Computer allein helfen nicht

Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien galten lange als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Armut. Inzwischen ist klar: Ihre Wirkungen sind begrenzt. Sie können die Fähigkeiten von Menschen verstärken. Aber wo Bürger schlecht ausgebildet und Regierungen korrupt sind und Institutionen nicht funktionieren, stoßen Computer, Handys und das Internet allein keine Entwicklung an.

Vor acht Jahren wollte ich zusammen mit anderen Forschern im indischen Bangalore herausfinden, wie Computer, Handys und andere elektronische Technologien genutzt werden könnten, um armen Gemeinschaften zu helfen. Wir tauchten dazu in ihr Alltagsleben ein. So verbrachten wir Monate in einem städtischen Slum, um zu verstehen, wie Analphabetinnen auf Computer reagieren würden. Sie fühlten sich eingeschüchtert und meinten, mit ihrer geringen Bildung könnten sie solche modernen Geräte kaum verstehen, insbesondere da sie Kenntnisse im Lesen und Tippen erfordern.

Meine Kollegin Indrani Medhi entwickelte deshalb Richtlinien für „textfreie Benutzerschnittstellen“, die Informationen mit Hilfe von Zeichnungen und Tonaufnahmen vermitteln. Die Frauen waren begeistert. Sie staunten, dass sie eine Technologie verstehen konnten, die sie für unerreichbar gehalten hatten. Gemeinsam mit ihnen verbesserte Medhi die Anwendung. Dann testete sie, ob auch andere Frauen in der Lage waren, mit dem Prototypen einer „textfreien“ Job-Suchmaschine passende Arbeitsplätze zu finden. Das schafften alle, obwohl sie schlecht oder gar nicht lesen und schreiben konnten.

Autor

Kentaro Toyama

ist Wissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Er hat sich in verschiedenen Projekten mit dem Beitrag moderner Technologien zur sozio-ökonomischen Entwicklung beschäftigt.

Angespornt von ihrer Begeisterung bemühte sich Medhi um eine Lösung für das eigentliche Problem der Frauen: im informellen Sektor der Stadt Jobs als Köchinnen und Haushaltshilfen zu finden. Sie wollte ein Online-System entwickeln, mit dem die Frauen im Internet nach Jobangeboten aus der Mittelschicht suchen können.

Doch als Medhi in den Apartmentblöcken von Tür zu Tür ging, um potenzielle Arbeitgeber zu finden, stand sie schnell vor unerwarteten Schwierigkeiten. Zwar suchten viele Haushalte eine Hilfe, doch die meisten hatten ganz bestimmte Erwartungen an ihre Angestellten, die die Frauen aus dem Slum nur selten erfüllten. Einige suchten Köchinnen, die eine ganze Reihe Gerichte zubereiten konnten, doch die Slumbewohnerinnen kamen oft aus armen Familien mit einem begrenzten Speisezettel. Andere verlangten Tätigkeiten wie Staubsaugen, aber nicht alle Frauen wussten, wie man einen Staubsauger benutzt. Zu den gängigsten Anforderungen gehörte, dass die Frauen pünktlich an vorab verabredeten Tagen kommen sollten – das waren moderne, städtische Erwartungen, die in einer Kultur, die weniger starren, ländlichen Gewohnheiten entsprang, nicht unmittelbar zu verstehen waren.

Die Slumbewohnerinnen hatten ebenfalls Beschwerden: Viele Familien verboten dem Dienstpersonal, ihre Toiletten zu benutzen – das spiegelt die gesellschaftlichen Hierarchien Indiens wider. Einige schlugen oder ohrfeigten ihre Angestellten bei geringfügigen Ärgernissen, andere Arbeitgeber zahlten einfach nicht pünktlich. Zusammen mit einer lokalen nichtstaatlichen Organisation (NGO) entwickelte Medhi standardisierte Arbeitsverträge, in denen diese Dinge geregelt wurden. Sie enthielten Rechte und Pflichten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Medhi besuchte die Arbeitgeber und erklärte ihnen die Bedingungen. Sie konnten wählen, ob sie die Verträge unterschreiben – aber wenn nicht, hatten sie keine Garantie für die Leistungen ihrer Angestellten. Außerdem organisierte Medhi Trainingsworkshops für potenzielle Angestellte. Sie mussten alles lernen, von der richtigen Begrüßung des Arbeitgebers an der Haustür bis hin zur Zubereitung von Gerichten.

So stellte sich sehr bald heraus, dass ein Online-System zur Jobsuche das kleinste Problem war. Medhi verbrachte zwei Jahre damit, genügend Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen zu erreichen. In dieser Zeit genügten Kugelschreiber, Papier und ein Tabellenblatt, um die Informationen zu sammeln und mit allen Beteiligten zu kommunizieren – ein Online-System war nicht nötig. Selbst mit Hilfe der lokalen NGO und des Einsatzes einer Vollzeitkraft gab es viel mehr Arbeit, als für die komplexe Gestaltung einer Anwenderschnittstelle nötig ist: Arbeitskräfte ausbilden, mit Arbeitgebern verhandeln, ständig weitere Arbeitgeber und Arbeitskräfte rekrutieren und die vertraglich festgelegten Bedingungen auch durchsetzen.

