Als in Kairo der Tahrir-Platz noch voller Menschen, Hosni Mubarak noch im Amt und in Ägypten alles offen war, ging es in einer deutschen Talkshow um die Frage, ob am Nil eine islamische Theokratie drohe. Aktham Suliman vom Sender Al-Dschasira vertrat die Ansicht, das gehe den Westen eigentlich gar nichts an. Es habe im ägyptischen Fernsehen ja auch keine Diskussionen gegeben, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde.
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Die Reaktion ist verständlich angesichts der dreißigjährigen Komplizenschaft westlicher Länder mit dem ägyptischen Diktator. Aber der Vergleich hinkt: In Berlin sind Regierungswechsel Routine, in Kairo nicht. Parallelen gibt es eher zur Revolution in Ostdeutschland 1989. Damals haben die Nachbarn Deutschlands sowie die USA und die Sowjetunion sich durchaus eingemischt in den Lauf der Dinge, weil ihre politischen Interessen berührt waren.
So stark wie die Staaten heute wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich miteinander verflochten sind, haben viele Entscheidungen von Regierungen und zuweilen sogar ihr Charakter Folgen weit über das Land hinaus. Einmischung ist deshalb legitim. Es fragt sich nur, mit welchen Zielen und welchen Mitteln. Seit den „Freitagen der Siege“ in Tunis und in Kairo ist klar, dass Washington, Paris, London und Berlin in ihrer Politik gegenüber der arabischen Welt die Völker dort nicht mehr ignorieren können, so wie sie es bisher getan haben.
Nachdem die Jasmin-Revolutionäre in Tunesien Präsident Ben Ali verjagt hatten, erklärte sein französischer Amtskollege Nicolas Sarkozy, man habe die Lage falsch eingeschätzt. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit: Es war ja kein Geheimnis, dass Ben Ali und Mubarak ihre Völker in Unfreiheit gehalten und ihre Gegner brutal unterdrückt haben. Und dass sie den Menschen keine wirtschaftliche Perspektive geboten haben. Wer wissen wollte, welcher Druck sich da aufbaut, konnte es wissen. Zum Beispiel aus den UN-Entwicklungsberichten zur arabischen Welt aus den Jahren 2002 bis 2009. Darin haben Autoren aus der Region in fünf dicken Bänden ausführlich Mängel und Rückschritte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Heimatländern analysiert – und die Unzufriedenheit der Bürger dokumentiert.
Die bisherige Politik der USA habe die arabische Welt weder stabiler noch demokratischer gemacht, erklärte US-Außenministerin Condoleezza Rice vor sechs Jahren. Hatte Präsident George W. Bush vielleicht doch Recht mit seiner neokonservativen Agenda für die Länder des Nahen und Mittleren Ostens? Nein. Zum einen hat das Beispiel Irak gezeigt, wie irrsinnig die Idee ist, ein Volk von außen in die Demokratie bomben zu wollen. Zum anderen ging es Bush nie wirklich um die Befreiung der arabischen Bürger. Das zeigt der Konflikt um den UN-Entwicklungsbericht des Jahres 2005, der sich mit der Notwendigkeit politischer Reformen in der Region befasste. Washington wollte die Veröffentlichung verhindern, weil die Autoren nicht nur die Regierungen ihrer Länder, sondern auch den Irakkrieg und die israelische Besatzungspolitik kritisierten. Der Vorgang steht für die Heuchelei der USA und des Westens insgesamt: Demokratie und Selbstbestimmung ja – aber nur, so lange es uns nicht weh tut.
Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Los der Menschen von Algerien bis Jemen zeichnet aber nicht nur die westliche Politik aus, sondern die westlichen Gesellschaften insgesamt. „Der Westen“ – das sind ja nicht nur die Regierungen in den Hauptstädten. Von der auf Kosten der Ägypter erkauften Stabilität, etwa einem sicheren Suezkanal oder günstigen Ölpreisen, haben wir alle profitiert. Und Sympathiebekundungen für die arabischen Demokratiebewegungen hatten bis Anfang dieses Jahres Seltenheitswert.
Es ist deshalb nicht weniger heuchlerisch, dass etwa die Linke im Bundestag seit Ausbruch der Unruhen fast täglich triumphierend das Scheitern westlicher Politik verkündet – so als habe sie es schon immer gewusst und gesagt. Sie hat aber zu den gefälschten Parlamentswahlen in Ägypten Ende 2010 noch ebenso geschwiegen wie die meisten anderen Politiker und gesellschaftlichen Stimmen hierzulande.
Eine islamische Theokratie droht am Nil nicht. Die Ägypter wollen sie nicht – zum Glück für uns. Der Westen aber muss aus vergangenen Fehlern lernen. Er sollte die Bürger und Bürgerinnen der arabischen Länder darin unterstützen, die politischen Systeme zu schaffen, die sie wünschen. Zuweilen wird das den Umgang mit ihnen unbequemer machen. Aber langfristig wird es unseren Interessen besser dienen als die bisherige Politik.
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