Vom Netz auf die Straße

Eine lautstarke Demokratiebewegung fordert in Malaysia saubere Wahlen. Zu ihrem Wachstum haben neue Medien beigetragen: Sie haben das Informationsmonopol der traditionellen Medien gebrochen und die politische Apathie und die Ehrerbietung für die Mächtigen untergraben.
Malaysias Premierminister Mahathir Mohamad wollte 1996 Unternehmen aus der Informations- und Kommunikationstechnologie ins Land locken, damit sie sein asiatisches Silicon Valley aufbauten. In seinem Eifer versprach er, das Internet nicht zu zensieren. Der starke Mann ahnte nicht, dass das Internet sich bald als gefährlichste Waffe derjenigen erweisen würde, die seine autoritäre Herrschaft und die seiner Nachfolger in Frage stellten.
 

Autor

Chin-Huat Wong

ist Politikwissenschaftler und Dozent für Journalismus auf dem malaysischen Campus der australischen Monash University. Er gehört auch dem Vorstand der Koalition für saubere und faire Wahlen BERSIH 2.0 an.

Malaysia war ursprünglich eine Union aus vier früheren britischen Kolonien: dem Staatenbund von Malaya, Singapur sowie Sabah und Sarawak auf der Insel Borneo. Die United Malays National Organisation (UMNO) dominierte schon vor der Unabhängigkeit Malayas 1957 in einer Koalition mit Vertretern der chinesischen und der indischen Minderheit die Politik in Malaya. Die Staatsgründung Malaysias im Jahr 1963 bot ihr die Möglichkeit, ihre Vorherrschaft mittels einer Allianz mit regionalen Parteien auf Sabah und Sarawak auszuweiten. Singapur, in dem eine andere Partei dominierte, wurde 1965 aus der Union ausgeschlossen. So kam Malaysia unter die alleinige Vorherrschaft der UMNO.

In den Wahlen von 1969 kehrten viele Wähler der UMNO den Rücken. Nach Ausschreitungen zwischen Chinesen und Malaien – bekannt als Unruhen vom 13. Mai – wurde jedoch ein zweijähriger Ausnahmezustand verhängt und die Vorherrschaft der UMNO wiederhergestellt. Vor der Rückkehr zum parlamentarischen System 1971 wurden eine Reihe pro-malaiischer Maßnahmen eingeführt. So stellte die sogenannte Neue Ökonomische Politik sicher, dass Malaien sowie Einheimische auf Sabah und Sarawak beim Studium, bei Einstellungen, dem Aktienbesitz, der Vergabe von Staatsaufträgen und sogar dem Kauf von Häusern gegenüber der chinesisch- und indisch-stämmigen Bevölkerung bevorzugt wurden.

Malaysia war fortan ein „Einparteistaat mit Wahlen“. Veränderungen am Zuschnitt von Wahlkreisen und repressive Gesetze sicherten die Herrschaft der UMNO. Um den politischen Wettbewerb zu verringern, erweiterte sich die Allianz zur Nationalen Front (Barisan Nasional, BN), der auch Parteien von Minderheiten aus Malaya und Borneo angehören. Die pro-mailaiische Politik vergraulte Chinesen und Inder, doch aus Angst vor einem zweiten „13. Mai“ war die totale Ablehnung der UMNO keine Option.

Die Aussichten auf eine Demokratisierung waren praktisch null, als Mahathir 1981 der vierte Premierminister von Malaysia wurde. Die Neue Ökonomische Politik hatte aber das Aufkommen einer bürgerlichen Schicht und neue Spannungen unter den Malaien zur Folge. Als die Wirtschaft 1986 in eine Rezession geriet, hatte die UMNO nicht mehr genug zu verteilen, um alle in ihrer Gefolgschaft zu bedienen. Sie spaltete sich, und ein früherer Finanzminister machte Mahathir den Parteivorsitz und den Posten des Premierministers streitig. Er führte eine vereinigte Opposition in die Wahlen von 1987, zog aber mit 47 Prozent der Stimmen und 29 Prozent der Parlamentssitze den Kürzeren. Das lag zum Teil an der Kontrolle der Barisan Nasional über die Medien. Der Aufstieg des Internet Mitte der 1990er Jahre veränderte daher die malaysische Politik in zweierlei Hinsicht entscheidend: Es brach die Kontrolle der Herrschenden über die Information und ermunterte die Bevölkerung, sich politisch zu beteiligen.

