Äthiopien wird den Hunger nicht los

Peter Gill
Famine and Foreigners. Ethiopia Since Live Aid
Oxford University Press,
New York 2010, 280 Seiten,
14,95 Euro


Die Millionen Kleinbauern Äthiopiens sind die Helden dieses Buches. Der britische Journalist Peter Gill beschreibt, wie sie sich in den vergangenen gut 25 Jahren durchgeschlagen haben - seit der großen Hungersnot 1984/85 im Norden des Landes, die einer Million Frauen, Männern und Kindern den Tod brachte und fast drei Millionen in die Flucht trieb. Gill, der damals über die Katastrophe berichtet hat, kennt Äthiopien seit Jahrzehnten. In seinem Buch lässt er viele Bauern zu Wort kommen und schildert ihre Lebensumstände. Es entstehen eine Reihe schöner, kleiner Portraits von Menschen, die chronisch am Existenzminimum leben und dem kargen Boden im äthiopischen Hochland das zum Überleben Notwendige abtrotzen.

Darüber hinaus lotet Gill die gegenwärtige Lage und die Entwicklungsaussichten Äthiopiens aus. Dazu hat er mehrmals mit Regierungschef Meles Zenawi, mit wichtigen Oppositionellen, Vertretern von Hilfsorganisationen und anderen Landeskennern gesprochen. Sein Fazit: Die Regierung hat ernsthaft die Absicht, das Land aus der Armut zu führen. Es ist aber fraglich, ob der von ihr eingeschlagene Weg zum Ziel führt. Und auch die Entwicklungshilfe hat Äthiopien nicht vorangebracht - eher umgekehrt: Die Hungersnot von 1984/85 identifi ziert Gill als Geburtsstunde der Hilfsindustrie, wie wir sie heute kennen.

Gill schildert, wie die äthiopischen Bauern im Bürgerkrieg in den 1980er Jahren als Manövriermasse für politische Experimente und Machtspiele missbraucht wurden. Das kommunistische Mengistu-Regime siedelte hunderttausende Menschen aus den Hungergebieten in andere Regionen um. Im Kampf gegen die Aufständischen ließ es gezielt Märkte und Dörfer bombardieren, um die Versorgung mit Lebensmitteln abzuschneiden: Hunger als Waffe. Meles Zenawi wiederum, damals noch Rebellenführer, führte mehr als 200.000 Menschen zunächst aus dem Kriegsgebiet über die Grenze nach Sudan, holte die Männer aber bald darauf wieder zurück: Er wusste, dass ohne ihren Rückhalt und die von ihnen produzierten Lebensmittel der Krieg nicht zu gewinnen wäre.

Seit 1991 ist Meles an der Macht, und Gill bescheinigt ihm, er habe in diesen zwanzig Jahren „mäßigen, aber echten Fortschritt" für Äthiopien gebracht. Gill ist hin- und hergerissen von dem Regierungschef: Er nennt ihn einen „brillanten Taktiker und weitsichtigen Führer", kommt aber auch zu dem Schluss, dass die Kosten seiner Entwicklungsstrategie am Ende von „armen und hungrigen Äthiopiern getragen" würden. Denn den Hunger hat die Regierung nicht besiegt. Zwar hat es seit dem Sturz der Mengistu-Diktatur keine katastrophale Hungersnot mehr gegeben, aber regional gibt es immer wieder gravierende Engpässe. Äthiopien ist wie eh und je abhängig von Hilfslieferungen internationaler Organisationen. Letztere überzieht Gill mit subtiler, aber beißender Kritik: Oxfam und Save the Children hätten ihre Einnahmen dank der Krise 1984/85 innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt - und laut der Studie einer Menschenrechtsorganisation auf zu laute Kritik an der Mengistu-Diktatur verzichtet, um diesen Geldsegen nicht zu gefährden. Oxfam habe sich seitdem vom rührigen Hilfswerk zum transnationalen Entwicklungskonzern gewandelt, der heute ein Drittel seines Budgets von Regierungen erhält.

Gill zitiert den Redakteur einer äthiopischen Zeitung, der beklagt, Regierungen und Organisationen des Westens hätten zwar laut gegen das äthiopische Gesetz zur Beschränkung von aus dem Ausland geförderten gesellschaftlichen Organisationen protestiert. Zu dem gleichzeitig verabschiedeten Gesetz gegen die Pressefreiheit aber hätten sie weitgehend geschwiegen. Offenkundig hat dieses - anders als das NGO-Gesetz - die Interessen des Westens und der internationalen Hilfsorganisationen nicht ausreichend berührt. (Tillmann Elliesen)

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