In den fünf Jahren, die ich in Indien verbrachte, habe ich mehr als 50 Projekte betreut, die wie Medhis versuchten, das eine oder andere Entwicklungsziel voranzubringen. Eine Handvoll von ihnen existiert bis heute irgendwie weiter, doch die meisten endeten als experimentelle Pilotprojekte. In allen Fällen leistete die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), was sie sollten, doch standen wir vor gesellschaftlichen Schwierigkeiten, die keine noch so gut entwickelte Technologie bewältigen kann. Ihre Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit lässt sich so zusammenfassen: Die IKT können Vorhaben und Fähigkeiten von Menschen verstärken. Aber in vielen Fällen bringen sie keinen zusätzlichen Nutzen. Sie können insbesondere schlechte Absichten oder Mangel an Kenntnissen nicht ausgleichen. Wenn die Mächtigen korrupt sind, die Bürgerinnen und Bürger schlecht ausgebildet und die Institutionen nicht funktionieren, dann stellen Informations- und Kommunikationstechnologien allein keine Lösung dar.

Das ist eine einfache Theorie, doch daraus ergeben sich viele Schlussfolgerungen. So bringen IKT-Projekte dann den größten Nutzen, wenn sie eine Institution oder einen Trend verstärken, der bereits günstige Auswirkungen hat. Wenn das Ziel ist, die Verbreitung von Malaria mit einer IKT-Anwendung zu verringern, sollte man mit einer Organisation zusammenarbeiten, die die Malaria bereits erfolgreich bekämpft. Es ist sehr gut möglich, dass der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien dieser Organisation helfen wird, ihre Arbeit besser zu machen. Dagegen bringt es wahrscheinlich wenig, wenn man einfach nur Kurznachrichten per Handy verschickt, um Menschen daran zu erinnern, Moskitonetze zu benutzen.

Die Theorie der Verstärkung führt dazu, viele der regelmäßig propagierten und schön klingenden Geschichten über die Auswirkungen von Informations- und Kommunikationstechnologien für die globale Entwicklung in Frage zu stellen. Die westliche Presse hat den Arabischen Frühling als Sieg für die sozialen Internetmedien gepriesen. Der Aufstand in Ägypten soll eine „Facebook-Revolution“ gewesen sein. Natürlich haben die Aktivisten Facebook als Kommunikationsmittel genutzt und Ausländer konnten im Internet Updates in Echtzeit bekommen. Doch die sozialen Medien waren wohl kaum die Ursache der Rebellion. In Syrien zum Beispiel hat Präsident Baschar al-Assad den Internetzugang des Landes im Juni 2011 gekappt. Doch die Opposition leistet weiter mutig Widerstand gegen das syrische Militär. In China nutzen inzwischen 900 Millionen Menschen ein Handy und 500 Millionen haben einen Internet-Zugang. Dennoch scheint die Bevölkerung mit dem Wirtschaftswachstum relativ zufrieden zu sein. Eine Revolution geschieht nicht ohne weit verbreitete Frustration. Twitter ist nur ein praktisches Instrument, um Nachrichten zu verschicken. Informations- und Kommunikationstechnologien sind weder nötig noch hinreichend für demokratische Revolutionen.

Laut einem weiteren Mythos bringt die Vernetzung die Menschen näher zusammen. Danach entsteht Frieden, wenn Menschen mit gegensätzlichen Standpunkten frei miteinander kommunizieren können. Leider zeigt sich, dass Menschen, wenn sie kommunizieren können, mit wem immer sie wollen, dies nicht mit ihren Feinden tun. In unserer Welt mit immer mehr Informations- und Kommunikationstechnologien schauen konservative Menschen konservative Kabelkanäle, fortschrittliche Menschen sehen sich progressive Videos auf YouTube an und Fundamentalisten tauschen sich auf fundamentalistischen Webseiten aus. Wissenschaftler nennen dieses Phänomen „Cyberbalkanisierung”: Wenn sich den Menschen mehr Kommunikationskanäle eröffnen, neigen sie dazu, mit Gleichgesinnten zusammenzukommen. Eine den Frieden fördernde Kommunikation ist eher weiter in die Ferne gerückt.

In der internationalen Entwicklungs-Szene hält sich auch die Meinung, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien Kosten – etwa hohe Gehälter – senken können. Damit werden Programme wie „Ein Laptop pro Kind“ (One Laptop Per Child) gerechtfertigt, in denen billige Computer die Ausgaben für gute Lehrer ersetzen sollen. Doch wie alle guten Eltern oder Lehrer wissen, besteht die größte Aufgabe einer guten Ausbildung in der anleitenden Motivation des Schülers – und die ist nicht mit Informations- und Kommunikationstechnologien zu leisten. Sie sorgen eher für Ablenkung: Kinder, die einen Laptop oder ein Smartphone bekommen, werden eher von Videospielen angezogen als von Schularbeiten. Laut einem aktuellen Artikel in der „New York Times“ schicken Mitarbeiter der Firma Google ihre Kinder zunehmend auf gute Privatschulen, in denen elektronische Geräte verboten sind. Die klügsten Eltern halten es offenbar für keine gute Ausbildung, vor einem Bildschirm zu sitzen.

