Der Geruch im Dorf Melchor Ocampo ist bestialisch. Hier endet der zentrale Abwasserkanal von Mexiko-Stadt. Aus einem Loch im Hügel schießen 18.000 Liter braune Dreckbrühe pro Sekunde: fast alles, was die rund 20 Millionen Einwohner der Hauptstadtregion den Abfluss hinunterlassen. Ariel Flores, Ingenieur der nationalen Wasserbehörde Conagua, verzieht keine Miene: „Gerade kommt nicht so viel Abwasser an. Morgens, wenn alle auf die Toilette gehen, haben wir hier mehr als das Doppelte.“
Dann wendet sich Flores dem zu, was er voller Stolz den ausländischen Besuchern zeigen will: der neuen Kläranlage, die unterhalb des Kloakenlochs entsteht. 3000 Menschen arbeiten hier. Es wird eine der größten Kläranlagen der Welt, und Flores ist der Chef. 2014 soll sie fertig werden und dann bis zu 42 Kubikmeter pro Sekunde reinigen können. 60 Prozent der Abwässer von Mexiko-Stadt werden dann künftig geklärt. Bisher sind es um die zwölf Prozent. Rund zehn Milliarden Peso (600 Millionen Euro) wird die Anlage kosten.
Autor
Matthias Knecht
arbeitet als Auslandskorrespondent in Lateinamerika für die Nachrichtenagentur epd, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“.Wasser in Mexiko-Stadt, das ist eine Liste von Superlativen. Die Wasser – und Abwassermengen sind gewaltig, die Geldsummen, die die Regierung investiert, ebenfalls. Und doch schlittert die Metropole immer nur knapp an einer Katastrophe vorbei. In 500 Jahren kam es zu 25 großen Überschwemmungen, denn die Stadt liegt in einem Hochtal ohne natürlichen Abfluss. Im Durchschnitt alle sechs Jahre wird das Trinkwasser knapp. Zuletzt stellte die Stadtregierung 2009 tagelang in einzelnen Vierteln das Wasser ab. Das kann sich jederzeit wiederholen. In diesen Wochen wartet Mexiko-Stadt sehnsüchtig auf den Beginn der Regenzeit im Mai. Um der gleichzeitig wachsenden Regen- und Abwassermengen Herr zu werden, arbeitet die Stadt an einem weiteren Superlativ. Seit 2009 baut die Regierung einen gigantischen neuen Abwassertunnel. Wenn er wie geplant 2016 fertig ist, wird er mit sieben Metern Durchmesser und 62 Kilometern Länge der weltweit größte seiner Art sein. Er bringt dann noch mehr Wasser in den Ausfluss in Melchor Ocampo. TEO heißt das Prestigeprojekt der mexikanischen Regierung, gemäß der spanischen Abkürzung für „Östlicher Abwassertunnel“ (Tunel Emisor Oriente). Kostenpunkt: 19,5 Milliarden Peso (1,2 Milliarden Euro).
Weltrekordverdächtig ist schließlich auch der Trinkwasserverbrauch. Während etwa Berlin 6000 Liter Wasser pro Sekunde benötigt und der Ballungsraum Zürich 1700 Liter, sind es in der mexikanischen Hauptstadt 62.000 Liter. Das macht zwei Milliarden Kubikmeter pro Jahr, die Hälfte des Zürichsees. 24.000 Kilometer Wasserleitungen durchziehen das Hochtal von Mexiko, in dem die Hauptstadt und die mit ihr verschmolzenen 60 Vorortgemeinden liegen, ein unendliches Häusermeer mit mehr als 20 Millionen Einwohnern.
