Chile, von unten betrachtet

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Hanser Verlag, Berlin 2024, 240 Seiten, 24 Euro

Alia Trabucco Zerán porträtiert in ihrem Roman "Mein Name ist Estela" die neoliberal geprägte Klassengesellschaft Chiles. Erzählerin der äußerst spannenden Geschichte ist die Hausangestellte Estela.

„Diese Geschichte hat mehrere Anfänge… Nur der Ausgang ist gewiss: Das Mädchen stirbt“, sagt die Titelfigur Estela Garcia gleich zu Beginn ihres langen Monologs. Die junge Frau erzählt, wie sie vor sieben Jahren aus dem Süden Chiles in die Hauptstadt Santiago kam, um Geld zu verdienen. Anstellung fand sie bei dem Ehepaar López. Die beiden quartierten sie in einer Kammer neben der Küche ein, kurz bevor ihre Tochter Julia zur Welt kam, um die Estela sich vor allem kümmern sollte. Inzwischen aber sitzt Estela im Gefängnis und will die ganze Geschichte erzählen: „Dann lassen Sie mich hier raus.“

Und so berichtet Estela von ihrem Leben mit der gutbürgerlichen Familie. Sechs Tage die Woche ergibt sie sich, ohne mit irgendjemandem zu reden, in die tägliche Routine: Müll rausbringen, Teppiche absaugen, Spiegel polieren, Kleider ausbürsten, schmutzige Wäsche waschen und die „Kackereste“ der reichen Familie aus der Kloschüssel kratzen. Die „Señora“ und der „Señor“ verhalten sich ihr gegenüber „korrekt“, wie sie betont, aber gefühlskalt und verweisen sie immer wieder auf ihren Platz als Befehlsempfängerin. Estela fühlt sich unsichtbar, ja beinahe inexistent. Als ihre Mutter stirbt, hat sie nicht die Kraft, in ihr südliches Heimatdorf zu fahren. Von den Protesten in Chile 2019 gegen soziale Ungleichheit erfährt sie aus dem Fernseher in ihrer Küche. Erst zum Schluss ihrer Erzählung gerät sie auf dem Weg zum Busbahnhof zufällig in eine Demonstration. Estela selbst erscheint durchweg eher als ohnmächtiges Opfer der Verhältnisse denn als Kämpferin.  

Im Alter von drei Jahren besucht Julia eine Privatschule 

Das Ehepaar López ist berufstätig – er ist Arzt, sie Juristin. Deshalb versorgt Estela die kleine Julia, deren erstes Wort „Nana“ ist, spanisch für Kindermädchen. So wird die Hausangestellte anfangs von den Eltern gerufen. Als die Kleine drei Jahre alt ist, schicken die ehrgeizigen Eltern sie auf eine Privatschule. Julia muss zudem Schwimmen und Klavierspielen lernen und reagiert auf den Leistungsdruck mit Wutanfällen und Selbstverletzungen. Ihr Kindermädchen Estela behandelt Julia bald – ganz wie die Eltern – als Dienstbotin. 

Die Geschichte ist wie ein Kammerspiel aufgebaut, das sich aus 52 kleinen Szenen zusammensetzt und die Spannung hält, bis klar wird, wie Julia umgekommen ist. Sie verrät dabei mehr über die psychische Verfassung der Personen als über die politischen Verhältnisse in Chile. 

Der jungen chilenischen Schriftstellerin Alia Trabucco Zerán, die für ihren Debütroman „Die Differenz“ von 2021 mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, ist mit „Mein Name ist Estela“ ein spannend erzählter, implizit sozialkritischer Roman gelungen. Der spanische Originaltitel lautet „Limpia“, zu Deutsch „Reinigen Sie!“. Das passt zum Motto des Buches, das die Autorin Albert Camus’ Roman „Der Fall“ entnimmt, in dem es um ein „sauberes Leben“ geht: „Die Frage ist nur, wer wen säubert.“ Der Roman gibt wenig Antworten, aber so manche Anregung zum Nachdenken.
 

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