1998 entließ Mahathir seinen Stellvertreter und designierten Nachfolger Anwar Ibrahim. Der hatte die Vetternwirtschaft und die allgegenwärtige Korruption kritisiert und bedrohte Mahathirs Position. Er wurde wegen Homosexualität und Machtmissbrauchs angeklagt, um seine Glaubwürdigkeit als bekannter Islamist zu zerstören, und kam für sechs Jahre ins Gefängnis. Diese unwürdige politische Säuberung spaltete sowohl die UMNO als auch die malaiische muslimische Wählerschaft. Im Zentrum von Kuala Lumpur demonstrierten 1998 und 1999 mehrheitlich malaiische Muslime unter der Losung „Reformasi” (Reform) – angeregt von den Protesten in Indonesien, die im Mai 1998 zum Sturz von Präsident Suharto geführt hatten.

Bei den Wahlen 1999 konnte eine neue Opposition das Regime zwar nicht von der Macht verdrängen. Aber die „Reformasi“-Bewegung stieß zwei wichtige Veränderungen an. Erstens brachen Internet-Newsportale – allen voran malaysiakini.com – das Informationsmonopol der etablierten Medien. Dieses Portal war kurz vor der Wahl ins Leben gerufen worden, um Nutzer mit kostenlosen Nachrichten auf Englisch zu versorgen. Heute erhebt es Abonnement-Gebühren und verbreitet Nachrichten auch auf Malaiisch, Chinesisch und Tamil. Viele weitere Newsportale auf Englisch, Malaiisch und Chinesisch sind seither aus dem Boden geschossen.

Die Mediengesetze Malaysias regeln den Inhalt der Medien und die Bedingungen ihres Markteintritts. Repressive Gesetze, die die Inhalte kontrollieren, gelten auch für Online-Journalisten und Blogger. „Netzbürger“ werden für Online-Veröffentlichungen von Zeit zu Zeit verfolgt oder schikaniert. Das konnte allerdings eine entschlossene und mutige Berichterstattung sowie Online-Diskussionen nicht verhindern. Eine größere Gefahr für die Medienfreiheit sind die Barrieren für den Markteintritt; sie erlauben es der Regierung, die beteiligten Medien auszusuchen. Alle privaten frei empfangbaren Fernsehprogramme und die meisten Tageszeitungen werden entweder von Parteien kontrolliert, die zu Barisan Nasional gehören, oder von Unternehmen, die ihnen oder ihren politischen Anführern verbunden sind. Mit gewissen Ausnahmen bei der traditionell starken chinesischen Presse hat der enge Kreis der zugelassenen Medien den inhaltlichen Wettbewerb begrenzt.

Bis die Internet-Medien auftauchten. 2011 hatten 81 Prozent der malaysischen Haushalte Zugang zum Breitband-Internet und 17,5 der gut 28 Millionen Menschen in Malaysia nutzten das Netz. Die alternativen Medien können inzwischen nicht nur Themen setzen. Ihr Pionier Malaysiakini – dem es untersagt ist, selbst Zeitungen herauszugeben – beliefert nun die Tageszeitung „Malay Mail“ mit Inhalten.

