Kein Meisterstück

Bosnien und Herzegowina ist ein Sonderfall bei dem Versuch, staatliche Strukturen von außen aufzubauen. Die internationale Gemeinschaft hat das Land mit der Einsetzung eines Hohen Repräsentanten und der Entsendung von Friedenstruppen unter ein Protektorat gestellt. Das hat einen erneuten Krieg verhindert und die Demokratie befördert. Doch die ethnischen Konflikte zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten sind nach wie vor virulent und verhindern eine handlungsfähige Regierung.
Bosnien und Herzegowina zählt zu den fragilen Staaten. Das liegt weniger an den schlecht funktionierenden staatlichen Einrichtungen als vielmehr daran, dass die wichtigsten politischen Kräfte darüber streiten, ob sie in einem gemeinsamen Staat leben möchten. Über diese Frage entbrannte schon der Krieg, der 1992 bis 1995 rund 100.000 Menschen das Leben kostete. Die meisten Bosniaken betrieben genauso wie die Mehrheit der Kroaten die Ablösung von Jugoslawien. Die Serben hingegen wollten mehrheitlich die Teilrepublik Bosnien und Herzegowina bei Jugoslawien belassen. Nachdem sich diese Republik zu Beginn des Krieges als unabhängiger Staat formiert hatte, versuchten Truppen der bosnisch-herzegowinischen Serben, möglichst viele Gebiete zu erobern und sie dem neuen Staat zu entreißen. Hilfe erhielten sie von Jugoslawien, das nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Zeitweise wollten auch die Truppen der bosnisch-herzegowinischen Kroaten, unterstützt von Kroatien, Gebiete von der Republik Bosnien und Herzegowina abspalten.
 

Autor

Thorsten Gromes

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Autor des Buches „Demokratisierung nach Bürgerkriegen. Das Beispiel Bosnien und Herzegowina" (Campus-Verlag, 2007).

Die Kämpfe brachten keine klaren Sieger hervor. Das Ende 1995 in Dayton vereinbarte Friedensabkommen ließ den Serben zwar eine eigene Republik namens Republika Srpska, die aber nicht unabhängig ist, sondern eine der beiden Teilrepubliken („Entitäten") von Bosnien und Herzegowina - die andere ist die „Föderation von Bosnien und Herzegowina". Die Bosniaken konnten Bosnien und Herzegowina in den international anerkannten Grenzen erhalten, mussten allerdings hinnehmen, dass die beiden Teilrepubliken mehr eigenständigen Staaten als gewöhnlichen Teilstaaten glichen. Bis Ende 2005 unterhielten die Entitäten eigene Streitkräfte.

Ferner verordnete das Dayton-Abkommen Bosnien und Herzegowina ein kompliziertes politisches System, in dem sich Bosniaken, Serben und Kroaten die Regierungsmacht teilen müssen und sich nicht gegenseitig überstimmen dürfen. Die Bosniaken konnten daher ihre relative Mehrheit von 44 Prozent nicht ausspielen. Viele von ihnen bekannten sich zum gemeinsamen Staat, wandten sich jedoch gegen seine Dezentralisierung und gegen die Machtteilung mit den Serben und Kroaten. Die Serben wollten mehrheitlich die Republika Srpska als unabhängigen Staat. Viele Kroaten forderten eine dritte, kroatisch dominierte Entität, da sie sich in der Föderation an den Rand gedrängt fühlten. Der Grundkonflikt um den Bestand und die Struktur des Staates Bosnien und Herzegowina hat die gesamte Nachkriegszeit geprägt.

Dennoch hat der Streit nicht zu einem neuen Krieg geführt. Genau darin besteht der größte Erfolg der Bemühungen, Bosnien und Herzegowina zu stabilisieren. Wesentlich dafür waren die Friedenstruppen, die erst unter Führung der NATO, später unter der der Europäischen Union (EU) operierten. Ihr Umfang ist von zunächst 60.000 auf heute rund 2.000 Soldaten geschrumpft. Der Truppenabbau steht für ein gewachsenes Vertrauen in die Sicherheit, das sich unter anderem auf die Abrüstung der früheren Kriegsparteien in Bosnien und Herzegowina stützt. Hielten die Kontrahenten gegen Ende des Krieges rund 420.000 Menschen unter Waffen, dienen heute weniger als 10.000 Soldaten in den Streitkräften von Bosnien und Herzegowina, die seit 2006 dem Verteidigungsministerium des Gesamtstaates unterstehen.