Das meiste Wasser bezieht Mexiko-Stadt aus dem Boden. Mehr als 200 Pumpen arbeiten derzeit im gesamten Stadtgebiet, und doch reicht es nicht. 1952 erschloss die Hauptstadt mit dem Stauseesystem Lerma eine weitere Quelle. Es transportiert zusätzliches Trinkwasser über eine 62 Kilometer lange Leitung in die Hauptstadt. Als auch das nicht mehr reichte, baute Mexiko ein weiteres System von Stauseen, das 1992 fertiggestellt wurde. Aus 127 Kilometern Entfernung und mehr als 1102 Metern Höhendifferenz wird aus dem „Sistema Cutzamala“ seither zusätzlich Wasser herangepumpt, auch das ein Weltrekord. Und doch wird das Trinkwasser immer wieder knapp. Deutliches Indiz sind die schwarzen Wassertanks, die auf jedem Hausdach der Metropole stehen. Hier wird das ankommende Leitungswasser erst einmal gesammelt. Dank der Tanks fließt das Wasser auch dann noch aus dem Hahn, wenn die Versorgung wieder einmal für Stunden oder Tage unterbrochen ist.
Die heutigen Wasserprobleme begannen bereits mit den Azteken. Sie errichteten vor fast 700 Jahren ihre Hauptstadt Tenochtitlán, das heutige Zentrum von Mexiko-Stadt, nach rein militärischen Kriterien. Umgeben war Tenochtitlán von einer gewaltigen Seenplatte, die etwa 2000 Quadratkilometer maß. Deren Reste können Mexiko-Reisende heute vom Flugzeug aus sehen: ein paar Tümpel nördlich des Flughafens. Die erste überlieferte Hochwasserkatastrophe datiert aus dem Jahr 1446, als Tenochtitlán bis zu den Baumwipfeln unter Wasser stand. Der See war übergelaufen. Der Aztekenherrscher Moctezuma ließ daraufhin einen 16 Kilometer langen Schutzdamm bauen. Die Arbeiten dauerten 60 Jahre. Es war das erste von immer gigantischeren Vorhaben der folgenden Jahrhunderte, die dem Hochwasser Einhalt gebieten sollten. Heute gibt es zwar keinen See mehr, doch jeder Liter Wasser, der in das Hochtal von Mexiko fließt, muss mit Kanälen und Tunneln wieder herausgeschafft werden.
Auch die Trinkwasserbeschaffung war schon unter den Azteken aufwendig, ihre Stämme führten Kriege darum. Versorgt wurde Tenochtitlán unter anderem durch ein Aquädukt, das wiederum über den damaligen See führte. Es speiste sich aus den Quellen des Hügels von Chapultepec, dem heutigen Sitz des Regierungsschlosses. Zu sehen ist dieser Vorgänger aller Trinkwasserkanäle auf einem öffentlich zugänglichen Wandgemälde des mexikanischen Malers Diego Rivera im Nationalpalast. Das Äquadukt der Azteken war ihre Meisterleistung und ihr entscheidender Schwachpunkt zugleich. Als der spanische Eroberer Hernán Cortés 1520 die Belagerung begann, kappte er schlicht die Wasserversorgung und hatte leichtes Spiel.
Die Spanier rissen zahlreiche Dämme der Azteken ein oder schütteten Kanäle zu, um den Handel per Schiff und das Wachstum der Stadt zu erleichtern. Das wiederum ließ die mit jeder Regenzeit einsetzenden Hochwasser immer schlimmer werden. Schon im 16. Jahrhundert schlug der spanische Statthalter vor, die komplette Hauptstadt zu verlegen. Das erwies sich angesichts der Einwohnerzahl als undurchführbar: 40.000 Menschen lebten damals in Mexiko-Stadt.
Seit der Eroberung bis 1607 erlitt Mexiko-Stadt vier Hochwasserkatastrophen, mit jeweils Tausenden von Todesopfern. Der Statthalter beschloss da-raufhin genau die Lösung, die heute im großtechnischen Ausmaß realisiert wird: einen künstlichen Abfluss für das Hochtal von Mexiko. Fast 200 Jahre benötigten die Spanier, bis sie 1789 das Tunnel- und Kanalsystem von Nochistongo fertiggestellt hatten. Das Problem war dasselbe, das auch die heutigen Tunnelbauer vor Herausforderungen stellt: ein sehr weicher Untergrund.
