Autorin
Mareike Schomerus
ist Vizepräsidentin beim Busara Center for Behavorial Economics (Busara-Zentrum für Verhaltensökonomie, https://busaracenter.org/). Ihr jüngstes Buch „Lives Amid Violence: Transforming Development in the Wake of Conflict“ ist bei Bloomsbury frei erhältlich (https://bit.ly/3isxMAk).Sechs Jahre sind seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens vergangen, das dem blutigen Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden des afrikanischen Landes ein Ende gesetzt hat. Doch eines der größten Probleme ist geblieben: die allgegenwärtige Gewalt. Ihr gegenüber zeigen sich auch die Chiefs machtlos. Alle nicken, als einer sagt: „Wieso sollte ich die Probleme einer Regierung lösen, die keinen Frieden halten kann?“ Besonders in den vergangenen zwei Jahren ist es im Südsudan verstärkt zu Ausbrüchen von Gewalt gekommen, die wenig mit dem spannungsreichen Verhältnis zum Norden zu tun haben. Stattdessen bekämpfen sich, wie auch schon während des Krieges, südsudanesische Gruppen untereinander. Schwer bewaffnete Banditen überfallen Dörfer, plündern und morden. Denn es gibt kaum jemanden, der sie daran hindert.
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Mit dem Friedensabkommen, das die südsudanesischen Rebellen und die Regierung in Khartum im Januar 2005 unterzeichnet haben, wurden die ehemaligen Rebellen der Sudan People‘s Liberation Army (SPLA) zur Regierung der halbautonomen Region Südsudan erklärt. In sechseinhalb Jahren – so lange gilt das Abkommen – sollten Programme zur Entwaffnung und Demobilisierung ehemaliger Kämpfer den Frieden stabilisieren. Erstmals seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1956 sollten auch im Süden funktionierende staatliche Strukturen geschaffen werden. Kurz vor dem Ende dieser Übergangsphase sollen die Südsudanesen über ihre Unabhängigkeit entscheiden: Im kommenden Januar ist es soweit.
Die Bilanz des Friedensprozesses ist jedoch ernüchternd: Staatsaufbau und Friedenssicherung sind zwei separate und komplexe Prozesse. Jetzt wird deutlich, wie schwierig es ist, sie parallel zu betreiben. Denn es treffen unterschiedliche Interessen aufeinander. Die halbautonome Regierung des Südsudan bereitete sich vor allem auf die mögliche Unabhängigkeit vor. Ein kompletter Verwaltungsapparat musste dort neu geschaffen werden. Der Aufbau staatlicher Strukturen passte gut zur derzeit dominanten entwicklungspolitischen Ideologie von Geberländern wie den USA. Erst mit der Zeit wurde deutlich, dass genau diese Modernisierung einige Probleme im Land verschärft: Der Staatsaufbau in einem Konfliktland macht es fast unmöglich, gleichzeitig Frieden zu schaffen.
Denn dieser Aufbau braucht Zeit. Bis der Südsudan eine funktionierende Polizei, Justiz und eine zuverlässig kommandierte Armee besitzt, werden noch Jahre vergehen, egal ob das Land unabhängig wird oder Teil des Sudan bleibt. Friedenssicherung braucht dagegen sofort starke Strukturen. Um Frieden attraktiv zu machen und Vertrauen zu wecken, muss die gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Lage der Menschen verbessert werden, etwa mit Hilfe von Schulen, Krankenhäusern und Straßen. Davon ist im Südsudan nur wenig zu sehen. Denn die neuen staatlichen Strukturen sind zu schwach, um hier für das Nötigste zu sorgen. Die Lebensqualität der meisten Südsudanesen ist in den vergangenen Jahren kaum gestiegen.
Vor allem aber muss ein Staat zuverlässig in der Lage sein, Ausbrüche von Gewalt zu verhindern. Im Südsudan gelingt das nicht. Wenn ein Dorf angegriffen wird, kommt keine Polizei zu Hilfe. Oft sind es Soldaten der eigenen Armee, die die Zivilbevölkerung berauben und die Frauen vergewaltigen. Die Chiefs in Wau halten deshalb ihren neuen Staat für mitschuldig daran, dass das tägliche Leben an vielen Orten unsicher bleibt. „Wenn die Regierung diese Gewalt mit all den neuen Ministerien nicht stoppen kann, dann wird niemals etwas Gutes in diesem Land passieren“, sagt einer von ihnen.
