Ecuadors Verfassung räumt der Natur Rechte ein, sie stärkt die indigenen Kulturen und will eine nachhaltige Entwicklung fördern. Was ist daran zu kritisieren?
Es stimmt, die ecuadorianische Verfassung gilt als eine der fortschrittlichsten weltweit. Aber sie wird nicht immer in unserem Sinne angewendet. So haben wir zum Beispiel das Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung, wenn auf unserem Land Erdöl gefördert wird. Aber das findet oft nicht statt. Unsere Sprachen sind zwar offiziell anerkannt, werden aber weder im Fernsehen noch in den Printmedien verwendet. Und wo hört das Recht der Natur auf, wo fängt das Recht des Menschen an? Wenn ich jagen gehe, darf ich das Tier töten oder muss ich um Erlaubnis bitten? Darüber streiten sich die Juristen.
Aber das Konzept des „guten Lebens“ ist doch eine gute Basis für ein harmonisches Zusammenleben und den achtsamen Umgang mit der Natur?
Der Begriff „Sumak Kwasay“ kommt von den Kechua. Ich bin Shuar – auf mein Volk lässt sich das nicht so leicht übertragen. Das ist, als ob man die ecuadorianische Nationalhymne auf Shuar oder Kechua übersetzt. Wir können zwar mitsingen, aber wir fühlen nicht mit. Die Shuar haben eine enge Beziehung zur Natur, der Regenwald ist für unsere Lebensweise, unsere Werte und unsere Spiritualität sehr wichtig. Gleichzeitig haben wir aber immer wieder Konflikte untereinander. Jedes Volk muss seinen eigenen Weg finden, das „gute Leben“ zu erreichen.
Welches Verhältnis haben die Shuar zum Staat?
Zurzeit leben in Ecuador etwa 80.000 Shuar. Mit einem Bevölkerungsanteil von 7,8 Prozent sind wir die zweitgrößte der 14 indigenen Nationalitäten nach den
Kechua. Wir leben über alle Provinzen verstreut, haben aber ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl. Außerdem sind wir eines der ersten Völker, die begonnen haben, sich zu organisieren. 1964 wurden die ersten Shuar-Räte gegründet, wir sind an allen indigenen Organisationen des Landes beteiligt. Wir grenzen uns nicht ab, sind offen für den Dialog. Aber es ist uns sehr wichtig, unsere Identität zu bewahren.
Wie tun Sie das?
Am wichtigsten ist die Sprache. Schon seit den 1970er Jahren haben wir zweisprachige Schulen. Unsere Kinder werden bis zum Alter von 14 Jahren in Shuar und Spanisch unterrichtet. Die Abwanderung in die Städte, die Erziehung von Kindern in Internaten und gemischte Ehen machen es aber immer schwieriger, die Sprache zu bewahren.
Welche Form von Entwicklung wünschen Sie sich für Ecuador?
Die Regierung will die Entwicklung vorantreiben, indem sie die natürlichen Ressourcen, etwa Erdöl, ausbeutet. Sie spricht im Namen aller 15 Millionen Ecuadorianer und missachtet die Belange der einzelnen Völker. Wir sind ein plurinationaler Staat und für jedes Volk ist ein anderes Entwicklungsmodell richtig. So gibt es im Regenwald einige nicht-kontaktierte Völker. Sie brauchen nicht viel zum Leben, möchten aber in Ruhe gelassen werden. Trotzdem soll jetzt auf ihrem Gebiet Erdöl gefördert werden. Deshalb ist ja die freie, vorherige und informierte Zustimmung zum Abbau von Rohstoffen so wichtig.
Was halten Sie von den Entwicklungszielen, die zurzeit international diskutiert werden?
Der westliche Lebensstil und die westlichen Konsummuster sind nicht nachhaltig. Ich kann das natürlich kritisieren, aber das ist ohne Bedeutung, wenn sich das Bewusstsein nicht tiefgreifend ändert. Jeder einzelne müsste sich umorientieren. Wenn ich in ein Land wie Deutschland komme, sehe ich, dass überall geplant wird – kurz-, mittel- und langfristig. Aber wohin wollt Ihr Euch denn entwickeln? Welche Träume habt Ihr? Der Süden imitiert den Norden – obwohl wir gar nicht wissen, wohin ihr wollt. Das ist ein Teufelskreis. Ich sehe Protestbewegungen in Europa gegen das herrschende Entwicklungsmodell, vor allem junge Leute gehen auf die Straße. Aber die Regierungen nehmen das nicht ernst genug. Ihnen geht es vor allem um das Geld.
Das Gespräch führte Gesine Kauffmann
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