Das historische Zentrum liegt heute neun Meter tiefer als vor hundert Jahren
Die Kapazität des Bauwerks von Nochistongo war von Anfang an ungenügend. Bereits 1792 war die Stadt erneut wochenlang überschwemmt. Da hatte Mexiko-Stadt rund 140.000 Einwohner. 1866 beschloss Mexiko-Stadt einen weiteren Abfluss, den 1900 fertiggestellten „Großen Abwasserkanal“. Und wieder reichte die Kapazität nicht. Da lebten bereits fast eine halbe Million Menschen in der Metropole. Es folgten noch mehr Überschwemmungen, die größte im Jahr 1952, als man sich im Stadtzentrum nur noch per Boot fortbewegen konnte. Die Metropole hatte damals 3,3 Millionen Einwohner und die eigentliche Bevölkerungsexplosion stand erst noch bevor. Ein weiterer Kanal aus dem Jahr 1975 schaffte das Abwasser schließlich dorthin, wo es heute in Melchor Ocampo aus dem Berg schießt, rund 80 km nördlich der Hauptstadt.
Die im 20. Jahrhundert möglichen Messungen zeigten erstmals den Grund für die ständigen Überschwemmungen: Ganz Mexiko-Stadt sinkt permanent ab. Sämtliche Abwasserkanäle verlieren darum Jahr für Jahr an Gefälle und damit an Kapazität; einige fließen sogar in die Gegenrichtung. Nur dank Pumpwerken kommt das Abwasser überhaupt noch aus der Stadt. Der Grund für das Absinken ist wiederum die aufwändige Trinkwasserversorgung. Das Abpumpen des Grundwassers lässt den weichen Boden sinken. Das historische Zentrum liegt heute neun Meter tiefer als im Jahr 1900. Die Folgen sind unübersehbar. Die großen Avenidas der Stadt verlaufen grundsätzlich wellenförmig, was im ohnehin chronisch chaotischen Verkehr für zusätzliches Magenkitzeln sorgt.
Wellenförmig verlaufen auch die einst schnurgeraden neoklassizistischen Fassaden des Nationalpalastes und anderer Gebäude. Die Eingänge mancher Kirchen und anderer schwerer Gebäude liegt bis zu einem Meter unterhalb des Bürgersteigs. Relativ leichte Bauwerke scheinen hingegen im Laufe der Jahrzehnte zu wachsen, weil sie langsamer sinken als der Rest der Stadt. Das gilt etwa für den berühmten Engel der Unabhängigkeit. Das der Berliner Siegessäule ähnliche Monument auf der Geschäftsstraße Reforma war um 1900 noch ebenerdig zugänglich. Heute führen Treppen zum Fuß des Monuments hoch.
Mehrere Dutzend Wissenschaftler der Autonomen Nationalen Universität Mexikos (UNAM) zerbrechen sich hauptberuflich den Kopf darüber, das Wasserproblem der Hauptstadt in den Griff zu bekommen. Die Denkfabrik mit dem unauffälligen Namen „Wassernetz der UNAM“ belegt ein unscheinbares Gebäude auf dem riesigen Universitätsgelände der Hauptstadt. Eine der Forscherinnen ist Adriana Palma. Sie entwickelt ein Vorhersagemodell. „Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird Mexiko-Stadt in den nächsten 40 Jahren weitere sechs Meter sinken“, warnt sie. Probleme schafft das nicht nur für die Touristen, die dann viele weitere Stufen zur Unabhängigkeitssäule emporsteigen müssen. Palma befürchtet Schäden an der Infrastruktur in Milliardenhöhe.