All das bestätigt die Ansicht, dass Technologien auf die Vorhaben und Fähigkeiten der Menschen lediglich verstärkend wirken. Informations- und Kommunikationstechnologien verstärken die Frustration unterdrückter Bürgerinnen und Bürger, doch der wahre Grund für Revolutionen ist die Frustration. Sie verstärken das Bedürfnis der Menschen, mit Gleichgesinnten in Verbindung zu treten, nicht mit Andersdenkenden. Sie verbessern die pädagogischen Möglichkeiten, aber nur in guten Schulsystemen mit hervorragenden Lehrern. In einem großen Teil der sich entwickelnden Welt sind die Lehrerinnen und Lehrer leider oft gar nicht anwesend, oder sie werden nicht ausreichend ausgebildet und betreut, um gut zu unterrichten.

Diese Erkenntnisse treffen unabhängig davon zu, ob es sich bei den Informations- und Kommunikationstechnologien um einen PC, ein Handy, einen Tablet-Computer oder den nächsten Liebling der Technologiebranche handelt. Es ist auch gleichgültig, ob das Ziel eine bessere Schulbildung ist, eine bessere Gesundheitsversorgung, eine bessere Landwirtschaft oder ein besseres Führungssystem. Gesellschaftliche Probleme erfordern zu allererst gesellschaftliche Lösungen – Informations- und Kommunikationstechnologien helfen nur, wenn die Lösungen bereits funktionieren.

Das zeigt sich im Übrigen auch in der entwickelten Welt. Hier hat in den vergangenen vier Jahrzehnten ein Boom in der Informations- und Kommunikationstechnologie stattgefunden. Der PC und das Handy wurden erfunden, das Internet stürmte die Bühne und Firmen wie Apple, Facebook, Google, Microsoft und SAP durchdrangen alle Bereiche der Lebens- und Geschäftswelt. Wenn Technologien soziale Missstände heilen würden, dann sollten wir hoffen, dass sich im goldenen Zeitalter der Innovation in Ländern wie Deutschland und den USA die Armut verringert. Doch seit den 1970er Jahren stagniert die Armutsquote in den Vereinigten Staaten. In Deutschland hat sich der Anteil der Armen an der Gesellschaft sogar erhöht. Die Amerikaner geben der Armutsbekämpfung heute keine Priorität und Deutschland hat weiter mit der Vereinigung von Ost und West zu kämpfen. Wenn so viel Technologie die Armut hier nicht reduzieren konnte, warum erwarten wir noch mehr in Ländern, die sehr viel weniger in der Lage sind, daraus Nutzen zu ziehen?

In gewissem Umfang heizen die Technologieunternehmen den IKT-Hype an – schließlich verdienen sie an jedem verkauften Gerät und an jeder Minute Sprechzeit. Doch ein großer Teil des Problems liegt beim Rest von uns, weil wir uns in die Irre leiten lassen und die Technik als wahre Lösung ansehen. Wir verbinden Informations- und Kommunikationstechnologie mit Erfolg und fähigen Leuten. Doch wir begehen den klassischen Fehler, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Technologieunternehmen sind erfolgreich, weil sie von kompetenten, an Ergebnissen orientierten Menschen geleitet werden und die Freiheit haben, profitable Märkte zu suchen. Den größten Nutzen aus den Technologien ziehen jedoch nicht die Konsumenten oder Anwender, sondern die Produzenten. Wenn Sie ein iPhone kaufen, haben Sie damit Bequemlichkeit und Spaß, aber reich werden die Anteilseigner und Angestellten von Apple.

Wenn wir an der sozio-ökonomischen Entwicklung armer Gemeinschaften wirklich interessiert sind, sollten wir den Fokus nicht auf ihre Rolle als Technologie-Konsumenten legen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, wirtschaftlich produktiv zu werden – mit einer guten Schulbildung, beruflicher Qualifikation, Beratung für Unternehmer. Am Ende erfordert Entwicklung das innere Wachstum jedes einzelnen Menschen. Wenn stattdessen das Ziel darin besteht, die Probleme anderer Menschen mit Technologie zu lösen, werden wir eines Tages bei einer merkwürdigen Utopie ankommen: Die Technologie versorgt die Menschen mit Nahrung, heilt sie und verschafft den Armen ein Einkommen. Das Erscheinungsbild der Armut verschwindet, doch die Menschen sind weiterhin nicht in der Lage, ohne Technologie für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Für mich zumindest ist das nicht die Zukunft, die wir anstreben sollten.

Aus dem Englischen von Christina Kamp.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2012: Digitale Medien: Das Versprechen der Technik

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