Sophia Boddenbergs Buch beschreibt Aufstieg und Fall des zutiefst unsolidarischen Gesellschaftsmodells in Chile, das Staatspräsident Augusto Pinochet in den 1970er Jahren einführte und das heute kurz davorsteht, von Massenprotesten weggespült zu werden.
Seit Ende der siebziger Jahre sezieren kritische Autorinnen und Autoren das in seiner Radikalität einzigartige neoliberale Projekt des Pinochet-Regimes und einer von dem US-Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman geprägten intellektuellen Elite. Von Anfang an betonten sie die dramatischen Folgen der Privatisierung aller Institutionen der Daseinsvorsorge sowie des Bildungs- und Gesundheitssystems vor allem für die arme Bevölkerung. Der von der Autorin zitierte Weltbank-Ökonom Branko Milanovi´c brachte es im Juni 2020 auf den Punkt: „Die Reichen in Chile verdienen so viel wie die Reichen in Deutschland und die Armen so viel wie die Armen in der Mongolei.“
Künstlerinnen, Indigene, Schüler und Studentinnen demonstrierten
Die Journalistin und Aktivistin Sophia Boddenberg setzt nun zu einem Erklärungsversuch an, warum die chilenische Gesellschaft sich erst heute, also Jahrzehnte nach der Pinochet-Regierung und ihren Nachfolgeregimen, wirksam gegen das Gesellschaftsmodell aus der Zeit des Militärregimes wehrt. Was ihr Buch dabei lesenswert macht, ist die Mischung aus sozialwissenschaftlicher Analyse, historischer Herleitung und dem verdichteten, ganz nahen Miterleben dessen, was seit der „Explosion“ des 18. Oktobers 2019 geschehen ist. Damals lösten Preishöhungen der Metro von Santiago sowie starke Aufschläge auf die Stromrechnungen Proteste aus, die eine landesweite Revolte gegen das neoliberale Modell und das im Kern patriarchalisch-autoritär gebliebene politische System entfachten.
Die Autorin lässt im Hauptteil ihres Buches Protagonistinnen und Protagonisten der Massenproteste seit dem Oktober 2019 zu Wort kommen. Ihre Gesprächspartner sind vor allem junge Menschen, die ihre Geschichten erzählen und auch von ihren Erfahrungen mit einem repressiven, auf ihre Forderung nach Veränderung extrem gewalttätig reagierenden Polizeistaat berichten. Es sind Schülerinnen und Schüler, Studierende, Frauen, Menschen aus den indigenen Völkern Chiles, Umwelt-Engagierte, Künstler, die am Ende weit über eine Million Menschen zur Teilnahme an der größten Demonstration in der chilenischen Geschichte mobilisieren. So erzwingt die Bevölkerung eine Volksabstimmung, die im Oktober 2020 den Weg zu einer neuen Verfassung frei macht, und danach Wahlen zum weltweit ersten Verfassungskonvent, der zu gleichen Teilen von Frauen und Männern besetzt ist und in dem erstmals auch die indigenen Völker Chiles vertreten sind.
Kreative Formen des zivilen Ungehorsams
Boddenbergs Buch ist mit eindrucksvollen Fotos illustriert. Ihr Blick auf das sich rasant verändernde, bunte und diverse Chile lässt verstehen, dass es bei diesem Aufbruch im Musterland des Neoliberalismus auch um ein Ende der repräsentativen Demokratie mit traditionellen Parteien geht, die allesamt seit 1990 Legitimität verloren haben. Stattdessen haben sich junge Menschen, darunter sehr viele Frauen und fast immer ohne Parteibuch, nun aufgemacht, die Zukunft Chiles zu gestalten. Ihre Welt ist die der sozialen Bewegungen, der Nachbarschafts- und Stadtteilorganisationen – und der Erfahrung, dass es gelingen kann, mit kreativen Formen des zivilen Ungehorsams und des Protestes Mauern ins Wanken zu bringen.
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