Schlimmer noch: Je mehr Wasser die Stadt aus dem Boden pumpt, umso tiefer sinkt der Grundwasserspiegel, jedes Jahr ein Meter. Um 1930 versiegte der letzte Oberflächenbrunnen, seither geht es immer weiter runter. Aus bis zu 300 Metern Tiefe kommt jetzt das Trinkwasser. Palma spricht von einem „Teufelskreis der Wasserversorgung“, den es zu durchbrechen gelte. Neuerdings versucht die Stadtverwaltung, das Wasser aus bis zu 2000 Metern Tiefe zu pumpen. Aber auch das ist keine wirkliche Lösung. Denn das Tiefenwasser muss mit aufwendigen Verfahren aufbereitet werden, und seine Förderung verbraucht viel Energie. Völlig unklar ist, wie und ob das Tiefenwasser mit dem höher gelegenen Grundwasser verbunden ist. Im schlimmsten Fall beschleunigt die Stadt nur ihr Absinken.
Im Durchschnitt alle sechs Jahre wird das Trinkwasser knapp
Gibt es eine dauerhafte Lösung? Wenn es jemand weiß, dann Fernando González. Er ist Direktor der Denkfabrik und hat der Stadtregierung mit seinen Vorschlägen immer wieder aus der Klemme geholfen. Auf ihn geht die letzte Erweiterung der Trinkwasserversorgung zurück, das Stauseesystem von Cutzamala. „Mexiko-Stadt hat ungefähr alle 25 Jahre eine schwere Wasserkrise“, resümiert der Forscher – und beeilt sich hinzuzufügen: „Das ist nicht die Schuld von uns Ingenieuren. Mexiko-Stadt liegt schlicht an einem ungeeigneten Ort.“ González weist auf die Fülle von Maßnahmen hin, die die Stadtregierung in den vergangenen Jahren realisiert hat. Sie startete Kampagnen zum Wassersparen und verhängte etwa für das Autowaschen auf der Straße drakonische Bußgelder. Seither ist der Pro-Kopf-Verbrauch um etwa zehn Prozent gesunken.
Doch es gibt noch sehr viel mehr Sparpotenzial. Die beiden wichtigsten Posten: Erstens wird im ländlichen Gürtel um die Hauptstadt immer noch künstlich bewässert. Rund 20 Prozent des teuer beschafften Trinkwassers gehen damit in die kaum rentable Agrarwirtschaft. Und zweitens gehen in den überalterten Trinkwasserleitungen 20 bis 40 Prozent verloren. Um deren Reparatur zu finanzieren, müsste die Stadt jedoch den Wasserpreis von derzeit rund 30 Eurocent je Kubikmeter deutlich erhöhen.
Ein höherer Wasserpreis würde laut González ernsthafte Anreize liefern, mehr zu sparen. Doch der Preis wird in Mexiko politisch tief gehalten, genauso wie die Preise für Energie. Ökonomen weisen schon lange darauf hin, dass das die ineffizienteste Art ist, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Denn von solchen subventionierten Gütern profitieren die oberen Einkommensschichten am meisten. Während die Villenbesitzer in Polanco ihre Gärten für ein Taschengeld bewässern, kommt in höher gelegenen Armenvierteln wie Iztapalapa oft gar nichts mehr an. González kritisiert darum den fehlenden politischen Willen, zumindest kostendeckende Wasserpreise durchzusetzen.
Mexiko-Stadt müsste die Investitionen in das Wassersystem mindestens verdoppeln, um nicht gleich wieder in die nächste Krise zu schlittern, zeigt sich González überzeugt. „Mit den wenigen Mitteln, die wir haben, ist es ein Wunder, dass die Stadt überhaupt noch funktioniert“, sagt der Ingenieur. Doch selbst wenn es der Politik gelingt, solche Effizienzprobleme zu lösen, bleibt das Grundproblem bestehen. Und das ist laut González das unverminderte Bevölkerungswachstum, derzeit wächst die Metropole jährlich um 300.000 Einwohner. Eine dauerhafte Lösung für Mexiko-Stadt sieht er darum nicht: „Immer, wenn ein neues großes Werk eingeweiht wird, sagt die Regierung, dass alles gelöst ist – bis zur nächsten Krise.“ In Wirklichkeit improvisiere sie aber nur: „Wir lösen ein Problem und schaffen zugleich drei neue.“
Neuen Kommentar hinzufügen