Auch die Demokratisierung hat Fortschritte gemacht. Die Bürger haben mehrfach in weitgehend freien und fairen Wahlen ihre Regierungen und Parlamente gewählt und dabei wiederholt für neue Mehrheiten gesorgt. Sie genießen weit mehr Rechte und Freiheiten als direkt nach dem Krieg. Die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten gilt allerdings oft als zweifelhaft. Noch schwerer wiegt, dass Bosnien und Herzegowina bis heute unter einem „halben Protektorat" steht. Zwar gibt es gewählte Parlamente und Regierungen, doch kann der vom Dayton-Abkommen eingesetzt Hohe Repräsentant Politiker des Amtes entheben und Gesetze erlassen. Diese Befugnisse hat er Ende 1997 erhalten, als die Friedensmissionen über zu geringe Fortschritte im Friedensprozess klagten. Die Konfliktparteien hatten an ihren ethnisch exklusiven, nach dem Friedensschluss jedoch verfassungswidrigen Strukturen festgehalten. Die in politischen Institutionen drohten reine Fassaden zu bleiben. Die verordnete Machtteilung konnte die Kontrahenten nicht bewegen, ihren Streit um den gemeinsamen Staat so weit zu mäßigen, dass die Institutionen auch nur einigermaßen funktionierten.

Erst zahlreiche Sanktionen des Hohen Repräsentanten drängten die verfassungswidrigen Strukturen zurück. Seine Interventionen und die Präsenz der Friedenstruppen haben den Konfliktparteien Alternativen zu den Institutionen des gemeinsamen Staates dauerhaft versperrt, so dass sie sich mehr und mehr mit der Existenz von Bosnien und Herzegowina und seiner Verfassungsordnung abgefunden haben. Eine wichtige Rolle spielte auch die 1999 eröffnete Aussicht, eines Tages der EU beizutreten. Dieses Angebot gilt ausschließlich für den gemeinsamen Staat.

Anfang 2006, etwas mehr als zehn Jahre nach Kriegsende, schien Bosnien und Herzegowina auf einem guten Weg. Bosniakische Politiker bescheinigten ihren serbischen und kroatischen Kollegen, den gemeinsamen Staat zu akzeptieren. Umfragen zeigten erstmals, dass die serbischen Bürger Bosnien und Herzegowina nicht länger mehrheitlich ablehnten. Der Hohe Repräsentant intervenierte immer seltener und stellte in Aussicht, sein Büro bald zu schließen. Im Parlament debattierten die Parteien eine Verfassungsreform, wobei die Konfliktlinien nicht zwischen den Volksgruppen verliefen, sondern auf beiden Seiten bosniakische, serbische und kroatische Politiker standen.

Allerdings verfehlte die Verfassungsreform im April 2006 die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament um zwei Stimmen. Gerade ihre Gegner agierten schon mit Blick auf die für Oktober desselben Jahres anstehenden Wahlen und der extrem lange Wahlkampf ließ die alten Konfliktlinien wieder aufbrechen. Die beiden größten bosniakischen Parteien forderten, die Republika Srpska als Produkt von Völkermord und Vertreibung abzuschaffen. Der Ministerpräsident dieser Entität, Milorad Dodik, meinte, Bosnien und Herzegowina lasse sich nicht aufrechterhalten, und brachte immer wieder ein Referendum über die Unabhängigkeit der Republika Srpska ins Spiel. Dieser Konflikt dominiert das politische Geschehen bis heute. Dabei heizten ihn auch äußere Ereignisse an, etwa die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008.

Aufgrund der vorgesehenen Machtteilung mussten die Konfliktparteien eine gemeinsame Regierung bilden. Sie zeigte sich durch den Dauerstreit weitgehend gelähmt, während das Parlament mit Boykottdrohungen überzogen wurde und sich als wenig entscheidungsfreudig erwies. Auch die weitere Annäherung an die EU konnte diese Entwicklung nicht verhindern. Die serbischen Politiker stimmen dem Integrationsprozess nur zu, solange dieser die Republika Srpska nicht zugunsten der Bundesinstitutionen in Sarajewo schwächt.