Als zweites wichtiges Ergebnis der „Reformasi“-Bewegung ist das Internet zu einem nützlichen Mobilisierungsinstrument für die Opposition und die Zivilgesellschaft geworden. Neben malaysiakini.com, das von hauptberuflichen Journalisten betrieben wird, entstanden im Zuge der Unruhen 1998-99 mindestens 30 der Bewegung verbundene Websites, meist in malaiischer Sprache. Sie brachen mit der traditionellen malaysischen Ehrerbietung für führende Politiker und knöpften sich Premierminister Mahathir vor. Zwei der bekanntesten parodierten unverblümt seinen Namen in ihren Titeln: Mahazalim (der große Tyrann) und Mahafiraun (der große Pharao). Die Anonymität im Internet machte das möglich: Die Webmaster mussten nicht fürchten, identifiziert und angeklagt zu werden. Daneben gab es zahlreiche Mailing-Listen, die Informationen weiterreichten und Diskussionen anstießen. So gelangten viele Angehörige der vorsichtigen städtischen Mittelklasse allmählich an alternative Informationen.

Die Aufrechterhaltung des „Einparteistaates mit Wahlen“ hängt in hohem Maße von der politischen Apathie der Bürger Malaysias ab. Ihnen wird dauernd gesagt, sie sollten die Politik den Politikern überlassen. Politik treiben wird zum Schimpfwort für jede Beteiligung der Bevölkerung, die traditionelle Werte und Interessen in Frage stellt. Oppositionsparteien werden oft als Störenfriede oder gar Agenten des Auslands in Misskredit gebracht. Gerechtfertigt wird das stets damit, eine Wiederholung der ethnischen Unruhen von 1969 verhindern zu wollen: Kulturelle Verschiedenheit als Vorwand, warum Malaysia keine Demokratie sein kann.

Das Internet erschwert diese Entpolitisierung der Bevölkerung. Hatten die Webmaster der Reformasi-Seiten ihre Identität noch verborgen, so beendete das Aufkommen politischer Blogs im Jahr 2003 schnell die Kultur der Anonymität. Die Blogger kamen überwiegend aus der Mittelklasse, zu ihnen zählten Studenten und Freiberufler ebenso wie Rentner, und viele wurden zu politischen Aktivisten. Einige, wie Jeff Ooi und Elizabeth Wong, traten bei Wahlen für die Opposition an und wurden Parlamentsabgeordnete und Minister. Andere wie Raja Petra Kamaruddin und Haris Ibrahim bauten eine Gefolgschaft auf, die zur dritten politischen Kraft zwischen Barisan Nasional und der neuen Oppositions-Koalition Pakatan Rakyat (Volksallianz) werden sollte.

Viele politische Blogger halfen Oppositionskandidaten im Wahlkampf 2008. Bei dieser Wahl – im Volksmund als „politischer Tsunami“ bezeichnet – erhielt die Barisan Nasional nur 51 Prozent der Stimmen und verlor ihre Zweidrittelmehrheit im Bundesparlament in Kuala Lumpur und die Macht in fünf der dreizehn Bundesstaaten. Blogger hatten auch großen Anteil am Zustandekommen der drei Massendemonstrationen 2007. Die erste, von der malaysischen Anwaltskammer initiiert, forderte die Unabhängigkeit der Justiz. Auf der zweiten sprach sich BERSIH („Sauber“), eine Koalition aus nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und Parteien, für eine Reform des Wahlrechts aus. Bei der dritten demonstrierte eine Gruppe indischstämmiger Malaysier gegen ihre soziale Ausgrenzung.

Facebook und Twitter, die ab 2009 in Malaysia populär wurden, trieben die Entwicklung weiter. Die Meinungsführer sind nun nicht mehr Hunderte von politischen Bloggern, sondern Zehntausende Nutzer der sozialen Netzwerke. Im Januar 2010 wurde Informationsminister Rais Yatim ein Opfer von Twitter: Nachdem er die Malaysier angehalten hatte, religiöse Werte aufrecht zu erhalten, wenn sie Facebook oder Twitter nutzten, stieg #yorais mit zahllosen Witzen über den Minister zeitweise in die weltweite Top 3 auf. Im Oktober 2010 zog eine Facebook-Seite gegen ein vom neuen Regierungschef angekündigtes Hochhausprojekt mit 100 Stockwerken, das als Sinnbild für Misswirtschaft galt, innerhalb der ersten Woche 100.000 Besucher an. Sie entwickelte sich dann zu einem Forum, das vom Staat Rechenschaft verlangte. Ähnliche Seiten, die auf unpopuläre Projekte oder Skandale reagierten, fanden später die Aufmerksamkeit von Zehntausenden.