Unter den Chiefs herrscht Pessimismus. Auch weil nach wie vor unklar ist, wie sich die neuen Strukturen der Ministerien mit ihrer eigenen Rolle vereinbaren lassen. In den vergangenen fünfzig Jahren hatte der Südsudan kaum offizielle Regierungsapparate, die Chiefs fungierten als lokale Richter und Gesetzgeber. Dabei waren die regionalen Unterschiede stets groß: Manche Chiefs sind starke und gewählte Vertreter ihres Volkes, andere haben kaum Einfluss oder ihren Titel geerbt. Ob sie „traditionell“ sind, ist eine Frage der Definition: Die meisten „chiefdoms“ sind eine Erfindung der britischen Kolonialverwaltung und hatten mit sudanesischen Traditionen wenig zu tun. Die Kolonialherren folgten mit den Chiefdoms ihrer eigenen Vorstellung von einer afrikanischen Gesellschaft, die sie im Sudan so nicht vorfanden, die aber besser zu verwalten war. Diese von den Briten geschaffenen Strukturen blieben über zwei Kriege hinweg erstaunlich stabil. Und weil der Staat noch nicht funktioniert, findet nun gleichzeitig eine Modernisierung und eine Rückbesinnung auf die alten Strukturen statt: Ein noch nicht funktionierendes System trifft auf ein nicht mehr funktionierendes. So sind zwei parallele Prozesse entstanden, die in gefährlicher Konkurrenz zueinander stehen. Einerseits verlangt der im Friedensabkommen vorgesehene Staatsaufbau, dass neue staatliche Strukturen geschaffen werden. So sehen es im Allgemeinen auch die Geberländer, die viel Geld in die Verwaltungsinfrastruktur investieren. Gleichzeitig verlassen sich die Regierenden und die Entwicklungshelfer aber auf bestehende Regierungssysteme der vornehmlich männlichen Chiefs, die wenig mit einer modernen Vision für den Südsudan zu tun haben. Und sie bürden ihnen die Verantwortung für Probleme auf, mit denen selbst die neue staatliche Polizei überfordert ist.
Hinzu kommt, dass die Chiefs die neuen Probleme nicht wie früher lösen können, als sie Gewalt durch Zusammenarbeit mit Milizen in Schach hielten. Solche Methoden sind heute gegen das Gesetz. „In der Vergangenheit hatte der Chief Macht. Er hatte eine bewaffnete Truppe, die er aussenden konnte, wenn es Probleme gab. Aber jetzt hat er keine Waffen mehr und soll gegen die kämpfen, die mit Waffen kommen“, fasst einer von ihnen in Wau den Widerspruch zusammen. Auch im Kampf um lokale Autorität konkurrieren die Chiefs mit dem noch jungen Staat. Ein Mitarbeiter einer sudanesischen Friedensorganisation aus Nord Bahr el-Ghazal schildert das Dilemma: Vor dem Krieg hätten die Chiefs die Aufgabe als Richter wahrgenommen. Wenn sie eine Geldstrafe verhängten, durften sie einen Teil davon behalten, berichtet er. Ihre Familien seien von diesem Einkommen abhängig gewesen. Nun entscheide die neue Regierung, ob ein Chief noch Richter sein darf. „Zurzeit verlieren die Chiefs sowohl Ansehen als auch Geld.“ Noch funktioniert aber das neue Justizsystem nicht. Und welche Rolle das alte im neuen Staat spielen soll, weiß niemand.
So ist ein Verantwortungsvakuum entstanden. Dies ist besonders problematisch in einem Land, in dem viele junge Männer ihre schweren Waffen aus Kriegszeiten für Viehdiebstahl und Rachefeldzüge nutzen. Die Polizei ist an vielen Orten machtlos. Wenn es zu Angriffen und Gewalt kommt, ist unklar, wer sich um die Strafverfolgung und die Lösung der Konflikte kümmert. Regierungsbeamte geben diese Verantwortung gerne an die Chiefs weiter. Aber die verweisen auf die Zuständigkeit der Regierung. „Die Chiefs sind verantwortlich und sie sind die Führer der Bürger“, stellt einer der Jüngeren in Wau zwar klar. „Aber sie haben genauso viel Angst wie andere, sich nachts frei zu bewegen.“ Das Hin und Her ohne Aussicht auf Strafverfolgung macht es für Banditen umso verlockender, sich an fremdem Eigentum zu bereichern.
