Der intellektuelle Hinduismus hingegen kritisiert Tieropfer hart, auch in der Literatur und im Theater. Viele gebildete Hindus verabscheuen es, Tempel von Gottheiten zu besuchen, in denen Tieropfer dargebracht werden. Sie ziehen Tempel von  Gottheiten vor, denen nur Blumen oder Süßigkeiten wohlgefällig sind.

Viele Stämme kennen überhaupt kein Fleischtabu

Eine Sonderstellung beim Fleischkonsum der Inder nimmt die Kuh ein. Sogar Menschen, die wenig über Indien wissen, sind sich bewusst, dass es dort „heilige Kühe“ gibt, die nicht geschlachtet und nicht verspeist werden dürfen. Warum gerade Kühe? Das Tabu hat keine unmittelbare Beziehung zum Gesetz der Gewaltlosigkeit, sondern steht im Zusammenhang mit den symbolischen Werten, die im Hinduismus eine starke Bedeutung haben. Viele Dinge der Natur sind „geheiligt“, haben als Symbol eine über ihren „materiellen Wert“ erhobene Bedeutung. Dazu zählen Hügel, Berge, Flüsse und bestimmte Bäume, die Gottheiten zugeordnet sind. Zum Beispiel soll man Bücher nicht mit Füßen treten, weil sie ein Symbol von Saraswati, der Göttin der Gelehrsamkeit, sind. Ähnlich ist die Kuh ein Symbol von Fruchtbarkeit und materieller Fülle geworden. Jede Kuh ist ein Abbild der „göttlichen Kuh“ Kamadhenu und darf darum nicht getötet werden. Es ist belegt, dass in der urhinduistischen Zeit durchaus Rinder zum Verzehr geschlachtet wurden – die Vorstellung von der Heiligkeit der Kuh hat sich also erst langsam entwickelt.

Autor

Martin Kämpchen

lebt seit 40 Jahren als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in Indien und setzt sich für den deutsch-indischen Kulturdialog ein. Zuletzt erschien sein Buch „Leben ohne Armut“ (Freiburg 2011).
Bei den zahlreichen indischen Stämmen, die acht Prozent der Bevölkerung ausmachen, sowie bei den Muslimen (elf Prozent) und den Christen (2,6 Prozent) ist Rindfleisch nicht tabu. Muslime verzehren stattdessen kein Schweinefleisch. Allerdings geschieht es häufig, dass diese Minderheiten kein Rindfleisch essen, wenn sie in Gegenden wohnen, die von Hindus dominiert sind. Damit erfüllen sie keine religiöse Regel, sondern passen sich der Mehrheit an, um kein Aufsehen und keinen Ärger zu provozieren. Viele Stämme kennen überhaupt kein Fleischtabu: Bei ihnen kommen auch  Ratten, Vögel und Schlangen auf den Tisch.

In der städtischen Mittelschicht werden aus religiösen Tabus wie dem Rindfleischkonsum häufig gesellschaftliche Konventionen. Diese stark säkularisierte Mittelschicht ist jedoch nicht so tief verwestlicht, dass sie den Vegetarismus aus gesundheitlichen und ökologischen Gründen annähme. Im Gegenteil: Ihr Hang zum materiellen Wohlergehen, ja zum hedonistischen Verhalten, verleitet sie dazu, mehr Fleisch zu essen – als müsse sie Jahrzehnte relativer Armut aufholen.

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Mit Interesse habe ich die Berichte zum Fleischkonsum gelesen. Beim Artikel „Die Kuh bleibt heilig“, bin ich an dem Foto der Opferzeremonie auf S. 25 hängen geblieben. Es hat mich irritiert, dass die Frau, die die Obstschale hält, unter ihrem Sari keine Bluse trägt.
Ich bin Mitglied im Verein „Partnerschaft in der Einen Welt – Hilfe zur Selbsthilfe e.V.“ und habe mich an Gespräche mit unserer indischen Partnerorganisation „CARDS“ über die Geschichte und die Situation der Dalits erinnert. Die Probleme der Dalit-Frauen sind dabei oft ein Thema.
Früher durften Dalit-Frauen keine Bluse unter dem Sari tragen. Das war eine der vielen Demütigungen unter denen die Dalits zu leiden hatten. Die Frauen wurden damit als unanständig gebrandmarkt. Dalit-Frauen mussten jederzeit zur Verfügung stehen und in ihrem unzulänglich bekleideten Zustand die Augen der höherkastigen Männer erfreuen. Dabei blieb es oft nicht. Belästigungen, Übergriffe und Vergewaltigungen waren in schockierendem Umfang eine Selbstverständlichkeit, die hingenommen werden musste. Die sog. „Unberührbarkeit“ spielte in dem Bereich keine Rolle mehr.
Polizei und Behörden versagten jegliche Unterstützung. Eine Möglichkeit, sich gegen solche Angriffe zu wehren gab es somit nicht. Hoffentlich ändert sich das jetzt gerade - auch für Dalit-Frauen. Gut, dass es heute zur Sprache kommt und nicht mehr so leicht unter den Tisch gekehrt wird, sondern als Verbrechen geahndet wird.
Den Dalits als sog. „Unberührbare“ wurde und wird der Zugang zu den Hindu-Tempeln und den Zeremonien der Höherkastigen verwehrt, Dalits haben ihre eigenen Tempel. Aber bei bestimmten Zeremonien müssen Dalits im Tempel bei verschiedenen Aufgaben dienen, Frauen z.B. als Devadasis. Unter dem Deckmantel der Religion werden schon kleine Mädchen aus dieser „Kaste“ an Tempel verkauft und sexualisierter Gewalt ausgesetzt.
Nur einmal, vor einigen Jahren, habe ich bei meinen Besuchen in Indien, in einem abgelegenen, kleinen Dorf eine alte Frau gesehen, die keine Bluse getragen hat. Heute sieht man das sonst nicht mehr. Deshalb war ich schockiert, auf einem Foto, das doch wohl noch nicht so alt ist, eine Frau ohne Bluse zu sehen.
Ein solches Foto sollte man nicht unkommentiert drucken. Dalit-Frauen für solche „Dienste“ in entwürdigender Kleidung abzubilden, ist die Darstellung einer Verletzung der Menschenrechte. Es ist eine Schande, wenn Frauen sich so in der Öffentlichkeit zeigen müssen. Keine indische, höherkastige Frau würde sich freiwillig so in der Öffentlichkeit zeigen. Für uns erscheint dieser Anblick auf dem schön bunten Foto zwar in keiner Weise negativ, aber nur weil wir die Hintergründe nicht verstehen und gerade auch deshalb sollte man es thematisieren. Es ist im Übrigen nur ein Mosaikstein zum Stellenwert der Dalits, besonders der Dalit-Frauen in der indischen Gesellschaft.
Trotz vieler Benachteiligungen, denen die Dalits ausgesetzt sind, gibt es Verbesserungen, durch zahlreiche Regierungsprogramme und Projekte verschiedener NGOs, die sich für Bildung und Menschenrechte der Dalits einsetzen, wie z.B. die Colleges und die über 4.000 Nachhilfeschulen von CARDS: www.hzsh-cards.de, www.bala-bata.de.
Margit Nitsche
Partnerschaft in der Einen Welt - Hilfe zur Selbsthilfe e.V.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2013: Unser täglich Fleisch
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