Vor den Wahlen im Oktober 2010 erklärte die bis dahin größte bosniakische Partei, die Republika Srpska nicht mehr infrage zu stellen. Deren Ministerpräsident Dodik setzte jedoch seinen Konfrontationskurs fort: Bosnien und Herzegowina sei ein „unmöglicher Staat", der eines Tages friedlich zerfallen werde. Bosniakische Politiker betonten, dass sie eine Teilung niemals hinnehmen wollten. So kündigte nach den Wahlen der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Zlatko Lagumdžija, an, notfalls gewaltsam die Sezession der Republika Srpska zu verhindern. Die Parteien Dodiks und Lagumdžijas waren aus den Wahlen als Sieger hervorgegangen. Viele Beobachter führen die Verschlechterung seit 2006 darauf zurück, dass der Hohe Repräsentant kaum noch ins Geschehen eingriff: Die Lage würde sich entspannen, sobald er wieder mehr intervenierte. Diese Diagnose und Therapieempfehlung greifen aber zu kurz. Der Hohe Repräsentant hatte sich bereits deutlich zurückgehalten, als Bosnien und Herzegowina noch auf einem guten Weg schien. Später spitzte er Krisen mit seinen wenigen Entscheidungen noch zu, etwa im Herbst 2009 mit Erlassen zum landesweiten Stromversorgungssystem. Hat er früher entscheidend dazu beigetragen, die verfassungsmäßigen Institutionen durchzusetzen, so ist er mittlerweile Teil des Problems.

Bosniakische und kroatische Politiker hoffen, mit Hilfe des Hohen Repräsentanten und anderer äußerer Mächte dem Zwang zum Konsens mit den Serben entkommen zu können. Denn wenn sich die Lage verschärfte, müssten die Friedensmissionen wieder stärker intervenieren und die Republika Srpska schwächen. Die serbischen Parteien fordern hingegen, das Amt des Hohen Repräsentanten abzuschaffen. Die Präsenz der Friedenstruppen ermutigt sie zur radikalen Rhetorik: Dodik meint, mit Sezessionsdrohungen bei den serbischen Wählern punkten und die Bosniaken provozieren zu können, weil die Friedenstruppen die schlimmsten Folgen verhindern.

Die internationale Politik steht vor einem Dilemma: Die Friedenstruppen im Land zu belassen, mag einen neuen Krieg verhindern, provoziert aber Konfrontationen unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt. Was folgt aus den Erfahrungen in Bosnien und Herzegowina für den Umgang mit anderen Nachkriegsgesellschaften? Auf der einen Seite sind die Teilerfolge der Befriedung und Demokratisierung zu groß, um der internationalen Politik zu empfehlen, sie solle ganz die Finger davon lassen, Gesellschaften nach einem Bürgerkrieg zu stabilisieren. Auf der anderen Seite warnt die durchwachsene Bilanz für Bosnien und Herzegowina vor überzogenen Zielen.

Beim skizzierten Fall handelt es sich um einen kleinen, im weltweiten Vergleich nicht einmal so armen Staat. Gerechnet auf die Zahl der Einwohner, haben Friedensmissionen fast nirgends so viel investiert wie in Bosnien und Herzegowina. Darüber hinaus haben sie oft und intensiv in politische Prozesse eingegriffen. Die Bürger in Bosnien und Herzegowina stimmen im Grundsatz mehrheitlich der demokratisch und staatlich verfassten Ordnung einer Gesellschaft zu. Zudem darf sich das Land aufgrund seiner geographischen Lage über die Aussicht auf einen EU-Beitritt freuen. Wenn es überhaupt gelingen kann, eine ethnisch gespaltene Nachkriegsgesellschaft mit Demokratisierung und Staatsaufbau zu befrieden, dann in Bosnien und Herzegowina. Doch selbst hier sind die Probleme so groß, dass sich Illusionen darüber verbieten, in welchem Maß äußere Mächte ganze Gesellschaften auf konstruktive Weise umwälzen können.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2010: Staatsaufbau - Alles nur Fassade?
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