Ungeklärte Verhältnisse sorgen dafür, dass sich Einzelne und Gruppen Macht und Ressourcen mit allen Mitteln sichern wollen. Dass das neue Justizsystem noch nicht in der Lage ist, politische Manipulation oder Korruption zu bekämpfen, stört nicht jeden, der sich im neuen Staat positionieren will. Denn persönliche politische Interessen werden manchmal eben auch mit Gewalt durchgesetzt. So wird aber kein demokratischer Staat aufgebaut. Die Chiefs in Wau sagen deutlich, dass sie keine Mittel haben, die Korruption und Manipulation in der Regierung anzuprangern: „Wir sind jetzt ein sehr einfacher Baustein innerhalb dieser neuen Regierung. Denn wenn wir öffentlich über diese Probleme sprechen, können wir verhaftet werden. Und dann werden wir von der Regierung gefragt: Wer hat Dir erlaubt, so zu reden?“
Problematisch ist auch, dass im Südsudan lokale Konflikte oft mit Tribalismus erklärt werden. „Stammeszugehörigkeit“ ist hier ein schillernder und unscharfer Begriff. Jeder Stamm ist in viele Untergruppen unterteilt. Gerade gewaltsamer Viehdiebstahl passiert oft innerhalb eines Stammes. Wer seine politische Macht konsolidieren will, nutzt dennoch gerne die „Stammeszugehörigkeit“, um lokal Anhänger zu sammeln. Manche Chiefs versuchen, ihre Anhänger dadurch zu einen, dass sie an die Stammesidentität appellieren und sich gegen andere Stämme stellen. Das lockt viele Friedensinitiativen auf einen Holzweg: Sie nähern sich lokalen Konflikten mit dem Verständnis, dass der Streit zwischen Stämmen die Hauptursache sei. Solche Ansätze und die Zusammenarbeit mit Chiefs lassen wichtige Strukturprobleme wie zum Beispiel ungeklärte Landrechte außen vor und können dazu beitragen, Spannungen zwischen Gruppen noch zu verschärfen. Nun soll die Volksabstimmung alle Fragen klären. Die Hoffungen sind groß, dass nach einer Entscheidung über Abspaltung oder Einheit die Zukunft des Südsudan deutlicher und der derzeit eher halbherzig betriebene Staatsaufbau klarer vorangehen wird. Als Lehre aus den vergangenen Jahren ist aber zu ziehen, dass die Kontrolle von Gewalt und der Aufbau demokratischer Strukturen nicht parallel funktionieren können. So sehen es auch die Chiefs in Wau. Die zunehmende lokale Gewalt ist für sie ein Zeichen dafür, dass der neue Staat noch keine Macht ausüben kann und die alten Methoden zu früh aufgegeben wurden.
Sie selbst, sagen sie, seien ein doppeltes Opfer dieses Experimentes geworden. Ihre Familien und Gemeinschaften litten unter der zunehmenden Gewalt. Außerdem sei noch immer unklar, welche Rolle sie im neuen Südsudan spielen sollen – obwohl ein neues Gesetz betont, wie wichtig die Zusammenarbeit von Staat und traditionellen Führern ist. Doch wenn gerade für so schwierige Aufgaben wie die Entwaffnung von Zivilisten und die Lösung von Konflikten sowohl die Regierung als auch Hilfsorganisationen auf die Chiefs zurückgreifen, wird deutlich, wie schwierig die Situation ist. Diejenigen, die heute in Wau versammelt sind, tragen diese Verantwortung mit gemischten Gefühlen. „Wieso sollte ich die Macht haben, mit Autorität zu sprechen?“ fragt einer der ältesten Männer im Raum. „Wenn ein Mann mit einer Waffe kommt, dann bin ich schwach. Muss nicht jemand anders solche Probleme lösen?“ Doch wer das sein könnte – diese Frage stellen sich Entwicklungshelfer, Geberländer und die Regierung des Südsudan immer verzweifelter.
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