Der Aktivismus der sozialen Netzwerke schuf ein starkes Instrument für die Koordination und Mobilisierung von Protest außerhalb des Internet. Im Juli 2011 organisierte die Koalition BERSIH 2.0 – die nun ausschließlich aus NGOs bestand – eine weitere Großversammlung gegen Wahlfälschung. Mehrere Wochen lang schikanierte und verhaftete die Polizei ihre Aktivisten; pro-UMNO-Gruppen drohten mit Gegendemonstrationen und deuteten an, dass es zu gewaltsamen Tumulten kommen werde. Dies allerdings bewirkte, dass parteiungebundene Bürger sich dem Protest anschlossen. Trotz Straßensperren, Tränengas, Wasserkanonen und Schlagstöcken der Polizei kamen etwa 50.000 Teilnehmer; 1667 wurden verhaftet, das war ein Rekord.

Die Aufsässigkeit erreichte einen weiteren Höhepunkt, als im Februar 2012 die unpopuläre Ehefrau des Premierministers, Rosmah Mansor, von der Curtin University im australischen Perth einen Ehrendoktortitel erhielt. Wütende Absolventen, die das als Entwertung ihrer akademischen Titel empfanden, bombardierten die Universität mit Mails und Protesteinträgen auf Facebook. Eine Absolventin postete ein Foto ihres zerrissenen Abschlusszeugnisses, ein anderer lud ein Video hoch, das zeigt, wie man einen Abschluss der Curtin University verbrennt.

Die Leidenschaft, die sich im Internet äußert, hat bei einigen Beobachtern Befürchtungen ausgelöst, die sensiblen Beziehungen zwischen den Volksgruppen könnten beeinträchtigt werden. Ein Konflikt in einem Fast-Food-Restaurant etwa zur Zeit des Eklats an der Curtin University illustriert das: Ein Mitarbeiter des Restaurants schlug einen Kunden, der verärgert war, weil er nach einer Dreiviertelstunde Warten feststellen musste, dass die Ware ausverkauft war. Viele malaiische Netizens sympathisierten mit dem schlecht bezahlten Angestellten, einem Malaien. Dagegen hatten viele chinesische User Mitgefühl mit dem Kunden, der zufällig Chinese war. Solche Spannungen schaukelten sich zum Glück online nicht weiter auf. Und das Internet ermöglicht auch Solidarität über die Grenzen der Ethnien hinweg. Kurz nach dem Zwischenfall im Restaurant sammelten eine Malaysierin chinesischer Herkunft und der Schriftsteller Koh Wee Sun online umgerechnet etwa 6500 Euro, um 16 malaiische Aktivisten zu unterstützen – die sollten wegen Protesten gegen ein Gesetz, das Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung zulässt, eine Geldstrafe zahlen. Einen Monat später brachte der chinesische Geschäftsmann Pow Kiew An mittels Facebook umgerechnet 3700 Euro für den malaiischen Aktivisten Ahmad Syauqey zusammen. Der war wegen „Behinderung von Beamten“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil er die Identität eines Polizisten an einer verdächtigen Straßensperre angezweifelt hatte. Weder Koh noch Pow noch die meisten der überwiegend chinesischen Spender kannten die malaiischen Aktivisten persönlich. Doch sie waren im Vorfeld der BERSIH 2.0-Versammlung politisiert worden; hier hatten sich Malaien und Chinesen gegenseitig geholfen, als die Polizei gewaltsam auf sie losging.

Die kulturelle Basis des „Einparteienstaates mit Wahlen“, die im Zeitalter vor dem Internet gelegt wurde, schwindet mehr und mehr. Die dritte Demonstration der BERSIH-Aktivisten, die für Ende April vorgesehen ist, soll die Regierung zur Ordnung zu rufen.

Aus dem Englischen von Bernd Stößel.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2012: Digitale Medien: Das Versprechen der Technik
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